Chile: Aufhängen, aufdrängen, neu schreiben

Chile ist seit Jahrzehnten für sein gnadenloses Wirtschaftssystem bekannt. Seit Oktober nun wehren sich Tausende gegen teure Bildung, fehlende politische Beteiligung sowie den Ausverkauf von Boden und Wasser – und zwar jede Woche. Eine Reportage aus einem Land, dessen BewohnerInnen begonnen haben, das Heft selbst in die Hand zu nehmen.

17. Februar 2020, Santiago de Chile/Ancud (Chiloé) – Es ist Freitag in Chiles Hauptstadt. Und wie jeden Freitag seit dem 18. Oktober 2019 strömen nach Feierabend unzählige Menschen zur Plaza Italia, dem Epizentrum der Proteste. Der Ort ist inzwischen in Plaza Dignidad umbenannt worden: Platz der Würde. Schon von weitem jagen einem Tränengasschwaden das Wasser in die Augen. Doch das schreckt die tausenden DemonstrantInnen, die auch heute wieder hierher kommen, nicht ab. Die Protestbewegung hat in den vergangenen Monaten nicht nur Banken und Supermärkte zerstört und geplündert, in Santiago wurden zu Beginn ganze Hochhäuser angezündet, in denen Grosskonzerne ihre Büros hatten. Attackiert wurden auch Polizeistationen und -autos.

Und so gleicht der Gang durch die Innenstadt am Morgen nach einer Demonstration einer apokalyptischen Vision: zerstörte Bus- und U-Bahnstationen, ausgebrannte Häuser, vom Feuer abgewetzter Asphalt, überall Steine und Glassplitter sowie heruntergerissene Ampeln. Doch die Situation gibt auch neuen Möglichkeiten Raum. So zieren unzählige Aufrufe zum Ungehorsam die Hauswände, sowohl in der Innenstadt von Santiago als auch anderswo im Land. Anstelle von Werbetafeln sieht man farbig gestaltete Strassenstriche und für die FussgängerInnen gibt es neue Freiheiten, Strassenblockaden sei dank.
Auslöser für den estallido social, den sozialen Ausbruch, war eine Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets um 30 Pesos, rund 4 Rappen. Darauf reagierten SchülerInnen und StudentInnen mit Blockaden der U-Bahnstationen, die der chilenische Staat mit harter Polizeirepression zu unterdrücken versuchte. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Denn von Anfang an war klar: Bei den Demonstrationen geht es nicht um die Ticketpreise, sondern um eine generelle Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen.

 

Die psychischen Probleme der ChilenInnen

Chile hat eines der neoliberalsten Wirtschaftssysteme in ganz Lateinamerika – und das schon seit langer Zeit. Es war die Militärdiktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet, die Mitte der 1970er Jahre Privatisierungen und Deregulierungen eingeführt hatte. Der Boden und das Wasser, das Gesundheitssystem und der öffentliche Verkehr werden heute fast ausschliesslich von privaten Unternehmen kontrolliert. Die Folgen sind unter anderem eine extreme Wohnungsnot, eine Gesundheitsversorgung, die sich nur Reiche leisten können sowie eine sich weiter öffnende Schere zwischen arm und reich. So überrascht es nicht, dass Chile zu jenen Ländern auf dem Kontinenten zählt, deren soziale Ungleichheit zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten am ausgeprägtesten ist. Nicht umsonst wird das politische und ökonomische System des Andenstaates vielerorts als „neoliberales Experiment“ bezeichnet.

Die ChilenInnen wollten einst teilhaben an dieser konsumorientierten Form des Fortschritts. Sie nahmen Kredite auf, schlitterten jedoch bald in die Schuldenfalle. Heute wissen viele nicht, wie sie im nächsten Monat über die Runden kommen sollen.

Wie der Psychiater und Autor Alberto Larraín 2019 in der Zeitschrift The Clinic schrieb, leidet im schmalsten Küstenland der Welt jede vierte Person an psychischen Problemen. Larraín bringt diese Entwicklung vor allem mit dem sich ausbreitenden Individualismus sowie mit der ungewissen ökonomischen Situation eines Grossteils der Bevölkerung in Verbindung. Zudem ermöglicht das System keine politische Beteiligung, sprich: Veränderungen werden in der Regel von oben diktiert, also von der Politik des Zentralstaates in der Hauptstadt Santiago de Chile und den Grosskonzernen. Es waren nicht zuletzt die Meldungen über Korruptions- und Kollusionsfälle in der Oberschicht, die die Wut über die politische Klasse und die Wirtschaftseliten zusätzlich geschürt hat. (…)

 

Hauptbild: Zuerst zerstört, dann umfunktioniert: Eine U-Bahnstation in Chiles Hauptstadt, die den BesetzerInnen heute als Wäscheleine dient. (Gregor Kaufeisen)