“In Europa heisst ‘gutes Leben’ heute Fleisch und fliegen”

Ulrich Brand ist Co-Autor des Bestsellers “Imperiale Lebensweise”. Im Interview spricht der Politikprofessor über das koloniale Selbstverständnis des Nordens, über Zivilisationskrisen im Süden und was die Arbeitskämpfe in China mit unseren Kleidern zu tun haben. Und er erklärt, warum man aus der imperialen Lebensweise nicht einfach so ausbrechen kann. 

Quito, Ecuador – Zwei transkontinentale Flüge pro Jahr – öfters möchte Ulrich Brand nicht ins Flugzeug steigen. Zur Entschleunigung aber auch aus politischen Gründen. Schliesslich ist Fliegen und der damit verbundene Rohstoffverbrauch Teil seiner Kritik, die er zusammen mit Markus Wissen von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin im Buch “Imperiale Lebensweise” zusammengefasst hat. Doch Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Univesität Wien, gehört zu den Pragmatikern unter den Kapitalismuskritikern. Man müsse die Realität in ihren Widersprüchen erfassen, betont er immer wieder. “Sonst packst du das Schicksal zu sehr auf deine eigenen Schultern und überdrehst irgendwann wie einige Leute aus der 68er Bewegung.”

Der 51-Jährige reiste kürzlich nach Ecuador, um unter anderem sein neues Buch vorzustellen (“Radikale Alternativen – Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann”), das er mit dem ecuadorianischen Ökonom und Politiker Alberto Acosta geschrieben hat.

Einen Tag vor seiner Rückreise nach Europa traf ich ihn in Los Quipus, einem Drei-Sterne-Hotel im Zentrum von Quito. Ulrich Brand, grossgewachsen und mit einem roten Holzfäller-Hemd bekleidet, setzt sich an einen der Holztische im Speisesalon und legt ein Stück Papier drauf. Es wird ihm helfen, die Gedanken seines Gesprächspartners festzuhalten, auf diese er im Laufe des Dialogs zurückkommen sollte.

Ulrich Brand, wenn wir uns im Salon Ihres Hotels ein wenig umschauen: Wo erkennen Sie hier die imperiale Lebensweise?

Hier eigentlich gar nicht. Klar sind wir in einem Hotel im Kolonialstil, in dem nur Leute aus der oberen Mittelklasse übernachten können, die Nacht kostet hier zwischen vierzig und sechzig Dollar …

…was für die meisten Ecuadorianer ziemlich viel Geld bedeutet.

Schon, doch das Ausmass der imperialen Lebensweise wird erst richtig sichtbar, wenn man auf die Strasse tritt. Die Anzahl der Autos ist unglaublich! Ich bin zum fünften Mal in Quito und der Individualverkehr hat noch einmal zugenommen, insbesondere bei den SUV. Das Imperiale erkennt man auch, wenn man auf den Markt geht. Da siehst du relativ schnell, dass viele Produkte wie Äpfel oder Garnelen aus den Nachbarländern, Elektrogeräte und sogar einige Textilien aus Asien kommen.

Sie flogen mit dem Flugzeug von Europa nach Lateinamerika, lehren an der Universität Wien und verdienen Euros. Ich lebe in Ecuador, werde für dieses Interview in Schweizer Franken bezahlt und profitiere dadurch von den niedrigen Lebenskosten hier. Die imperiale Lebensweise hat unseren Alltag doch längstens imprägniert.  

Natürlich kommen wir aus der imperialen Lebensweise nicht einfach so raus, das ist ja eine Struktur. Ich lebe nun mal in Wien und das Leben in  Wien ist schon wegen der Infrastruktur ressourcenintensiv. Auch müsste ich nicht nach Lateinamerika, um mir dieser Probleme bewusst zu werden. Ich könnte ja alles lesen. Aber die zwei Wochen in Ecuador machen etwas mit mir. Ich kenne mich doch besser aus, wenn ich mindestens einmal im Jahr hier bin, mit KollegInnen spreche und den Alltag erlebe.

