Tagebuch 2020, Woche 16: Grippe – Nachtnebel – Sorgenbarometer

Weltweit haben Millionen Menschen ihren Job verloren, die Internet-Installateure verschiedener Telekommunikationsfirmen in Ecuador hingegen leisten Überstunden: ein Zweierteam beim Reparieren einer der Leitungen, Quito im August 2020. – BILD: mutantia.ch 

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24. August – Grippe

 

Vielleicht wäre es nicht so schlecht, uns wiedereinmal kurz daran zu erinnern, dass das Leben mit Maske alles andere als normal ist. Wir werden weder mit ihr geboren, noch werden wir mit ihr sterben. Mund und Nase sind dazu da, ein- und auszuatmen. Beides wird durch eine Maske enorm erschwert und kann gerade bei Menschen mit Vorerkrankungen wie Asthma zu ernsthaften Problemen führen.

Je länger die Pandemie dauert, umso absurder scheinen mir die Massnahmen. Die folgenden Fragen seien lediglich für die Nachwelt gestellt: Warum schützen wir nicht vor allem jene Menschen, die auf Grund von Vorerkrankungen ein höheres Risiko für einen schwerwiegenden Krankheitsverlauf tragen? Warum wird nach wie vor derart unkritisch über die Pandemie und ihre Konsequenzen berichtet? Warum tragen die Menschen Masken an ihrem Arbeitsplatz? Und warum berichten die Medien täglich über die neuen Ansteckungszahlen, obwohl man weiss, dass diese von der Anzahl ausgeführter Tests abhängen?

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25. August – Nachtnebel

Wie Messerstiche durchschnitten die Schreie der Person den stillen Nachtnebel Quitos. Das Ringen, losgelassen zu werden, klang weiblich und verzweifelt. Die Schreie der Frau gingen durch Mark und Bein des Schlafenden, der sich nach wenigen Sekunden seiner selbst bewusst wurde und sich fragte: Real oder Traum? Dann war’s wieder still im Nachtnebel von Quito. So, als ob nichts geschehen wäre.

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Überall ist von Disziplin und Ordnung zu hören und zu lesen. Und irgendwie hat die staatliche Rhetorik der vergangenen Monate etwas militärisches: Warnhinweis der Gemeinde Cotacachi in der Provinz Imbabura im Norden von Ecuador. – BILD: mutantia.ch

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26. August – Sorgenbarometer

 

Meine Sorgen: Hunger in der Welt – vergiftete Lebensmittel – maskierte Menschen – multiple Formen von Gewalt – soziale Isolation – Umweltzerstörung – Kinderarbeit – ignorante PolitikerInnen – ignorante Menschen überhaupt (ich zähle mich dazu) – Aufrüstung bei Polizei und Militär – der Individualverkehr – fehlende Empathie – digitale Kontrolle – Cyborg – kollektives Nicht-Ausdrücken von Emotionen sowie die Sorge, all das nicht mehr sagen zu dürfen, ohne als Ausserirdischer dargestellt zu werden.

Die Sorgen der Mehrheit: sich mit Covid-19 anzustecken oder die Existenz nicht mehr sichern zu können. Und sollte es sich nicht um eine Mehrheit handeln, warum findet dann kein Aufstand statt?

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27. August – Realitätsverlust

 

Seit ein paar Stunden ist die spanischsprachige Version der Geschichte Lenins online (hier die deutsche Fassung). Wir haben lange gefeilt an dem Video, bis wir wirklich das Gefühl hatten: jetzt stimmt’s! Es sind drei Minuten und vierzig Sekunden, dank derer ich nun einen Lohn erhalte, der mich fast bis Ende Jahr leben lässt. Nein, er ist nicht besonders hoch, aber erstens gebe ich hier wenig Geld aus und zweitens kommt man mit Schweizer Franken in Ecuador sehr weit.

Klar, ich bin dankbar für diesen Lohn und finde es wichtig, dass die Menschen über Geschichten wie jene von Lenin Bescheid wissen. Allerdings bringt mich der Fall Lenin wieder einmal in ein Dilemma: jenes, mit dem Tod anderer Geld zu verdienen. Ich bin mir zwar bewusst, dass dies eines der Kerngeschäfte des Journalismus’ ist, wie wir ihn kennen. Allerdings frage ich mich, wohin wir damit kommen, gerade in Zeiten wie diesen, wo der dunkel werdende Horizont zur Tagesordnung gehört. Wir „richten“ uns „nach“ dem, was anderen Schlimmes widerfährt: was sie traurig oder wütend werden lässt, was sie schmerzt oder zornig macht, was Hunger und Verwüstung hinterlässt. Doch bringt uns das wirklich weiter? Übersehen wir da nicht etwas?

 

Als Journalist ist es meine Aufgabe, Realitäten wie jene von Lenin und seiner Familie abzubilden,
vor allem dann, wenn sie in direktem Zusammenhang mit Europa stehen.
Doch letztlich scheint es mir ein Kampf gegen Windmühlen.

 

Lenins Geschichte reiht sich nahtlos ein in diese Form der Berichterstattung. Er starb an einer Reihe von Umständen, die es ihm unmöglich machten, gegen Covid-19 ankämpfen zu können. Er opferte seinen Körper – genauso wie tausende andere täglich – damit in Europa Bananen serviert werden können. Klar fühle ich mich als Journalist verpflichtet, darüber zu schreiben und zu informieren. Aber mal ehrlich: Kennen wir das Ganze nicht langsam? Sind wir uns der kolonialen Strukturen unseres Wirtschaftens nicht langsam bewusst, und sollten uns darüber im Klaren werden, dass sich daran nichts ändern wird, solange wir unsere Lebensform nicht anpassen, also anders essen, anders denken und dadurch anders zu handeln beginnen?

Als Journalist ist es meine Aufgabe, Realitäten wie jene von Lenin und seiner Familie abzubilden, vor allem dann, wenn sie in direktem Zusammenhang mit Europa stehen. Doch letztlich scheint es mir ein Kampf gegen Windmühlen. Und um der Ehrlichkeit noch einen Schritt näher zu kommen: Es scheint mir aussichtslos. Solange wir kolonial leben, solange wird sich im Leben der Menschen im Globalen Süden nichts ändern. Kolonie = Hierarchie = Klassen = Unterdrückung.

Geschätzte Leserinnen und Leser, geben Sie sich ruhig der Illusion hin, gut informiert zu sein. Haben sie ruhig das Gefühl, wer sich mit dem Leid anderer auseinandersetzt, verstehe die Welt besser. Doch dies ist ein gefährlicher Trugschluss und kultiviert vor allem eins: den Teufelskreis, nach dem wir uns richten. Wer wirklich emphatisch leben möchte, der stellt die menschenverachtenden Strukturen nicht nur in Frage, sondern hilft dabei, sie einstürzen zu lassen und dahinter jene Realität aufzubauen, für die es sich zu leben lohnt.

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