Tagebuch 2020, Woche 30: Grosszügigkeit – Liebesbrief

“Früher half Kung Fu für die Selbstverteidigung, heute hilft es bei der Selbsteroberung”: Yang Jwing-Ming, Kampfkunst-Meister aus Taiwan und den USA. – Kung Fu Unterricht in einem Garten im ecuadorianischen Tumbaco, Dezember 2020. – BILD: Santiago Troppoli

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6. Dezember – Grosszügigkeit

Kung Fu ist letztlich das Einzige, was Sinn macht. Du bist ganz auf dich alleine gestellt, hast keine Ausreden und falsche Erklärungsversuche. Du musst es mit dir selber ausmachen und kannst die Schuld, sollte dir etwas nicht gelingen, nicht auf andere schieben. Du, mit deinen Dämonen und Masken, deinen Ängsten und Limitationen: wir kennen das. Du brauchst niemanden zu bezwingen oder gar zu erobern. Deine Aufgabe besteht lediglich darin, dich selber zu überwinden, sei es physisch, psychisch oder spirituell. Die tägliche Praxis hilft dabei, dich besser kennen- und schätzen zu lernen und deinem Umfeld grosszügig zu begegnen.

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7. Dezember – Liebesbrief*

 

Lieber M.

Es ist die letzte Nacht zwischen diesen Wänden, hier, wo wir versucht haben, ein Zuhause aufzubauen … Und ich bedaure es zu tiefst, dass wir es nicht geschafft haben. Ich spüre diverse Gefühle des Verlustes in mir, hoffentlich verschwinden sie bald. Ich versuche die schönen Dinge zu sehen, die wir ebenfalls erlebt hatten, aber es fällt mir nicht einfach.

Meine schlimmsten Albträume und Ängste sind Realität geworden: der Verlust meiner Katze, meines compañeros, kein Zuhause gefunden zu haben. Um ehrlich zu sein, ich fühle mich besiegt. Ich habe mittlerweile wieder etwas mehr Kraft, um es von neuem zu versuchen. Es schmerzt einfach, dich nicht mehr an meiner Seite zu haben.

Ich kann dich noch nicht als meinen „amigo“ sehen, irgendwie muss ich meinen Gefühlen für dich zuerst eine andere Bedeutung geben können. Wir haben einen langen Prozess vor uns, um als Personen zu wachsen und zu reifen. Ich bedaure, dass wir es nicht rechtzeitig geschafft haben. Hoffentlich findest du deinen Weg, hoffentlich wird dich das Leben gut behandeln, hoffentlich genesen wir bald.

Mir gehen die Worte aus …

Während ich schaue, wie es in meinem Leben weitergeht, mit dieser Kombo an Emotionen, Wunden und meinem eigenen Verrücktsein, mit all diesen Gefühlen für dich, aus Liebe und Hass (immer weniger), werde ich versuchen weiterhin an meinem perdon zu arbeiten, an deinem perdon, an unserem perdon.

Te quiero, L.

 

*gefunden beim Aufräumen. Der Brief ist datiert: 30. November 2014.

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