Tagebuch 2020, Woche 17: Unverständnis – Fingerspitzengefühl – Böller

Ist Ecuadors Regierungsministerin eine Psychopatin? Maria Paula Romo beim Posieren für eine Hochglanz-Zeitschrift. Sie scheint dabei die Tatsache ausgeblendet zu haben, das wegen der Polizeigewalt im Oktober 2019, für die sie als zuständige Ministerin die Verantwortung trägt, diverse DemonstrantInnen ein Auge verloren haben. – BILD: Screenshot/La Linea de Fuego

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3. September – Unverständnis

 

Der Richter, der über die Erdöl-Katastrophe befinden soll, die sich im April in Ecuador zugetragen hatte, dies aber auf Grund von Krankheit während Wochen hinausgezögert hatte, entschied vorgestern, die einstweilige Verfügung der 27.000 AnwohnerInnen der Flüsse Coca und Napo abzulehnen. Die Betroffenen hatten unter anderem gefordert, dass die Verantwortlichen sämtliche Informationen offenlegen, wie es zu dem Desaster hat kommen können, und dass ihre comunidades mit gesunden und nahrungsreichen Lebensmitteln versorgt werden. Denn durch die Verschmutzung ist ihnen von einem Tag auf den anderen die Lebensgrundlage entzogen worden. Doch der zuständige Richter begründete seinen Entscheid mit einer Verfahrensangelegenheit – wie so oft bei heiklen Fragen. Die Justiz versteckt sich also hinter der Bürokratie und lässt die verantwortlichen Firmen, sowohl staatliche als auch private, bis auf weiteres springen. Die Medienkonferenz der Indigenen machte deutlich: Sie befinden sich en pie de lucha. Auch das Wort Krieg ist gefallen. Und nein, man kann es ihnen nicht übel nehmen …

Bewegt geht es auch andernorts im Land weiter. So sind in diesen Tagen wieder an verschiedenen Orten LehrerInnen auf die Strasse gegangen, um gegen die miserablen Arbeitsbedingungen und die Kündigungen sowie für ihren ausstehenden Lohn zu demonstrieren. Ebenfalls in den Startlöchern stehen die StudentInnen, privates Sicherheitspersonal sowie andere ArbeiterInnen des öffentlichen Sektors. „Und auch ihr seid gemeint“, schrie gestern einer der Demonstranten vor dem Finanzministerium im Norden der Stadt und deutete auf die in gelben Westen wartenden PolizistInnen. „Auch für euch gehen wir auf die Strasse!“ Doch solange weiterhin in den staatlichen Sicherheitsapparat investiert wird – die Polizei hat Anfang  Jahr zusätzlich zum bestehenden Budget 50 Millionen Dollar erhalten – und das Narrativ von „Recht und Ordnung“ stärker ist als die eigene Empörung über den Zerfall des Landes, Hunger inklusive, solange werden die Frauen und Männer zu ihren Schlagstöcken und ihren Pfeffersprays greifen.

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4. September – Auszug

 

Morgen zieht Marizu aus. Sie wird sich mit einer Argentinierin und einer Frau aus Peru, die beide an derselben Universität studieren, eine Wohnung teilen. Ich selber werde noch einen Monat länger hier ausharren und dann endlich, endlich wieder an einen Ort ziehen, wo ich morgens aufstehen und barfuss durch die feuchte Wiese gehen kann. Die Bedürfnisse von Marizu und mir haben sich in den vergangenen Monaten verändert. Für mich ist klar geworden, dass ich nicht mehr länger in einer Millionenstadt leben möchte. Ich werde sonst krank. Marizu hingegen wird auf Grund von Studium und Arbeit sicher noch ein Jahr hier bleiben. Wobei sicher ist im Moment ja eigentlich nur, dass es täglich hell und dann wieder dunkel wird. Eines wissen wir beide: Ab morgen werden wir in getrennten Wohnungen leben, und beide freuen wir uns darauf (obwohl ich noch nicht weiss, wo ich in 26 Tagen schlafen werde …)

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“Auch für euch gehen wir auf die Strasse!”: Demonstrierende vor dem Finanzministerium in Quito. Im Hintergrund die Polizisten in gelben Westen, die von den Budgetkürzungen der Regierung nicht betroffen sind, September 2020. – BILD: mutantia.ch

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5. September – Böller

 

Gestern dürfte es das erste Mal seit meiner Kindheit gewesen sein, dass ich einem Feuerwerk nicht nur staunend, sondern mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut habe. Von meinem Fenster aus. Unten im Tal lief endlich wieder einmal eines der sonst unzähligen Volksfeste. Oder war es eine Privatparty? Egal! Die Musik und die explodierenden Raketen am Nachthimmel, flankiert von einem abgeschnittenen Mond, zeugten davon, dass irgendwo im Quartier wieder Menschen zusammengekommen sind, feiern und vielleicht sogar die Sau rauslassen. Sollen sie! Wir dürfen gespannt sein, was uns ab dem 12. September erwartet. Denn dann wird der Ausnahmezustand nach sechs Monaten endlich aufgehoben und dann dürften – Krise hin oder her – auch die Feste wieder steigen. Die angestaute Energie muss irgendwann und irgendwo raus.

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6. September – Fingerspitzengefühl

 

Die oberste Chefin der ecuadorianischen Polizei hat es in diesen Tagen wieder einmal geschafft, ins Fettnäpfchen zu treten. Gemeint ist Regierungsministerin Maria Paula Romo, die das brutale Vorgehen der Polizei während des Landesstreiks vor einem Jahr bis heute rechtfertigt und deshalb den Übernamen Maria Bala y Plomo erhielt: Maria Kugel und Blei. Die 40-Jährige sah keinen Grund, Kritik an ihren Sicherheitskräften zu üben, die ihre Waffen – allen voran Tränengas und Schrotbomben – zwölf Tage lang direkt auf die Körper der Demonstrierenden abgefeuert und dutzende Menschen verkrüppelt zurückgelassen hatten.

Romo ist über diese Ereignisse bestens informiert, insbesondere über die vielen DemonstrantInnen, die während des Streiks ein Auge verloren haben. Auch deshalb wurde der Rücktritt von ihr und Verteidigungsminister Oswaldo Jarrin zunächst als Bedingung erklärt, um den Streik zu beenden. Doch soweit war es letztlich nicht gekommen. Die Regierung hob zwar das umstrittene Dekret zum Stopp von Subventionszahlungen auf Treibstoffe auf, liess Romo und Jarrin aber im Amt.

Umso bedenklicher ist es nun, dass eben diese Ministerin sich für das Cover einer Klatsch-Zeitschrift ein T-Shirt übergezogen hat, auf dem das Aquarell einer Frau mit nur einem Auge zu sehen ist. Empathie? Erinnerungen? Solidarität? Fehlanzeige! Als ob Oktober 2019 nicht passiert wäre, lächelt Romo gut geschminkt in die Kamera und verkauft sich so als die sympathische Chefin einer brutalen Polizei. Der Auftritt hat selbstredend Reaktionen ausgelöst. Eine Soziologin verglich ihr Verhalten gar mit jenem einer Psychopatin.

Sei es wie es sei: Der Auftritt von Maria Paula Romo zeugt nicht nur von wenig Fingerspitzengefühl, eher ist er Ausdruck einer beinahe perfekten Diskrepanz zwischen Regierung und Volk. Wer sich als Regierungsvertreterin nach weniger als zwölf Monaten der besagten Ereignisse ein solches T-Shirt überstreift, agiert einfach nur zynisch.

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