 Da nehmen Sie den inneren Widerspruch in Bezug auf die imperiale Lebensweise in Kauf.

Ich habe einen offenen Widerspruch! Durch meine Arbeit könnte ich noch öfters fliegen: nach Südafrika, nach China nach Indien. Doch ich habe mir gesagt, dass zwei transkontinentale Flüge pro Jahr genug sind. Damit kann ich konzentriert meiner wissenschaftlichen Arbeit in Wien nachgehen, mich politisch engagieren, halte meinen ökologischen Fussabdruck in Grenzen und komme nicht in Stress. Die innere Ruhe spielt für mich ebenfalls eine Rolle.

„Es braucht eine politische Durchsetzung, keine moralische.“ Ulrich Brand, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Wien, hier an seiner Buchvorstellung in Quito, Ecuador.

BILD: Rosa Luxemburg Stiftung, Büro Andenländern 

Sie erwähnten die Struktur der imperialen Lebensweise. Was bedeutet das? 

Die Struktur der imperialen Lebensweise schafft gesellschaftliche Bedingungen, aus denen wir normalerweise nicht einfach aussteigen können. Natürlich können wir etwas verantwortlicher arbeiten oder konsumieren, aber dies alleine ändert nicht viel an den Bedingungen. Imperiale Lebensweise – genauer heisst es imperiale Produktions- und Lebensweise – bedeutet immer auch kolonial, das ist hier in Ecuador sichtbarer als in Deutschland. Und die kolonialen Strukturen sind drei- bis vierhundertjährig. Mit dem Buch wollen wir die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus, Globalisierungsdynamiken und den verschiedenen Phasen des Kapitalismus aufzeigen, also die Zusammenhänge der heute herrschenden Gesellschaftsordnung.

Können Sie ein Beispiel machen?

Im 19. Jahrhundert bezog die Schwerindustrie Rohstoffe wie Holz, Kohle und Eisenerz noch vorwiegend aus Europa. Dies änderte sich mit dem Erdöl als Energieträger zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei die kolonialen Strukturen diesen Prozess vereinfachten. Nach den Weltkriegen erfuhr der Kapitalismus durch Massenproduktion und Massenkonsum einen weiteren Schub. Die etablierten Konsummuster, einst für die Oberschicht reserviert, begannen sich bis in die unteren Bevölkerungsschichten zu manifestieren.

Mit anderen Worten: Was einst Königen, Präsidenten und der Industrieriege vorbehalten war, ist heute für eine breite Masse zugänglich.

Genau. Der Zugriff auf billige Arbeitskräfte und billige Ressourcen ausserhalb Europas macht die imperiale Lebensweise erst möglich. Denn ohne diese müssten wir selber schauen, wie wir zu Metallen, Maschinen und Lebensmitteln kommen, etwa durch nicht-imperialen Handel und damit deutlich höheren Preisen. Im Globalisierungsprozess mit Hightech, internationalistischer Nahrungsmittelproduktion und billigen Klamotten vertieft sich die imperiale Lebensweise, die sich mittlerweile bis in die Mittelschichten des Globalen Südens gepflügt hat. In Lateinamerika war das bereits in den 1950er und 1960er Jahren der Fall, heute sind es Länder wie Indien oder China. Darin liegt eine unglaubliche Wucht der Ressourcennutzung und der kapitalistischen Dynamik.

Sind sich die Menschen in den Industriestaaten zu wenig bewusst, dass ihre Lebensweise eng mit der Unterdrückung und Versklavung in den Ländern des Südens zusammenhängt und sie deswegen mitverantwortlich dafür sind?      

