„Muss ich um Erlaubnis bitten, etwas gutes zu tun?“

Carmen Carcelén empfängt Reisende aus der ganzen Welt, im Moment vor allem Migranten aus Venezuela. Über 10‘000 von ihnen haben bereits bei ihr Zuhause übernachtet und sind verpflegt worden. Doch ihre Hilfsbereitschaft ist den ecuadorianischen Behörden ein Dorn im Auge.

24. Juni 2019 – El Juncal, Ecuador. – Die halboffene Metalltür am Eingang deutet es an. Die Frühaufsteher haben die Herberge von Carmen bereits wieder verlassen und sind weitermarschiert Richtung Süden. Peru, Chile, Argentinien. Alle reisen sie zu Fuss und tragen das, was sie haben am Körper oder in der Hand. In der Regel ist das nicht viel. Zwei oder drei T-Shirts, Unterwäsche und Socken, eine Hose, eine Jacke, ein Handy, eine Decke für die Nacht, das Nötigste für die Körperhygiene.

Weiter hinten, beim Vordach des Hauses, hat sich Elvis auf die Steinmauer gesetzt und bindet seine Turnschuhe. Daneben seine beiden Cousins, der jüngere ist gerademal siebzehn. Wie lange ist‘s nach Quito, will Elvis wissen. Zwei bis drei Tage, antworten wir. Seine Augen weiten sich: So lange? Die ecuadorianische Haupstadt liegt rund 150 Kilometer von El Juncal entfernt. Im Bus sind es fünf bis sechs Stunden, im Auto weniger. Doch zu Fuss und nach mehreren Wochen Marsch?

Elvis ist am Vortag hier angekommen, die Mütze tief im Gesicht, sein Hab und Gut auf den Schultern. Während die Anderen den Reis und die fritierten Eier atemlos ins sich hineinschaufelten, kaute der 31-Jährige gemächlich vor sich hin. Bevor er weitergezogen sei, erzählte Elvis, habe er in Bogota auf Baustellen gearbeitet und Kaffee an der Strasse verkauft. Was Ende Monat übrigblieb, schickte er an seine Frau in Venezuela. Sie hätten vor kurzem einen Hundewelpen adoptiert, das würde den Kindern guttun. Allerdings wissen sie nicht, ob sie den Hund behalten können. Das Geld reicht kaum für‘s eigene Überleben.

Noch ein Selfie vor dem Weitermarsch

Da tritt Carmen aus dem Haus und blickt in die wach werdenden Männergesichter. Sie trägt eine schwarze Bluse, eine Perlenkette und passende Ohrringe. Kopftuch und Gummistiefel sind geblümelt, die Haut ihrer Hände trocken von der Arbeit. Sie will ihren Gästen noch ein paar Worte mit auf den Weg geben. Es sind die Worte einer achtfachen Mutter, die seit dreissig Jahren verheiratet ist und in der lokalen Kirche die erste Stimme singt. „Werdet euch bewusst, was ihr im Leben wollt“, sagt die 48-Jährige und blickt zu Boden. „Denkt daran, Ecuador ist ein sehr kleines Land und überall schauen die Leute mit Adleraugen auf euch. Die Polizei wartet nur darauf, dass ihr einen Fehler macht und sie einen Grund haben, euch wegzusperren“. Dann klatscht sie in die Hände, sagt noch ein paar Worte zum Abschied und wendet sich ihren anderen Aufgaben zu.

Es ist kurz vor acht und Elvis‘ Gruppe ist bereits weg. Junior dagegen, der Junge mit dem ärmellosen Leibchen und den Badehosen, will vor dem Abmarsch noch ein Selfie machen. Seine Familie soll wissen, wie es ihm geht und mit wem er zusammen ist. Der junge Mann legt den Arm um die Schultern von Carmen und lächelt. Ein paar Tage später steht das Bild auf Facebook. (…)

 

Hauptbild: Keine Drogen und keine Waffen: Carmen Carcelén erklärt einer Gruppe Männern aus Venezuela die Hausregeln (Alejandro Ramírez Anderson).