Das vernebelte Pferd

Mehrere JournalistInnen sind bei den Protesten in Ecuador verletzt worden, darunter auch Mitarbeiter von mutantia.ch. Einer davon erzählt uns seine Geschichte – eine Geschichte, die für einen Demonstranten mit dem Tod endete.
 

20. Oktober 2019, Quito, Ecuador – Als Journalist habe ich den Anspruch, nah dran zu sein. Ich möchte sehen, hören, riechen und spüren, was vor Ort passiert. Nur so kann ich einschätzen, analysieren, Empathie erzeugen und Verständnis schaffen. Und darum geht es letztlich. Mein Körper verwandelt sich in diesen Momenten in eine Art Schwamm, der alles aufsaugt, um es danach durch Gedanken gefiltert niederzuschreiben. Die LeserInnen meiner Texte sollen nachvollziehen können, was ich gesehen, gehört, gerochen und gespürt habe – und warum ich zu den entsprechenden Schlussfolgerungen komme.

Das war im Fall der Proteste in Ecuador, die am vergangenen Sonntag nach zwölf Tagen zu Ende gegangen sind, nicht anders. Geplant war an diesem ersten Protest-Samstag, die Ankunft der Indigenen in Quito zu dokumentieren. Doch entgegen unseren Informationen waren die noch gar nicht soweit. Also fuhr ich mit meinem Fahrrad – Busse verkehrten keine – einfach weiter und landete spät abends in Latacunga, rund hundert Kilometer südlich der Hauptstadt. Dort hatte die Bevölkerung bereits mit der Mobilisierung begonnen. Sie sperrte alle paar Kilometer Autobahnen, Brücken und Mautstellen und liess nur jene Fahrzeuge passieren, die DemonstrantInnen oder Lebensmittel für die DemonstrantInnen geladen hatten. Niemand im Land sollte sich motorisiert bewegen oder seine Produkte auf dem Markt verkaufen können, bis der Entscheid der Regierung rückgängig gemacht würde, die Subventionen auf Benzin und Diesel zu streichen. 

Als ich zwei Tage später nach einer anstrengenden Rückfahrt – zwischenzeitlich im Bauch von Camions, zusammen mit DemonstrantInnen – wieder in der Hauptstadt war, war ich erschöpft. Mein Körper mochte nichts mehr aufnehmen, schon gar nicht den schwarzen Rauch verbrannter Autoreifen oder das weisse Tränengas aus den Pistolen der Polizei. Ich überliess das Feld meinen KollegInnen. Sie waren es, die die darauffolgenden Tage dokumentierten: mit Videos, Fotos und Audios. Wir erachteten es als unsere Pflicht, täglich über die Proteste, Gewalt und Repression in Quito zu berichten. Erstens war diese absolut unverhältnismässig und hinterliess mehrere Tote und Dutzende von Schwerverletzten. Zweitens fehlten die Berichterstattungen der Massenmedien: Sie zelebrierten den courent normal und errichteten ein Konglomerat des Schweigens. Ein Schweigen, das wir zusammen mit anderen digitalen Medien teilweise brechen konnten – auch dank der Hilfe von zahlreichen Menschen, die die Situation vor Ort filmten und auf Facebook&Co. luden.

Schrotbomben hat die ecuadorianische Polizei hundertfach abgefeuert: der verletzte Finger einer unserer Mitarbeiter.                                                                BILD: mutantia.ch 