Klar, das spielt keine Rolle. Marx hatte bereits gesagt, dass bei den Waren, die wir kaufen, die ökologischen und sozialen Bedingungen der Produktion nicht ersichtlich sind. Aber wenn in China unser Handy produziert wird oder die Mineure in Kolumbien Kohle für den europäischen Markt von Hand rauspickeln, dann steht das in direkter Beziehung zu unserem Konsumverhalten. Es mag diesbezüglich ein Nicht-Wissen geben, aber eigentlich verfügen Länder wie Deutschland, Österreich oder die Schweiz über genügend Informationen. Daher kann man durchaus auch von Zynismus oder bewusster Ignoranz sprechen.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass wir bezüglich Mobilität noch mehr ans Umweltbewusstsein der Menschen appellieren müssen. Viel eher müssen die Infrastrukturen geschaffen werden, um uns in Europa ohne Flugzeuge bewegen zu können.“

Dazu passt eine Studie des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, die Sie in ihrem Buch zitieren. Gutausgebildete aus der Mittelschicht mit grossem Umweltbewusstsein, so heisst es, sind gleichzeitig die grössten Ressourcenverbraucher. Wie erklären Sie sich das?

In Bezug auf den Umweltschutz kann das Bewusstsein unter Umständen eine Rolle spielen. Doch es bedeutet nicht per se, dass diese Menschen auch umweltbewusster agieren. Wenn die Leute 3.000 bis 4.000 Euro netto verdienen, dann gehen sie am Wochenende vielleicht auf den Bauernmarkt und kaufen sich ökologische Produkte, fliegen aber zwei bis drei Mal im Jahr in den Urlaub.

Also ein eher oberflächliches Verständnis von Umweltschutz. 

Es gibt einen Unterschied zwischen objektiven Gründen, warum ich mich ressourcenintensiv verhalte, und subjektiven Wünschen. Wenn jemand mit seinen Kindern auf dem Land lebt, aber in der Stadt arbeitet und keine guten ÖV-Verbindungen hat, dann ist sie oder er auf das Auto angewiesen. Aber wenn du zwei, drei Mal im Jahr in den Urlaub fliegst – worauf du ja verzichten kannst – dann ist das etwas anderes. Du kannst von Wien aus ja auch mit dem Bus oder Zug nach Kroatien.

Hängt dieses Paradoxon mit der Unsichtbarkeit unseres Rohstoffverbrauchs zusammen?

Für viele ist es einfach eine Selbstverständlichkeit. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass wir bezüglich Mobilität noch mehr ans Umweltbewusstsein der Menschen appellieren müssen. Viel eher müssen die Infrastrukturen geschaffen werden, um uns in Europa ohne Flugzeuge bewegen zu können. Denn letztlich ist es eine Frage des attrativen, sicheren und preiswerten Angebots.

Das Errichten neuer Bahnlinien bedarf doch ebenfalls Rohstoffen.

Klar brauchen wir eine Anfangsinvestition, die höher und ressoursenintensiver ist. Doch langfristig lassen sich so der Individual- und Flugverkehr zurückfahren. Im Moment sind die Flüge derart günstig, dass vergleichsweise wenig Leute mit dem Zug fahren. So kommt es, dass Nachtzugverbindungen wie jene zwischen Berlin und Wien abgeschafft werden. Die Wagen waren zuletzt in einem derart miserablen Zustand, dass selbst ich als fleissiger Nachtzugfahrer nicht mehr schlafen konnte.

Beklagt sich, weil seine Boni auf 10 Millionen Euro pro Jahr gedeckelt wurden: Daimler-Konzernchef Dieter Zetsche, hier mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Frankfurter Auto Show 2017.

Bild: zimbio.com

Neue Zugverbindungen werden als Teil der Energiewende betrachtet, Stichwort post-fossiles Zeitalter. Sehen Sie darin eine Chance, aus der imperialen Lebensweise auszubrechen?  

