Blind sieht anders aus

Kommentar

 

Blind sieht anders aus

In den vergangenen Wochen haben weltweit Dutzende DemonstrantInnen ihre Augen verloren. Die Fenster zu den Seelen wurden durch die Geschosse von Polizei und Militär zerstört. Doch blind gegenüber dem Unrecht in ihren Ländern sind sie dadurch nicht geworden.

25. November 2019, Quito – Die Menschen in Chile sind erwacht – genauso wie jene in Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Haiti oder Hongkong. Und als ob die Machteliten dieser Länder dieses Erwachen fürchten würden, haben Polizei und Militär damit begonnen, ihren MitbürgerInnen in die Köpfe zu schiessen. Die Konsequenzen, ausser etlichen Toten: zersplitterte Kiefer und gebrochene Schädel, verlorene Zähne und kaputte Gehörgänge, vor allem aber Augen, die nicht mehr sehen. Dutzende DemonstrantInnen haben in diesen Wochen ihr Augenlicht durch Tränengas- oder Schrotbomben verloren. Alleine in Chile sind es gemäss offiziellen Angaben weit über zweihundert. Noch nie in der oftamologischen Geschichte des Landes hätten derart viele Personen in derart kurzer Zeit ein Auge verloren, sagte der Vizepräsident der medizinische Hochschule für AugenärztInnen. 

Aus Solidarität traten die Demonstrierenden in Santiago de Chile kürzlich mit einem abgedeckten Auge auf die Strasse und behandelnde ÄrztInnen und PflegerInnen liessen sich vor ihrem Spital mit Augenklappen fotografieren. Ausserdem haben KünstlerInnen aus Protest gegen die Staatsgewalt eine Kampagne lanciert, bei der sie Präsident Sebastian Piñera und seinen Kabinettsmitgliedern kurzerhand ein Auge weg retuschierten.

 

Das Geschehen ausserhalb der Wohlstandsstuben

Es hat Symbol-Charakter, dass die Geschosse von Polizei und Militär sowohl in Hong Kong als auch in Chile oder Ecuador jenes Organ des menschlichen Körpers unfähig gemacht haben, das in direkter Verbindung zu unserem Innersten steht. Es heisst nicht umsonst, dass die Augen die Fenster zu unserer Seele sind. Durch sie nehmen wir das Aussen wahr, und durch sie werden wir selbst wahrgenommen. In der traditionellen Chinesischen Medizin geht der Herz-Meridian unter anderem durchs Auge. Und wenn wir unser Gegenüber fragen, was ihr oder ihm auf dem Herzen liegt, dann geschieht dies meist auf Grund des Ausdrucks der Augen. Sie sind es, die unseren Gemütszustand widerspiegeln. 

Dieser Gemütszustand hat sich in den vergangenen Monaten und Jahren verschlechtert, und zwar hüben wie drüben: chronische Ausbeutung von Mensch und Natur in Lateinamerika, beschnittene Rechte in Asien, und im Mittleren Osten -etwa im Irak, wo seit Oktober BürgerInnen gegen ihre Regierung auf die Strasse gehen – ist der Ausnahmezustand Alltag geworden. Die Wellen der Ungewissheit, Sorgen und Ängste, genauso wie jene der Trauer, Wut und Impotenz sind inzwischen bis in die westlichen Wohlstandsstuben geschwappt und lassen die dortige Mittelschicht vor dem Fernseher zusammenzucken.

Man stelle sich das Leben ausserhalb dieser Stuben vor …

Hätten jene, die in den oben genannten Orten an den Hebeln der Macht sitzen, ihre Augen geöffnet, hätten sie erkennen können, dass seit längerem etwas im Argen liegt. Aber Empathie gehört nicht zu den Stärken der vermeintlich Stärkeren. Für die MachthaberInnen – und damit sind nicht nur die RegierungsvertreterInnen gemeint, sondern auch die GeldgeberInnen aus dem globalen Norden – ist es einfacher und sicherer, erwachenden Menschen die Augen herauszuschiessen, um ihnen nicht auf Augenhöhe begegnen zu müssen. (…)

 

Hauptbild: Tränengas, Gummigeschosse, Schrotbomben: Ohne Rücksicht auf Verluste haben Polizei und Militär ihre Geschosse auf die Köpfe der DemonstrantInnen gerichtet, und zwar von Hong Kong über Ecuador bis nach Chile. (Junior Vásquez/eldesconcierto.cl)