mutantia.ch macht keinen Hehl daraus, dass wir die friedlichen Proteste von Anfang an unterstützten. Nicht, weil wir für die Subventionen von Treibstoffen sind – früher oder später werden wir das Erdöl im Boden lassen müssen –, sondern weil uns die herrschenden Klassenunterschiede, die Präkarisierung der Arbeit und die Benachteiligung von Minderheiten seit Jahren und Jahrzehnten selber betreffen. Nicht nur in Ecuador. Wir befinden uns zwar nach wie vor in einer privilegierten Situation – insbesondere der Schreibende selbst da männlich, weiss und heterosexuell – , doch auch wir sind ständig daran, uns im Alltag irgendwie über Wasser zu halten. Auf Grund der miserablen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, für die der Internationale Währungsfond (IWF) mitverantwortlich ist, machen wir das über Auftragsarbeit und Gelegenheitsjobs. Deshalb befanden wir uns nicht nur aus Dokumentationsgründen auf der Strasse, sondern auch aus Solidarität: mit den Indigenen, mit den Bauern und ArbeiterInnen, mit den StudentInnen und Hausfrauen sowie mit den Präkarisierten aus Bananen-, Shrimps- und Palmöl-Industrie. Und nicht zuletzt mit den anderen freischaffenden Medienleuten, die von der Polizei nidergeknüppelt und verhaftet oder deren Homepages Opfer von Cyberattacken wurden. Auch deshalb stellten wir unsere Körper in die mit Tränengas getränkte Luft und riskierten, von einer der Schrotbomben verletzt zu werden. 

So auch am 9. Oktober 2019, dem nationalen Streiktag. Ich machte mich am späten Nachmittag auf zum Park El Arbolito, dort, wo sich die DemonstrantInnen eingerichtet haben, sozusagen das Zentrum des Widerstands im Zentrum von Quito. Ich wollte mir ein Bild der Situation machen und zog meinen Schal übers Gesicht, um mich vom Tränengas zu schützen. An der Front hatten die DemonstrantInnen eine Art Schutzwall aufgezogen, bestehend aus Karton, Steinen und ausgeklinkten Metalltüren irgendwelcher Elektroinstallationen. Von oben, dort wo das Parlament normalerweise tagt, schoss die Polizei Schrotbomben und Tränengas in Richtung Menge. Sie wartete stets ein paar Minuten, und lancierte dann eine Salve. Die DemonstrantInnen hatten sich inzwischen organisiert, um das Tränengas entweder in einem mit Wasser gefüllten Plastikkübel zu ertränken oder es, ausgerüstet mit Handschuhen, in Richtung Polizei zurück zu werfen.

Bei Dämmerung intensivierte die Polizei ihre Attacken und begann, El Arbolito systematisch mit Gas zu beschiessen. Selbst die Ärzte und Medizin-StudentInnen, die als NothelferInnen an der Front wirkten, hatten sich inzwischen zurückgezogen, und der von der Zivilbevölkerung organisierte Kinderhort, wo die Demonstrierenden vom Land tagsüber ihren Nachwuchs abgeben konnten, war längst evakuiert.

Ich selber stand zu diesem Zeitpunkt am Rande von El Arbolito, hatte aber nicht realisiert, in welcher Gefahr ich mich befand. Von einer Minute zur anderen rannten etliche Demonstrierende direkt auf mich zu, ich hörte das metallische Klicken eines Zauns: kurz darauf waren wir eingekesselt. Einzelne der DemonstrantInnen begannen über den wackligen Zaun zu klettern, immerhin knapp drei Meter hoch. Als ich mich umdrehte, den Schal eng über‘s Gesicht gezogen, die Augen voller Tränen, sah ich, warum. Da standen mehrere PolizistInnen mit ihren Pferden, Schlagstöcken und Tränengas-Pistolen. Sie waren umgeben von Gas und einer bemerkenswerten Stille, die nur hin und wieder von einem Schrei oder einem Husten unterbrochen wurde.

Ich rannte in Richtung Strasse und beging in Panik jenen Fehler, den man in solchen Situation vermeiden sollte: Ich atmete durch den Mund. Sofort brach in meinem Rachen ein Brand aus. Wie ein Feuer bahnte sich das Gas seinen Weg in Magen und Därme und liess meine Beine weich werden. Ich rannte und atmete, irgendwie, und hielt meine Augen geschlossen, so gut es ging. Sehen konnte ich kaum noch. Rund um mich herum Dutzende in derselben Situation. Röchelnd schleppten wir uns aus der Gefahrenzone, einzelne mussten sich übergeben. Andere hatten Essig und Bicarbonat dabei und leerten es sich in Augen- und Nasenhöhlen. Das linderte den Schmerz ein wenig. 

 

Der Sohn von Segundo Inocencio Tucumbi Vega hingegen,
der ebenfalls vor Ort war, sagte, dass die Polizei ein Tränengas-Projektil
auf den Kopf seines Vaters abgefeuert habe.