Ja und Nein. Denn die Gefahr der erneuerbaren Energien wie Windkraft oder Solaranlagen besteht darin, dass man die Produktion zwar mit anderen Rohstoffen versorgt, ohne dabei jedoch die ökonomischen Ausbeutungs- und Machtstrukturen zu verändern. Seit den 1980er Jahren gibt es diesbezüglich einen globalen Eliten-Dissens, in dem progressive Kräfte sagen, man brauche so etwas wie Nachhaltigkeit. Allerding argumentieren sie weiterhin prokapitalistisch. Der Diskurs der nachhaltigen Entwicklung findet deshalb nur am Rande statt und ambitionierte Politiken bleiben marginal. Man spricht zwar jahrelang vom Elektroauto, stellt den Verbrennungsmotor allerdings nicht in Frage. Dies ändert sich aus meiner Sicht mit der Krise 2007/2008, zumindest teilweise. Bestimmte Gruppen realisieren in diesem Moment, dass sie als Gewinner aus der Krise rauskommen, wenn sie verstärkt auf grün setzen. Es entsteht der Begriff der Green Economy, also die grüne Wirtschaft, die nochmals verstärkt auf die kapitalistische Ökonomie setzt und soziale Fragen weiter an den Rand drängt.

Neu sind die Konzepte der grünen Wirtschaft nicht. Wie interpretieren Sie sie?

Die Green Economy ist für mich Ausdruck dafür, dass Teile der Eliten ganz genau wissen, dass im Moment irgendetwas total falsch läuft. Mit der grünen Wirtschaft hofft man, dass sich Unternehmer über grüne Gewinne, Gewerkschaften über grüne Jobs und Konsumenten über grüne Produkte freuen. Die Strategie der Green Economy stellt zwar die Auswüchse der imperialen Lebensweise in Frage, aber nicht die imperiale Lebensweise an sich. Deshalb würde ich sie ernst nehmen und sofort kritisieren. Denn die Herkunft der Rohstoffe bleibt weitgehend unsichtbar. Auch die Produktionsformen, das Profit-Denken und die damit verbundene Lebensweise bleiben bestehen. Da kommen die einfach nicht raus.

 Das klingt ein bisschen wie eine Sekte.

Im Management geht es oft um Karrieregeilheit, Anerkennung und eben Profit. Schauen wir uns die Zahlen des Autobauers Daimler an: Obwohl er 2017 pro verkauftes Fahrzeug enorm hohe Gewinne erzielte, beschwerte sich Dieter Zetsche (der Konzernchef; Anm. d. Red.) darüber, dass sein Gehalt und die Bonus-Zahlung auf zehn Millionen gedeckelt werden. An der Pressekonferenz sagt er noch etwas zu den Abgastesten an Affen und dass sofort jemand aus dem unteren Management zur Rechenschaft gezogen werde. Doch in erster Linie ist er der Star und wird als „Auto-Manager des Jahres“ gefeiert. Warum? Weil Daimler für die Aktionäre fette Gewinne einfährt. Das ist eine Logik, die an verschiedenen Wirtschaftsforen bestätigt wird, zuletzt in Davos. Wesentlich offener gegenüber Umstellungen scheinen mir da die klein- und mittelgrossen Unternehmen und öffentliche Betriebe. Dort gibt es für Manager wesentlich mehr Handlungsspielraum als bei VW oder Daimler.

 Woran liegt das?

Sie fühlen sich eher den Beschäftigten und der Gesellschaft gegenüber verpflichtet. Ausserdem haben sie weniger Gewinndruck als die Grossen und können deshalb auch einmal etwas wagen. Die DZ-Bank beispielsweise, die Zentralbank von tausend Genossenschaftsbanken in Deutschland, hat vor ein paar Jahren ein Hochhaus am Frankfurter Hauptbahnhof gebaut. Sie entschied sich, ihren Mitarbeitern ein Job-Ticket für den öffentlichen Verkehr zu finanzieren. Das sorgt dafür, dass heute ein grosser Teil der Mitarbeiter mit dem ÖV anreist.

