Tagebuch 2020, Woche 8: Kollaps – Balsam – Krieg

“Es geht nicht nur um Bildung, es geht ums Leben”: Zeichnung eines ecuadorianischen Künstlers, am Rande einer der zahlreichen Demonstrationen gegen die Budgetkürzung im Bildungsbereich, Quito im Juni 2020. – BILD: mutantia.ch 

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29. Juni – Kollaps

 

Sonntagabend 19 Uhr. Mein Handy klingelt. Es ist Edison* aus Sucumbios, also jener Provinz im ecuadorianischen Amazonasbecken, wo seit den 1970er Jahren Erdöl ausgebeutet wird. Er müsse mit mir sprechen. Und noch bevor ich einwillige, legt er los. Ich muss gestehen, dass ich nur die Hälfte verstanden habe – und gestand ihm dies kurz darauf. Ich weiss von früheren Gesprächen mit Edison, dass er mit seinem ehemaligen Arbeitergeber – einer Erdöl-Firma – im Klinsch steckt, Gerichtsverfahren inklusive. Er erhofft sich von mir, dass ich als Journalist aus der Schweiz seinen Fall nach Europa trage („Du weisst ja, hier passiert eh nichts!“) und dann irgendeine NGO oder sonst eine Organisation dafür sorgen würde, dass ihm und seiner Familie Gerechtigkeit widerfahren könnte – also etwas, das ganz bestimmt nicht passieren wird. Ausserdem bin ich viel zu schlecht vernetzt und das Interesse an einem Arbeitsstreit wie jenem Edisons beschränkt.

Ich sehe keinen Grund, Edisons Worten nicht zu vertrauen. Die Geschäftspraktiken der Rohstofffirmen sind bekannt, genauso wie jene der korrupten (Lokal)-PolitikerInnen, die ihre Hände in Unschuld waschen und dafür auch noch belohnt werden. Edison ist offensichtlich unfair behandelt worden, und ich bitte ihn nach etwa einer Viertelstunde, auch um den Sonntagabend in Ruhe verbringen zu können, mir seine Geschichte und seine gesammelten Dokumente per Mail zu schicken. Ob er sie fotografieren oder scannen soll, fragt er mich und ich weiss zunächst gar nicht, was ich darauf antworten soll.
Es ist Sonntagabend, Ecuador steht vor dem Kollaps, die Welt vor einer der grössten Rezessionen, die der Kapitalismus je gesehen hat, und Edison fragt mich, ob er die Dokumente scannen oder fotografieren soll. Ich war sicherlich schon geduldiger als in diesem Moment. „Mach, was du für richtig hälst“, lautete meine knappe Antwort.

Edison dürfte in meinem Alter sein. Er lebt zusammen mit seinen Eltern irgendwo zwischen den Erdöl-Bohrtürmen. Sein Vater leidet an Diabetes und auch seine Mutter ist nicht gesund. Um die Beiden nicht zu gefährden, befolgt die Familie seit Monaten eine Hardcore-Quarantäne. Morgen aber, so sagt Edison, werde er in die Stadt fahren und da irgendwie schauen, wie er mir die Dokumente zukommen lassen kann. Sie hätten ihm schon vor Tagen den Strom abgestellt, und er sitze hier nun bei Kerzenlicht. Kerzenlicht! Und ich werde ungeduldig, weils Sonntagabend ist …

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Einsam auf weiter Flur: Während den Monaten der Quarantäne erlebten die Kurier-Dienste einen Aufschwung. Allerdings schuften die Mitarbeiter zu einem Hungerlohn, oftmals ohne Versicherungen oder andere Garantien, Quito im Mai 2020. – BILD: mutantia.ch

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1. Juli – Balsam

 

Gestern sprach Victor Martinowitsch im „Echo der Zeit“. Und die Worte des weissrussischen Schriftstellers waren Balsam auf meine Schreiber-Seele. Der Russlandkorrespondent der Sendung fragte ihn, was ein Schriftsteller in Zeiten wie diesen mache, und er antwortete: Ich schreibe Tagebuch. Er beobachte, was passiere und schreibe es dann auf. Punkt.

Es war deshalb Balsam für mich, weil ich das Gefühl hatte, verstanden zu werden, oder besser noch: mich selbst zu verstehen. Denn wenn viele Dinge in kurzer Zeit geschehen, die eigentlich festgehalten werden müssten – für die Nachwelt, für die BürgerInnen, für die Geschichtsschreibung, für einen selber – Zeit und Energie jedoch limitiert sind, dann besteht meiner Meinung nach die einzig sinnvolle Aufgabe darin, zumindest alle paar Tage etwas festzuhalten. Das Chaos lässt sich nicht aufhalten, offenbar genauso wenig wie der Kollaps. Aber es lässt sich zumindest kurz für einen selber organisieren.

Schreiben hilft, genauso wie meditieren, oder Yoga oder kochen oder ein gutes Buch lesen. Man ist dann zumindest ein paar Minuten mit einer Aufgabe beschäftigt, die eine Introspektion zulässt, Momente des Innehaltens und des-nicht-wahnsinnig- Werdens. Der Wahnsinn findet sowieso statt. Wenn ich mir also, wenn auch nur kurz, in Ruhe vor Augen führen kann, wenn ich begreifen kann, was sich abspielt und inwiefern ich als Individuum damit in Verbindung stehe, dann kann ich auch den Sinn dahinter erkennen. Dann macht genau das Sinn, was ich seit Anfang Mai mache: Tagebuch schreiben.