 

Nach ein paar Minuten stand ich endlich beim Kreisel, der zu den Universitäten führt, die ein paar Minuten später angegriffen werden sollten – obwohl sie eigentlich Schutzzonen sind. Von weitem schon waren Polizisten auf Motorrädern zu sehen, und es war klar: Hier gab’s nichts mehr zu demonstrieren. Es ging nur noch darum, die Menschen zurückzudrängen, die Menge aufzulösen und die Demonstrierenden niederzuschlagen. 

Ich blickte noch einmal in Richtung El Arbolito, dort wo die Pferde standen und wo an diesem Abend Segundo Inocencio Tucumbi Vega vom staatlichen Sicherheitsapparat umgebracht werden sollte. Sein Kopf sei zertrümmert worden, liess der Bürgerbeauftragte tags darauf ausrichten. Das Innenministerium, das für die enorme Polizeigewalt während des Streiks verantwortlich war, sprach von einem Sturz. Andere Quellen meinten, er sei von den Pferden niedergetrampelt worden. Der Sohn von Segundo Inocencio Tucumbi Vega hingegen, der ebenfalls vor Ort war, sagte, dass die Polizei ein Tränengas-Projektil auf den Kopf seines Vaters abgefeuert habe. Der 50-Jährige aus der Provinz Cotopaxi, also dort, wo unsere Recherche begonnen hatte, ist einer von mindestens acht Menschen, die zwischen dem 2. und 13. Oktober im Rahmen der Proteste umgebracht wurden. 

Als ich am nächsten Tag an seiner Beerdigung teilnahm, zusammen mit über 10.000 anderen Personen, wurde mir bewusst, dass ich tags zuvor Glück gehabt hatte – genauso wie unsere anderen MitarbeiterInnen, die während des Streiks an der Front waren, und in einem Falle von einer Schrotbombe am Finger getroffen wurden. Mehrere DemonstrantInnen haben ihr Auge verloren oder auf Grund der Schrotbomben einen Knochen gebrochen. Und wie ich verspürten Dutzende andere Personen in den Tagen darauf Brechreiz, Appetitlosigkeit oder litten an Durchfall. Unsere Körper wurden mit Tränengas vergiftet und wir sind erst langsam daran, uns davon zu erholen.

Schutzmaske, Zitronen, Essig und Eukalyptus-Blätter: Präventions- und Schutzmaterial gegen Tränengas.                                                  BILD: mutantia.ch 

Es wird Zeit brauchen, um alles aufzuarbeiten. Denn die massive Gewalt und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen, die inzwischen auch die UNO und die Interamerikanische Menschenrechtskommission auf den Plan gerufen haben, haben auch unser Verständnis von Demokratie verletzt.
Das Gute ist, dass wir uns am Dienstag zusammen mit mehreren dutzend freischaffenden JournalistInnen, FotografInnen, ZeichnerInnen und anderen KünstlerInnen in Quito getroffen haben, um das Geschehene gemeinsam aufzuarbeiten und Netzwerke zu schmieden. Denn diese werden angesichts des autoritären Vorgehens des ecuadorianischen Staats immer wichtiger. Wenn eine Regierung von einem Tag auf den anderen die Subventionen auf jenen Rohstoff streicht, der unseren Alltag prägt – im Wissen, dass andere Präsidenten bei ähnlichen Versuchen bereits gescheitert sind – scheint uns das nicht nur zynisch, sondern ein Akt politischen Vandalismus’. Und wenn sich die Massenmedien so verhalten, wie sie das meistens tun, wenn es ums Eingemachte geht – nämlich schweigend – dann wird die Berichterstattung kleiner, unabhängiger Medien je länger desto wichtiger.

 

Text: Romano Paganini

Hauptbild: Friedliche Demonstration vor dem Parlament in Quito, gewaltvoll aufgelöst von Polizei und Militär: DemonstrantInnen, die sich am Freitag 11. Oktober auf Grund des Tränengases reihenweise zu Boden schmeissen. Diverse Kinder mussten hinterher mit Atemproblemen behandelt werden. (Alejandro Ramirez Anderson)