Das sind private Initativen, doch eigentlich müsste auch auf staatlicher Ebene etwas in Bewegung kommen. Warum steht die imperiale Lebensweise nicht auf der Polit-Agenda?

Vor allem, weil der Staat in der kapitalistischen Ökonomie verankert und zutiefst von ihr abhängig ist. In Regionen wie Lateinamerika leben die Staaten von Konzessionen und Zöllen, etwa was Abbau und Ausfuhr von Rohstoffen betrifft. In Europa sind es vorwiegend Steuern und Abgaben. Diese materielle Grundlage, die heute nach kapitalistischen Prinzipien produziert wird und die der Staat aus der Gesellschaft schöpft, bildet die Basis unseres Wohlstandes. Ich denke, darin liegt das Grundproblem.

Naja, Wohlstand tönt ja eigentlich nicht so schlecht.

Aber auf wessen Kosten? Deutschland und Österreich haben nur deshalb ein relativ hohes Durchschnittseinkommen und einen so guten öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssektor, weil die Ökonomie so gut läuft. Dies geschieht auf Kosten von Ländern wie Griechenland und den ausgebeuteten Menschen und der Natur in anderen Ländern. Deshalb stellt sich die Frage: Welches sind die Umbaumechanismen, die den Staat weniger abhängig von der kapitalistischen Expansion machen?

Manche sagen, dass man angesichts der Situation nichts machen könne, doch das stimmt nicht. Ich sage immer wieder: Macht Euch nicht handlungsunfähig!

Haben Sie Vorschläge?

Man könnte den Staat zum Beispiel vermehrt durch Vermögen finanzieren. Zudem müsste man sich genau ansehen, für was und für wen der Staat heute Geld ausgibt. Aber natürlich müsste sich die Politik da mit den herrschenden Interessen anlegen. Eine wichtige Voraussetzung verantwortungsvoller Politik ist meines Erachtens, die imperiale Lebensweise zu politisieren, also ihre historische Entstehung, die damit verbundenen Machtverhältnisse und Interessen anzusprechen. Denn auch in unseren Ländern haben wir erhebliche Ungleichheiten, die über Statuskonsum und Wachtumsfixierung aufrechterhalten werden. Manche sagen, dass man angesichts der Situation nichts machen könne, doch das stimmt nicht. Ich sage immer wieder: Macht Euch nicht handlungsunfähig!

Nun, etwas paralysiert wird man schon, wenn man sich die Welt aus der Perspektive der imperialen Lebensweise anschaut, die ja – wir haben’s zu Anfang erwähnt – unseren Alltag beherrscht.   

Die Politisierung läuft heute eher über die ökologische Frage und über Regeln und nicht so sehr über die Ansprache: Ihr seid die bösen Ausbeuter des Südens. Es braucht eine politische Durchsetzung, keine moralische. Es geht etwa um die radikale Reduktion des Automobilverkehrs in Städten des Nordens. Diese bedingt natürlich ein Umstellen der Automobilindustrie allgemein. Ein anderer wichtiger Bereich sind Umwelt- und Sozialstandarts in Ländern des Südens.

 Umwelt- und Sozialstandards in Ländern des Südens – Wie stellen Sie sich das vor?

In dem wir beispielsweise die Arbeitskämpfe in China unterstützen. Davon gibt es derzeit sehr viele, nur erfährt kaum jemand davon. Die ArbeiterInnen in China kämpfen nicht etwa für ein fettes Auto, sondern lediglich dafür, einigermassen würdig leben zu können. Wenn sich dann ihre Löhne verdoppeln oder verdreifachen, dann können die T-Shirts hier nicht mehr 1.99 Euro kosten. Die internationale Arbeitsorganisation steht ja eigentlich für Arbeits- und Sozialstandards. Und wir im Norden – egal ob AktivistInnen, JournalistInnen oder PolitikerInnen –  müssen dafür sorgen, dass diese öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.