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2. Juli – Krieg

 

Ich habe Krieg nie erlebt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass die aktuelle Situation mit der sozialen Isolierung einer Art Krieg gleichkommt – nur halt nicht ganz so offensichtlich. Nein, wir schiessen uns nicht gegenseitig über den Haufen, aber wir sind isoliert und wie im Krieg befinden wir uns im Ausnahmezustand, Ausgangssperre inklusive. JedeR sitzt in seiner eigenen Zelle, ängstlich sich anzustecken, ängstlich den anderen anzustecken. Wir geben uns keine Hände und Küsse, auch keine Umarmungen, und beginnen so, Schritt für Schritt zu vereinsamen. Die Vorträge finden nur noch online statt, die Sitzungen ebenfalls. Und selbst Freunde verlangen, dass man sich auf einen Schwatz im Internet trifft. Qué!?

Für mich läuft das hier im Moment alles ein wenig aus dem Ruder, zumal bedenkt werden muss, dass es weltweit Millionen von Menschen gibt, die keinen Zugang zu Internet haben und schon gar nicht zur Telearbeit (vielleicht sogar besser so). Und jene, die sich bereits daran gewöhnt haben, dass ihr Arbeitsweg darin besteht, von der Küche ins Bad und von da ins Arbeitszimmer zu gehen, denen sei zugerufen: Hermanas y hermanos, das ist nicht unser neuer Alltag! Bitte tretet der aktuellen Entwicklung kritisch gegenüber, denn sie bringt uns nicht näher, sondern schlägt einen Keil ins Menschliche.

Wir sollten diese Form des Zusammenlebens nur als temporäres Übel hinnehmen. Schliesslich verhindert der Computer, dass wir einander in die Augen schauen, also sehen, was sich in unseren Seelen abspielt, wie es uns geht. Entweder wir werden von einer Kamera gefilmt und schauen diese an, oder aber wir blicken ins Gesicht unseres Gegenübers (nicht in die Augen!). Oder wir vergewissern uns am rechten Bildschirmrand, dass auch ja unsere Frisur sitzt. Und wenn wir uns aus irgendeinem guten Grund auf der Strasse begegnen, uns also anschauen könnten, dann sind unsere Gesichter abgedeckt, und das schon seit vier Monaten.

Der Landesstreik 2019 war hart, aber menschlich. Die aktuelle Pandemie ist nicht nur hart, sondern hat einen Keil zwischen die Menschen geschlagen. Gemeinsame Mahlzeiten wie hier während einer Essensausgabe in Quito vor einem Jahr kommen selten vor.  – BILD: M. Robledo 

Wie gesagt, ich war nie in einer Kriegssituation, habe allerdings im vergangenen Oktober den Landesstreik hier in Ecuador am eigenen Leib erfahren, damals, als tausende verletzt und knapp ein Dutzend getötet worden waren. Eines Abends, die Ausgangssperre war bereits in Kraft, kamen Freunde, Bekannte und auch Unbekannte zum Essen. Zehn Mäuler mussten gefüttert werden, und ich war froh, tags zuvor eine ordentliche Menge Linsen und getrockneten Mais zum Einweichen ins Wasser gelegt zu haben. Ich schnitt ein paar Zwiebeln auf, warf die geschälten Karotten in den Kochtopf, zündete das Gas an, und gut eine Stunde später hatten wir alle etwas Warmes zu Essen.

Ich erinnere mich an die zufriedenen Gesichter, und ich erinnere mich auch daran, wie zufrieden ich war. Alle waren wir den ganzen Tag auf der Strasse. Wir schrien, schrieben, fotografierten, filmten, versorgten Verletzte oder kümmerten uns um die Kinder, die tagsüber in einem Kinderhort abgegeben wurden. Klar, es herrschte Ausnahmezustand. Klar, es gab Tote, und klar, wir alle hatten Unmengen von Tränengas eingeatmet und uns zur Linderung der Schmerzen Essig in die Augen und Nase geleert. Unsere Lungen keuchten.

Es war schwierig im Oktober 2019, zweifellos. Aber es gab diese Momente des Zusammenkommens, auf der Strasse oder Zuhause. Es gab Mahlzeiten, die man sich teilte, bei denen man diskutieren, oder einfach nur die Gegenwart des anderen geniessen konnte. In jenem Oktober erlebten wir trotz des Blutvergiessens eine zutiefst menschliche Erfahrung. Diese findet heute nicht statt. Es gibt kaum Demonstrationen (und wenn, dann sind es praktisch immer dieselben Leute aus denselben Sektoren) und es gibt kaum gemeinsame Mahlzeiten. Stattdessen hängt jedeR täglich acht bis zehn Stunden vor dem Computer – Arbeit, Studium, Freizeit – und abends, wenn es eigentlich die Möglichkeit gäbe, sich wenigstens kurz zu treffen, wird entweder ein Film geschaut oder man schaltet die Maschine aus und geht, um endlich die Augen zu entlasten, früh schlafen.

Ich habe Krieg nie erlebt, aber die Isolation gehört mit zu den unangenehmsten Erfahrungen in meinem Leben – viel unangenehmer als der Landesstreik vor neun Monaten.

 

*Name geändert

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