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13. Dezember 2021, Kalifornien, USA

 

Grenzen überwinden für den Umweltschutz

 

 

Liebe Post-PandemikerInnen, 

 

Der Mensch denkt gerne in Grenzen. Und wer will es ihm verübeln? Machen doch Grenzen ein Problem überschaubarer, grenzen es sozusagen ein, machen es klein und bearbeitbar. Zum Beispiel können für kleinere Regionen viel einfacher Stakeholder in den Planungsprozess miteinbezogen werden als für ganze Länder oder gar Kontinente. Auch lassen sich mit Grenzen Verantwortlichkeiten sehr klar definieren. Für diese Kinder, Schmetterlinge, Bäume hier, zum Beispiel, sind wir zuständig, für diese hier drüben nicht.

Schade eigentlich, ist aber nun mal so – denn Grenzen, auch denen, die wir für uns selbst gezogen haben, wohnt etwas Unverrückbares inne. Wann fragen wir uns, ob diese Grenzen, die uns in ihrer Legitimität, ihrer Erprobtheit durch die Zeit, in ihrer Standhaftigkeit anstarren, ihre Gültigkeit, ja ihre Berechtigung verloren haben? Gibt es da vielleicht irgendwo eine App, die wir herunterladen können, die uns neben den Schritten, die wir täglich gehen sollten, auch daran erinnert, unsere Grenzen zu überprüfen? Welche Grenzen oder welche Schatten wir vielleicht mit diesen Schritten überspringen sollten? An und über unsere Grenzen zu gehen, ist in vielerlei Hinsicht grenz-wertig, mutig, vielleicht auch verrückt, aber sicherlich eher ein Ausnahmezustand. Ich denke an die Montagsdemonstrationen in der DDR, Bloody Sunday, Tiananmen Square und viele andere Grenzgänger.  

Allerdings ist es mit der Pandemie wie mit dem Wasser oder dem Klimawandel. Es liegt in ihrer Natur, sich nicht zwingend innerhalb derjenigen Grenzen aufzuhalten, die Menschen für sie gezogen haben. Diese GrenzenzieherInnen sind natürlich vor allem Menschen, die das Sagen haben. Seit Pandemiebeginn haben wir gelernt, die Welt neu einzuteilen. Da sind zuerst einmal sichere Zonen. Sichere Zonen, das waren die Bereiche, in welchen wir uns meistens wähnten, obwohl wir uns nie genau Gedanken gemacht hatten, wo denn nun die Grenzen um unsere sicheren Zonen verlaufen. Unsichere Zonen mit Versorgungsmangel, unvorbereiteten Gesundheitssystemen, Einschnitten in die Bewegungsfreiheit und Unruhen waren in einer vor-pandemischen ersten Welt wohl-dokumentierten Abenteuerurlauben und Studienfahrten vorbehalten. Mit dem Ausbruch des Coronavirus und seiner Entwicklung zur weltweiten Pandemie drangen unsichere Zonen bis weit hinter die Schranken bürgerlicher Wohlsituiertheit vor, und haben unser Weltbild sehr schnell ins Schaukeln gebracht.  

Mit dem schnellen Wechsel der Grenzen zwischen sicheren und gefährlichen Zonen wechseln auch eine Menge Bestimmungen darüber, mit wem wir uns treffen dürfen, wie wir dabei bekleidet sind, wie wir uns verhalten müssen, ob unsere Kinder in die Schule können oder über welche Grenzen wir reisen dürfen. Mit verblüffender Geschwindigkeit haben wir uns an dieses komplizierte Regelwerk und die damit einhergehenden Einschränkungen gewöhnt, auch bei uns in den USA. Hier in Kalifornien etablierte sich sogar ein gewisser Übereifer in der Regelbefolgung: Familien, die mit ihren Kindern nicht mehr in öffentliche Parkanlagen gingen, die Desinfektion von einzelnen Einkaufswagen für einzelne KäuferInnen, genau markierte Wege und lange abstandsbewusste Menschenschlangen, wo immer man sich im öffentlichen Leben bewegte.