Mit Verlaub, aber die Arbeitskämpfe in China interessieren angesichts der Situation in Europa kaum jemanden.

Dann müssen wir dieses Interesse eben schaffen. Wie viele hatten sich 2011 für den Arabischen Frühling interessiert? Klar war der physisch näher, doch diese Revolution stiess in Europa auf viel Wohlwollen. Ein Freund von mir, der sich in Ägypten sehr gut auskennt, hatte schon früh gesagt, dass die Muslimbrüderschaft die Herrschaft übernehmen werde. Aber zunächst einmal gab es Kämpfe um Selbstbestimmung und ein besseres Leben. Und damit sind wir bei der imperialen Lebensweise. Denn die erbärmlichen Lebensbedingungen in Marokko, Tunesien, Ägypten, aber auch in China, Bangladesch oder Indonesien haben letztlich mit den Konsummustern des Nordens zu tun. Wenn wir anerkennen, dass die Menschen in Tunesien für ein besseres Leben kämpfen, dann müssen wir auch über den Tomatenpreis in unseren Supermärkten diskutieren.

Konkret: Höhere Tomatenpreise in Europa gleich bessere Lebensbedingungen für die Tomatenpflücker in Tunesien?

Wir reden hier nicht von fünf Euro pro Kilo, sondern lediglich von zwei Euro zwanzig statt zwei Euro. Natürlich müssen die höheren Löhne in Tunesien vor Ort erkämpft werden, doch wir unterstützen diese Prozesse, wenn Menschen nicht nach dem Motto „Geiz ist geil“ leben.

Aber das meiste Geld bleibt am Ende ohnehin bei den Landbesitzern, Zwischenhändlern und Supermarktketten. 

Das ist natürlich Teil des Problems. Aber die EU könnte gewisse Regeln aufstellen, die dazu führen, die Lebensbedingungen der ProduzentInnen vor Ort zu verbessern.

 Was könnte die EU konkret unternehmen?

Zum Beispiel in Europa nur den Verkauf von Tomaten zuzulassen, die zu sozialen und ökologisch akzeptablen Bedingungen hergestellt wurden und wobei die Menschen nicht weniger verdienen als X. Ich war vor ein paar Jahren in Almeria, in dieser riesigen Plastikwüste in Südspanien, wo im Winter ein Grossteil unseres Gemüses produziert wird. Die Menschen verdienen dort 30 Euro am Tag. Und wohin expandiert die Landwirtschaft? Sie geht nach Marokko, weil die Leute dort zehn Euro oder weniger verdienen. Das geht nicht! Genauso wie die EU Regeln zur Qualität der Lebensmittelimporte aufstellt und etwa die Einfuhr von Produkten verbietet, die mit bestimmten Pestiziden behandelt wurden, genauso könnte sie sagen: Es werden nur jene Produkte eingeführt, die unter bestimmten Arbeitsbedingungen hergestellt wurden.

Höhere Lebensmittelpreise in Zentraleuropa würden die Lebensbedingungen von Gemüsepflückern verbessern. Hier entfacht ein Arbeiter aus dem südspanischen Almeria ein Feuer neben einem der Gewächshäuser.

Bild: interbrigadas.org

Auf politischer Ebene, so sagen Kritiker, lasse sich auf Grund der  Abhängigkeiten zwischen Staat und Industrie nicht viel machen. Wie sehen Sie es auf der Ebene der Zivilgesellschaft?

Nehmen wir die Ansätze der Degrowth-Bewegung, von dort kommen die radikalsten zivilgesellschaftlichen Ideen. Nur: Wenn diese Vorschläge nicht auch die herrschenden Produktionsmethoden und -verhältnisse miteinbeziehen, dann bleiben sie in einer Nische, sprich: Für die Mehrheit werden sie nicht anwendbar. In den deutschsprachigen Ländern lässt sich ja sehr gut in Nischen leben. Da treffe ich mich mit den Leuten aus der Öko-Bewegung und von den Repair-Cafés und alles scheint machbar. Das ist aber nicht der Punkt. Nischen sind wichtig, aber letztlich geht es darum, die herrschenden Strukturen zu verändern.

