Kriege, Nobelpreise und Schikanen: Wie es die Industrie geschafft hat, dass synthetische Pestizide unseren Alltag bis heute prägen und was die betroffenen Nachbarn dagegen unternehmen. Teil zwei des Kapitels „Ich habe zwei Jahre neben Pestiziden geschlafen“ aus dem Buch „Hände der Transition“.
Während ich meine Recherche damals 2012 aus Selbstschutz vorübergehend einstellte, machte meine Kollegin Ute Scheub weiter. Die Journalistin aus Berlin ging dem Thema auf den Grund und veröffentlichte ihre Recherche 2014 im Buch “Ackergifte? Nein Danke!”. Bereits im ersten Kapitel, aus dem ich gleich zitieren werde, macht sie klar, warum die Verbindung zwischen Landwirtschaft und den natürlichen Zyklen der Natur getrennt wurde. “Schon Rachel Carson (1) sprach vom Krieg gegen die Natur, einem ‘chemischen Krieg’, und wies darauf hin, dass die Pestizidindustrie ‘ein Kind des Zweiten Weltkriegs’ sei. Ja, Pestizide sind ein Kind der Weltkriege. (…) Die Chemiker seien von ‚Allmachtsgefühlen‘ getrieben gewesen, von ‚messianischem Eifer und bedingungslosem Fortschrittsglauben‘, der ihnen den Aufbau von Weltkonzernen ermöglichte, schreibt der Solarchemiker Hermann Fischer. Zu diesem ‚Fortschrittsglauben‘ gehört lineares Denken, das unfähig ist, vernetzte Zusammenhänge zu begreifen und das sich in natürlichen Kreisläufen entwickelnde Leben zu achten. Verwüstungen des Denkens produzierten bald auch Verwüstungen auf dem Schlacht- und Ackerfeld. ‚Chemieindustrie war Imperialismus in Reinkultur‘, erklärt Fischer, Begründer der Biofarbenfirma Aura. (…) Die Sprengstoffgewinnung vor und im Ersten Weltkrieg bildete die Grundlage für die spätere Kunstdüngerindustrie und aus der zeitgleichen Giftgasproduktion wurden später Pestizidfabriken. 1910 meldeten Fritz Haber und Carl Bosch das nach ihnen benannte Haber-Bosch-Verfahren zum Patent an. Es ermöglichte die Gewinnung von Salpeter für die Herstellung von Schwarzpulver aus den beliebig verfügbaren Grundstoffen Luft, Kohle und Wasser. Dasselbe Verfahren diente später zur Massenproduktion von Ammoniak für Kunstdünger. Professor Haber, Berater im Kriegsministerium, schlug dem Deutschen Reich darüber hinaus die Produktion der Giftgase Chlor und Phosgen als Massenvernichtungsmittel vor und verherrlichte sie als ‚eine technisch höhere Form des Tötens‘ (…). 1915 pries der Chef der Farbenfabrik Bayer, Carl Duisberg, der Obersten Heeresleitung das Lungengift Phosgen als weiteres Mittel an und empfahl, ‚stundenlang den Gegner mit diesem giftigsten aller gasförmigen Produkte zu behandeln.‘ Im selben Jahr wurde Phosgen zum ersten Mal eingesetzt und erzeugte ‚zu viele Tote, um sie alle zu begraben‘. (…) Faktisch waren die chemischen Kampfstoffe ohne strategische Bedeutung, dennoch wurden sie ausprobiert – ein Massentest am lebendigen Menschenmaterial. Fritz Haber erhielt 1919 den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Ammoniaksynthese. Wenig später schlug er vor, ein Institut zur Weiterentwicklung chemischer Waffen zu gründen: ‚Indem wir die Erfahrungen, die wir im Krieg gesammelt haben, im Frieden gegen die Schädlinge unseres Feldbaus zur Anwendung bringen, machen wir aus Mitteln zur Vernichtung Quellen neuen Wohlstands.