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Zur Autorin

Iris Stewart-Frey wurde in Frankfurt am Main geboren und wuchs im Rheingau-Taunus Kreis auf. Nach dem Abitur plante sie einen einjährigen Aufenthalt in Kalifornien. Mehr als 30 Jahre später lebt sie – nach längeren Unterbrechungen in Mexiko, Hawaii und Deutschland – immer noch dort mit Mann, zwei Söhnen, Hasen, Meerschweinchen und Biogarten. In Kalifornien engagierte sie sich in Umweltorganisationen, bei den Grünen, und im biodynamischen Anbau. Reisen brachten sie zu den verschiedensten Menschen, Wüsten und Wasserfällen. Themen, die sie seit dem beschäftigen, sind die nachhaltige Nutzung unserer natürlichen Ressourcen, der Klimawandel, die Natur des Menschen, sein Verhalten zu nicht-humanen Spezies, Agroökologie, Sinn, Gerechtigkeit, Verantwortung und Spiritualität. Seit 2007 ist sie Professorin für Umweltwissenschaften an der Santa Clara University in Kalifornien. Ihre Forschung und Lehre beschäftigen sich mit dem Einfluss des Klimawandels und der industriellen Landwirtschaft auf Flüsse, Grundwasser und Zugang zu Wasser im Westen der USA und Zentralamerika. Sie ist Mitbegründerin der Environmental Justice and the Common Good Initiative an der Santa Clara University und des Northern California Networks for Academic-Community Partnerships for Environmental Justice.  

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Während sich diese Anfangshysterie glücklicherweise gelegt hat, fühle ich mich weiterhin in einem Zustand des Erstaunens. Mir drängen sich ein paar Fragen auf, zum Beispiel, was dieses ganze Desinfektionsgel mit unserer Umwelt und unseren Immunsystemen macht; woher auf einmal das ganze staatliche Geld für Fluggesellschaften kommt, das wir nicht für die Energiewende oder den Regenwald haben; in welches Zauberland eigentlich einzeln in Folie eingepackte Masken nach einmaligem Gebrauch verschwinden, oder wie es sein kann, dass Menschen sich von einem Tempolimit 100 oder einem fleischfreien Tag in der Kantine in den grundlegendsten Bürgerrechten eingeschränkt fühlen, obwohl sie weder Autobahn fahren noch Arbeiten, die gleichen Menschen aber mit den Coronaauflagen kein Problem haben? Oder die Frage, warum wir denn nicht ähnlich radikal umdenken, Grenzen verschieben, Regeln ändern, Bildung auf den Kopf stellen und die Wirtschaft hinten anstellen, wenn es um das Klima, das Wasser und den Artenschutz geht? Ist das vielleicht etwas, was die Pandemie uns mit gnadenloser Offenheit vorgeführt hat? Wenn wir wirklich wollten, ja, dann könnten wir eigentlich auch, oder? 

Einmal sah ich eine Dokumentation über das Leben der Navajo, die ihre Kultur und Lebensweise über hunderte von Jahren aus den geschliffenen Steinen und der Hitze des Südwestens der USA geschmiedet haben. Ein Stammesältester demonstrierte, wie seine Großmutter täglich das Geschirr wusch. Sie rieb es langsam, sehr langsam, immer wieder mit Sand ab. Nur ganz am Ende nahm sie einige wenige Tropfen des kostbaren Wassers, um den letzten verbliebenen Staub abzuwaschen. Dieser Prozess war ein Ritual, das sich täglich wiederholte und sich aus der Wasserknappheit entwickelt hat, die in diesem Teil der Welt natürlicherweise besteht und von den europäischen Einwanderern für die Ureinwohner noch drastisch verschlimmert wurde. Sie war aber auch geprägt von einer tiefen Verbindung mit dem, was im tiefsten Sinne das Leben erhält, eingebettet in eine Philosophie, die nicht zwischen Deinem und Meinem eine Grenze zog, sondern an Verbindungen dachte, an Unser und Wir.

Ganz Kalifornien ist – wieder einmal – in einer Dürre, nur scheint es noch nicht in unser kollektives Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Normalerweise fällt im Grossteil von Kalifornien von Mai bis Oktober kein Tropfen Regen. Dies ist aber keine Dürre, sondern heisst bei uns einfach Sommer. Eine Dürre haben wir jetzt also nicht, weil es im Sommer warm und trocken war, sondern weil es auch im Winter, wenn wir versuchen, die Wasserspeicher volllaufen zu lassen, so gut wie nicht geregnet hat. Letzten Winter nicht und diesen Winter bisher auch noch nicht. Der grösste Teil von Kalifornien, vor allem da, wo viele Menschen leben und viel industrielle Landwirtschaft betrieben wird, ist in einer Extrem- oder sogar Ausnahmedürre. Im Klartext heisst das, dass die Grundwasserspiegel extrem absinken und Brunnen trocken liegen. Denjenigen, die nur untergeordnete Wasserrechte besitzen, wird der Hahn abgedreht. Zu den Folgeerscheinungen gehört, dass Felder brach liegen und Wälder austrocknen, was auf Jahre Baumsterben und generelle ökologische Katastrophen nach sich ziehen kann. 