 Weshalb ist Ihnen das so wichtig?        

Es braucht Regeln, um die progressiven Errungenschaften zu festigen. Hätte es keine feministische Bewegung gegeben, gäbe es weniger Gleichstellungspolitik. Hätte es keine Öko-Bewegung gegeben, wären die Lebensmittelstandards immer noch gering. Und hätte Rachel Carson nicht ihr Buch “Stummer Frühling” geschrieben, wären bestimmte Pestizide in Europa immer noch erlaubt. Oder gehen wir zurück ins 19. Jahrhundert und zu den Anfängen der Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe, die in manchen Ländern zu Sozialstaaten führten. Der Staat ist ein Kampfgebiet, der als Folge harter Auseinandersetzungen soziale und ökologische Errungenschaften sichert. Doch diese Auseinandersetzungen sind auf Grund der engen Verbindung zwischen Staat und Kapital sehr asymetrisch. Deshalb müssen die progressiven Initiativen aus der Gesellschaft kommen.

Eine Gesellschaft, die in “multiplen Krisen” steckt, wie sie in ihrem Buch schreiben. Wäre es nicht präziser, von einer Zivilisationskrise zu reden?

In Lateinamerika rede ich von Zivilisationskrise, denn hier sind die Brutalität, der Zynismus und die Intoleranz der imperialen Lebensweise des Westens – und zunehmend von Akteuren aus China – täglich sichtbar. Zivilisation bedeutet hier Zerstörung. In Europa haben wir hingegen den Widerspruch, dass das Imperiale auch stabilisiert. Die Menschen sind handlungsfähiger als jene in den Ländern des Südens. Und es ist ja nicht so, dass wir alle leiden, im Gegenteil: Es geht uns relativ gut und viele können sich die Ignoranz gegenüber der Welt leisten. Natürlich sind multiple Krisen und Zivilisationskrise am Ende das Gleiche, aber von der Semantik her gibt es einen Unterschied.

Nämlich?

Wenn ich von zivilisatorischer Krise spreche, dann geht es ums Eingemachte. Und das ist in den mitteleuropäischen Gesellschaften für die Meisten nicht der Fall. Stellen Sie sich vor, Sie sind Lehrer in Bamberg oder München, haben unser Buch gelesen, und jetzt kommt der Brand zu Besuch und spricht in seinem Vortrag von Zivilisationskrise. Was hat das mit Ihnen zu tun? Sie haben vielleicht ein bisschen Zukunftsangst und machen sich ein wenig Sorgen um ihre Kinder und die Zukunft von Gesellschaft und Umwelt. Aber das ist doch noch lange keine Zivilisationskrise.

Das kommt auf die Interpretation an.

Die Infragestellung der Zivilisation als solche ist hier im postkolonialen Ecuador viel klarer und erfahrbarer als in Europa. Hier geht es für viele Menschen um existenzielle Fragen. Und auch jene, die ihr fettes Auto fahren, sehen die prekarisierten Verkäufer und Bettler täglich am Strassenrand.

„In der Schweiz könnte Buen Vivir heissen: Mindesteinkommen, keine Flexibilisierung von Arbeitstandards, Implementieren von Nachhaltigkeitskriterien, auch das Eindämmen der Macht von Banken und Chemiekonzernen.“

Im letzten Kapitel des Buches plädieren Sie für eine solidarische Lebensweise und das gute Leben, in Lateinamerika besser bekannt unter dem Begriff des Buen Vivir. Ist das gute Leben überhaupt möglich, zumal es gleichzeitig auch imperial ist? 