‘ Unter Verstoß gegen die Abrüstungsbestimmungen im Versailler Vertrag – und deshalb unter hoher Geheimhaltung – trieb die Heeresleitung die Entwicklung von C-Waffen in den Labors der deutschen Chemieindustrie weiter voran. (…) Dass mit ‚Schädlingen‘ auch menschliche ‚Schädlinge‘ gemeint waren, demonstrierten die Nazis in Auschwitz. Die IG-Farben beutete KZ-Gefangene als Arbeitssklaven aus; gleichzeitig wurden dort ‚Volksschädlinge‘ und ‚Parasiten‘ mit dem Insektizid Zyklon B vergast, das die zum IG-Farben-Konzern gehörende ›Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung‹ (Degesch) hergestellt hatte. Degesch-Geschäftsführer Gerhard Peters wurde nach dem Krieg zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, die er nicht abzusitzen brauchte. Fritz ter Meer, Vorstandsmitglied der IG-Farben, der Auschwitz zweimal persönlich besucht hatte, erhielt sieben Jahre Gefängnis und wurde danach Aufsichtsratsvorsitzender der Bayer AG, die aus der Auflösung der IG-Farben hervorgegangen war. ‚In Wahrheit ist die westliche Landwirtschaft eine Landwirtschaftdes Kriegs, kommentiert Dominique Guillet, Gründer des Vereins ‘Kokopelli’ (2), im Film ‚Good Food, Bad Food‘. Im Ersten Weltkrieg sei das französische und das deutsche Bauerntum an der Front abgeschlachtet worden, der Zweite Weltkrieg habe dieses Werk vollendet, sagt er. Die synthetische Gewinnung von Ammoniak habe die Produktion von Bomben und Kunstdünger ermöglicht, aus Kampfgasen seien Insektenvernichtungsmittel hervorgegangen, aus Panzern Traktoren.“ In der Zwischenzeit erlaubten die Eliten nicht nur die Entwicklung von weiteren synthetischen Chemikalien für die Agrarindustrie, sie lobten sie auch weiterhin in den Himmel. Denn nach Fritz Haber bekam auch Paul Hermann Müller von Syngenta (damals J.R. Geigy AG) den Nobelpreis für Medizin für seine Entdeckung von DDT (1948). Alles, was die landwirtschaftliche Produktion der Nachkriegszeit erhöhte oder “schützte”, galt als legitim. Die Industrie nutzte die Befürchtungen der Bevölkerung, erneut Hunger leiden zu müssen, propagierte den unverfänglichen Namen „Pflanzenschutzmittel“ und bereitete damit das Feld für die “grüne Revolution” vor. Ab den 1960er Jahren begannen die Bauern in Europa immer mehr von der chemischen Industrie abhängig zu werden. Diese versorgte sie mit synthetischen Düngemitteln, Insektiziden, Fungiziden und Herbiziden. Insektizide in der Muttermilch DDT – ursprünglich für die Bekämpfung von Malaria erfunden – war dabei eines der prominentesten Produkte. In den 1950er Jahren wurde es zunächst hochgejubelt, Mitte der 1970er Jahre jedoch verboten. Auch dank der Proteste von Rachel Carson und anderen Umweltschützern, die auf die Auswirkungen der Chemikalie aufmerksam gemacht hatten. Denn DDT gelangte in den Nahrungsmittelkreislauf und tötete nicht nur Larven, Käfer und Wanzen, sondern auch jene Lebewesen, die sich von ihnen ernährten: also Nagetiere und Vögel. Ausserdem verendeten tausende Fische wegen des verseuchten Grundwassers. Und da sich DDT auch im menschlichen Fettgewebe ablagert, gelangt es über die Muttermilch in die Körper der Babys. In den Böden Europas und auf dem amerikanischen Kontinent können die Spuren von DDT bis heute nachgewiesen werden. Die “Massentests am lebendigen Menschenmaterial” wie es Kollegin Ute Scheub in ihrem Buch beschreibt, finden bis heute statt und die betroffenen Nachbarn von Monokulturen – egal ob Bananen in Ecuador, Mais in Brasilien oder Baumwolle in Indien – werden von jenen, die die Spielregeln definieren, nicht gehört. Oder ignoriert. LEGENDEN (1) Rachel Carson (1907-1964) war Meeresbiologin und Schriftstellerin. Ihr Buch “Stummer Frühling” brachte die Problematik der Pestizide erstmals grossflächig aufs politische Parkett und gehört bis heute zum Standartwerk für Umweltaktivisten. (2) Kokopelli ist ein französischer Verein zur Förderung der Kulturpflanzenvielfalt und produziert selber Bio-Saatgut. Hauptbild: Ein Bild aus vergangenen Zeiten? Undatierte Aufnahme einer Pestizid-Sprühung in den USA (Quelle: blog.foodassembly.com).Wenn Sie weiterlesen wollen, empfehlen wir Ihnen das Probeabo von mutantia.ch. 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