 

„Einige dieser ausgegrenzten Kommunen sind bis heute nicht an öffentliche Wassersysteme angeschlossen, sie beziehen ihr Wasser von Brunnen und daran angeschlossenen kleinen Wassersystemen für ein paar Dutzend Leute. Die Ressourcen für Qualitätskontrolle fehlen meist,
so dass viele der Anwohner Wasser trinken, das mit Nitraten, Salzen, und Pestiziden verschmutzt ist.“

 

Es ist ein viel zu warmer Sonntag, der 2. Advent. Draussen hängen noch die letzten Granatäpfel und Persimonen an den Bäumen. Die Schlagzeilen drehen sich um Omikron, Waffengewalt, Sport und Hundeadoptionen. Nach den Nachrichten über Wasser, Klima, Dürre oder Natur muss ich suchen. Die San Francisco Bay Area ist voll von umweltbewussten Menschen und Outdoortypen: Triathleten, Kletterer, Paddler, Windsurfer, Wanderer, Skifahrer und Radler, die sich wochenendweise auf Berge, Steige, Flüsse, Pfade, Wellen schwingen, meist mit der neuesten Ausrüstung bestückt. Sie ist auch eine der reichsten Gegenden der Welt, und brüstet sich gerne als Zentrum des technischen und netzwerkelnden Erfindungsreichtums. Firmen wie Google und Tesla sind aus diesem Geflecht von Geld, Phantasie, Arbeitswut und unbeschränktem Grössenwahn erwachsen.  

Weniger als zwei Autostunden von dieser glitzernden Metropole entfernt, im Central Valley Kaliforniens, gibt es Kommunen, denen jahrelang verweigert wurde, sich an oft nahe gelegene Städte anzuschliessen. Die Grenzen zwischen den Kommunen, die angeschlossen sind, und denjenigen, die es nicht sind, verlaufen oft mitten durch eine Strasse. Auf dieser Seite ja, dort drüben leider nicht. Die Gründe für diese Verweigerung lagen oft darin, dass die projizierten Steuereinnahmen dieser Niederlassungen als nicht ertragreich genug angesehen wurden, um die Ausgaben für Infrastruktur zu rechtfertigen. Die meisten Bewohner dieser Kommunen sind Landarbeiter oder ihre Nachkommen, meist Migranten aus Zentralamerika.
Die jeweils erste Generation schuftete in den Feldern ohne legalen Aufenthaltsstatus, ohne Gesundheitsversorgung, und ohne Schutz vor Ausbeutung – und tut dies auch heute noch. Einige dieser ausgegrenzten Kommunen sind bis heute nicht an öffentliche Wassersysteme angeschlossen, sie beziehen ihr Wasser von Brunnen und daran angeschlossenen kleinen Wassersystemen für ein paar Dutzend Leute. Die Ressourcen für Qualitätskontrolle fehlen meist, so dass viele der Anwohner Wasser trinken, das mit Nitraten, Salzen, und Pestiziden verschmutzt ist. Wenn sie denn überhaupt Wasser in den seichten Brunnen haben. Alleine in diesem Dürrejahr sind über 700 Brunnen im Central Valley eingetrocknet.

Nicht nur die Aquifere des Central Valley werden ausgesaugt, auch die Oberflächengewässer der Flüsse aus der Sierra Nevada werden systematisch geschröpft. Die Einzugsgebiete dieser Flüsse, aus denen San Francisco, San Jose, Los Angeles und San Diego trinken und ihre Rasen wässern, liegen hunderte von Meilen von den Orten entfernt, wo ihr Wasser die Zivilisationen des 21. Jahrhunderts ermöglichen. Durch diese Einzugsgebiete gehen die Grenzen der Menschen für Städte und Landkreise (Counties), die Grenzen der Wasser- und Bewässerungsdistrikte, die respektiv die Städte und die Landwirtschaft bedienen. Wie es dabei um den Wasserhaushalt eines Flusses oder eines Aquifers steht, ist oft Nebensache, da man sich per Gesetz nur um das kümmern kann, was in den eigenen Grenzen passiert und man möglichst wenig weiter nach unten, zum nächsten Nachbarn laufen lassen will.  

