Der folgende Essay entstand 2011, als der Arabische Frühling in den nordafrikanischen Ländern seinen Lauf nahm. Bereits damals gingen die Bilder überfüllter Flüchtlingsboote, die aus Tunesien oder Libyen gen Norden ins Wasser gestochen waren, um die Welt. Das Massengrab Mittelmeer sollte in den folgenden Jahren um tausende Menschen erweitert werden.     

Geändert hat sich seither vor allem eins: die Gangart europäischer Behörden. Die nationalistischen Gruppierungen, die inzwischen nicht nur in den Parlamenten sitzen, sondern auch in den Regierungen (in der Schweiz die SVP), geben den Ton an. Ihr Kalkül: Die Menschen sollen gar nicht mehr auf die Idee kommen, Richtung Norden aufzubrechen – egal, ob sie politisch verfolgt werden, Hungersnöten entfliehen (Stichwort Klimawandel) oder wirtschaftlich keine Aussichten auf ein gutes, würdevolles Leben haben. Dabei tragen insbesondere bei letztgenanntem die Staaten des Globalen Nordens eine Mitverantwortung. Denn durch den Export von Produkten in Länder des Globalen Südens zerstören sie deren regionalen Märkte – oft wesentlich fragiler als die der Industriestaaten – und entziehen beispielsweise den lokalen Bauern ihre Existenz. Diese können mit der Billigware aus dem Norden nicht konkurrieren. Die Überproduktion im Norden steht also mit am Ursprung sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge.

Auch deshalb publiziert mutantia.ch den Text von 2011 noch einmal. Die politische Lage in Nordafrika, insbesondere in Libyen, hat sich seither weiter verschärft, die EU-Aussengrenzen gleichen zunehmend einer Festung.

Ironie der Geschichte: Vor knapp achtzig Jahren war es umgekehrt. Damals waren es europäische Flüchtlinge, die von anderen Staaten abgeweisen wurden (siehe auch „Als Flüchtlinge aus Europa abgewiesen wurden“). Die Situation im Mittelmeer ist heute eine andere, das Prinzip jedoch das Gleiche: Menschen, die in ihrer Heimat keine Perspektive mehr sehen, werden wortwörtlich ausgegrenzt.

 

* * * * *

 

Essay

Paradies im Kopf

Wie zwei Brüder aus Guinea in Richtung Europa aufbrechen,
jedoch nur bis ans libysche Mittelmeerufer gelangen.

 

Nehmen wir Said und Mohamed aus Guinea. Ihr Vater sagte ihnen vor der Abreise, sie sollen vorsichtig sein, und wenn es darauf ankomme, Demut zeigen. Am besten sei der Weg über Libyen. Dort, so hat es der Alte gehört, fahren täglich Schiffe Richtung Norden. Said und Mohamed brechen Ende September auf, viel haben sie nicht dabei: ein paar Geldscheine, einen Rucksack und einen namase, einen kleinen Gebetsteppich.

Die beiden Brüder fahren über Mali und Niger und landen bereits Anfang November in Tripolis. Dort sagt man ihnen, sie sollen Bob kontaktieren, er organisiere die Überfahrt nach Europa. Guter Typ, fair und so.
Bob heisst eigentlich anders und kommt irgendwo aus Nordafrika. Er schwärmt von den schönen Stränden in Europa, den weissen Frauen und vor allem dem Geld. Überall gäbe es Geld dort oben, alles ganz einfach.
Said und Mohamed sind froh, als sie das hören. Denn das Leben in ihrer Heimat ist unerträglich geworden, die Dunkelheit am Horizont zermürbend. Die Situation in Guinea hatte sich nach dem Militärputsch vor ein paar Jahren zwar etwas beruhigt, doch wer täglich um sein Brot kämpfen muss, der hat genügend Grund, sein Land zu verlassen. Deshalb sitzen die Brüder nun neben Bob.

Said verschlägt es dann aber den Atem, als er hört, was die Überfahrt nach Italien kosten soll. Tausend Dollar pro Person in bar. Er kennt sich mit Geld nicht so gut aus, aber sein Vater sagte ihm, dass er für die Ernährung der sechsköpfigen Familie zehn Dollar pro Monat benötige, sprich: tausend Dollar bedeuten für Said und Mohamed über acht Jahre Leben.
Bob sieht, dass Said zweifelt und offeriert den beiden einen Job am Hafen. Fischerwerkzeuge schrubben, er habe da Kontakte. Fünf Dollar am Tag. Und bevor die Brüder antworten, sagt Bob: Ihr arbeitet 200 Tage, danach gehts Richtung Norden.

Said und Mohamed willigen ein. 200 Tage sind knapp sieben Monate. Wenn sie die Lebenskosten niedrig halten – also eine günstige Übernachtungsmöglichkeit finden und wenig essen – dann reisen sie bereits im Sommer nach Europa.
Die Brüder beginnen am nächsten Tag, schuften von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends, sieben Tage die Woche. Die Arbeit ist hart und doch sind sie dankbar. Denn viele der in Tripolis gestrandeten Männer und Frauen, die wie verlorene Tiere durch die Stadt streunen, warten schon seit Wochen darauf, endlich wieder arbeiten zu können. Auch sie wollen nach Europa. Auch sie haben das Paradies im Kopf. (…)

 

Hauptbild: Irgendwo auf der Welt gestrandet: Einer von mehreren Millionen Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden. (Picture Alliance/Deutsche Presseagentur)

 

Wenn Sie weiterlesen wollen, empfehlen wir Ihnen das Probeabo von mutantia.ch. Da sind Sie mit 15 Franken oder 12 Euro dabei und können sich während drei Monaten vergewissern, ob Ihnen unsere Beiträge schmecken oder nicht.