 

„Es gab für mich in den letzten 20 Monaten viele Momente des Wunderns darüber,
was auf einmal möglich war. Oft musste ich mich kneifen, um zu testen,
dass ich wirklich wach war, und nicht vor Erschöpfung in den Schlaf gesunken
war oder eine von Mark Zuckerberg neuen Realitäten vorgeführt bekam.“

 

Vor kurzem habe ich das Original einer der ersten europäischen Karten des Staates Kalifornien besichtigen können. Im Süden des Central Valley ist darauf ein riesiger See eingezeichnet, Tulare Lake. Dieser See, zusammen mit den Feuchtgebieten, die von der Stadt Chico im Norden bis nach Bakersfield im Süden existierten, erhielt äußerst fruchtbare und artenreiche Ökosysteme. Frühe spanische Berichte sprechen von Millionen von Vögeln, Antilopen, und anderem Wild. Sie, die es Jahrtausende lang gab, sind innerhalb von 100 kurzen Jahren des weißen Raubbaus an der Natur verschwunden. Ihre Lebensgrundlage ist wortwörtlich eingetrocknet. Und dieser Raubbau geht unvermindert weiter.
Wasserrechte, ausgegeben in den Zeiten des Goldrush, übertrumpfen die Bedürfnisse der Ökosysteme. In diesem Moment wehrt sich die Wasserbehörde von San Francisco, die auch noch einen guten Teil der nördlichen Bay Area beliefert, gegen eine Regelung, die den Lachsen im Tuolumne River ein Mindestmaß an Wasser zugestehen würde, auch in Dürrezeiten. Diese Lachse waren tausende von Jahren die Lebensgrundlage der Indigenen der Region, sie erfüllen wichtige ökologische Funktionen, tragen Nährstoffe von den Ozeanen in die obersten Regionen der Flusseinzugsgebiete. Nur an den Betonmauern und Grenzen der Menschen scheitern sie, und an den künstlich herbeigeführten niedrigen Wasserständen. 
 

Es gab für mich in den letzten 20 Monaten viele Momente des Wunderns darüber, was auf einmal möglich war. Oft musste ich mich kneifen, um zu testen, dass ich wirklich wach war, und nicht vor Erschöpfung in den Schlaf gesunken war oder eine von Mark Zuckerberg neuen Realitäten vorgeführt bekam.
Eine der Fragen, die uns Umweltwissenschaftler nachts nicht schlafen lässt, ist, warum wir als Menschheit nicht bereit sind, die Phantasie, den Mut, die Energie, das Geld für grundlegende Änderungen aufzubringen. Nicht möglich, nicht gewollt, zu viel Wandel, zu schnell, kein Geld sind die üblichen Argumente. Den Flugverkehr aus Klima- oder Umweltschutzgründen auf das Nötigste zu beschränken, den Autoverkehr herunterzufahren, von zuhause zu arbeiten und die Wirtschaft umzustrukturieren waren vor Corona für die erste Welt unvorstellbar. Woran liegt es nun, dass sich diese Argumente jetzt innerhalb von Wochen als hohler herausgestellt haben als Trumps Wahlkampfreden? Wie kommt es, dass Corona uns nun mehr beschäftigt als das Artensterben und die Klimakrise? Vielleicht daher, dass unsere während der Pandemie vielbeschworene Solidarität eigentlich doch nur uns selbst und unseren Lieben gilt?

Es sind die Armen dieser Welt, die heutzutage hauptsächlich die Klimakrise und den Wassermangel zu spüren bekommen, wir anderen können uns jetzt noch herauskaufen – Bollwerke errichten, ausgedehnte Wasserspeicher bauen, Nahrungsmittel einfliegen. Wir selbst haben wenig Motivation zu verzichten für ein bisschen weniger Klimawandel im fernen Jahr 2050. So sehr die Pandemie uns erlaubt hat den Fokus von eigentlich noch wichtigeren Problemen zu nehmen, hat sie uns auch gezeigt, wie viel in kürzester Zeit möglich ist, wenn wir uns erlauben Grenzen zu hinterfragen – diese Grenzen, die Wassereinzugsgebiete und Regenwälder zersplittern und ausbeuten, die Art von Grenzen, die uns daran hindern, Menschen mit einzubeziehen, und jede Grenzen, die wir in unserem eigenen Kopf gebaut haben und die uns daran hindern, das Unmögliche zustande zu bringen.  

Ich freue mich auf den Austausch mit Euch und grüsse aus Kalifornien,  

Eure Iris 

 

Foto: Joachim Frey

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