Das Buen Vivir ist ein umkämpfter Begriff und bedeutet in Europa heute F und F und P: Fleisch, fliegen und – darauf weist die Feministin Crista Wichterich immer hin – die billige polnische Pflegekraft für die Eltern. Ein gutes Leben steht in engem Zusammenhang mit den eigenen möglichst großen Konsummöglichkeiten, die wiederum den gesellschaftlichen Status definieren. Und wenn ich nicht genügend Geld dafür habe, dann wünsche ich es mir.

Darin unterscheidet sich Quito nicht von Köln, Salzburg oder Zürich. Nur, dass die Pflegekraft oder Haushälterin hier aus dem eigenen Land kommt. 

Klar, allerdings kam es in Lateinamerika bezüglich Buen Vivir zu einer historischen Injektion, die von den sozialen Bewegungen und anschliessend von den progressiven Regierungen des Kontinentes aufgenommen wurden und zu einer enormen Wertschätzung indigener Erfahrungen führte. Seit zehn Jahren ist das Buen Vivir in der ecuadorianischen Verfassung verankert. Das ist aus europäischer Sicht ziemlich spannend.

Inwiefern?

Buen Vivir ist inzwischen Thema in Europa, weil es am radikalsten die vermeintliche Verbindung zwischen kapitalistischem Wachstum und Wohlstand hinterfragt. Es geht um die harmonische Verbindung zwischen Mensch und Natur. Letztes Jahr etwa wurden wir von der Stadt München auf eine große Tagung eingeladen, die den Titel trug: Buen Vivir – Recht auf gutes Leben. Da war unser Argument natürlich nicht gutes Leben gleich BMW. Aber es interessierte die Frage, was denn ein gutes Leben für eine Stadt bedeuten kann, die unter anderem von BMW lebt? Da hatten wir die Chance, etwas zu politisieren, das im Kontrast zu FFP steht. Die einzige Gefahr ist, dass der Begriff entleert und als süßes Buen Vivir aus den Andenländern romantisiert wird.

Die Harmonie zwischen Mensch und Natur kann als zentrales Argument gesehen werden, um aus der imperialen Lebensweise auszubrechen. Ist ein Zurück-zur-Natur mit entsprechender Dezentralisierung menschlichen Lebens weg von den Städten nicht unabdingbar, um sich etwa der Herkunft der Rohstoffe bewusst zu werden, die unseren Alltag prägen?

Ich würde es nicht so apodiktisch formulieren. Wir brauchen Prozesse, damit sich Menschen bewusst werden, woher ihre Lebensmittel kommen oder wer ihre Kleider näht. Ausserdem müssen wir wieder lernen, wie man Dinge repariert, statt sie wegzuwerfen und neue Produkte zu kaufen. Das Buen Vivir ist kein Ziel, sondern ein Prozess. Unsere Aufgabe ist es nun, die Attraktivität dieses Begriffes aufzunehmen und ihn in einen mitteleuropäischen Kontext einzubetten. In der Schweiz könnte Buen Vivir heissen: Mindesteinkommen, keine Flexibilisierung von Arbeitstandards, Implementieren von Nachhaltigkeitskriterien, auch das Eindämmen der Macht von Banken und Chemiekonzernen. Ein Drittel der Menschen, so eine eher grobe Schätzung, verfügt bereits über diese sozial-ökologische Ethik. Aber die sind ja nicht alle politisch interessiert.

Worauf möchten Sie hinaus?

Dass ein relevanter Teil der jungen Generation heute zum Beispiel kein Fleisch mehr isst. Da machen sie keine politische Bewegung draus, sondern fühlen sich einfach ethisch verpflichtet. Oder sie hören schlichtweg auf ihren Körper. Solidarische Lebensweise entsteht oft ganz unspektakulär. Am Ende ist es ein Dreischritt aus sich veränderndem individuellen Verhalten, politischen Regeln und gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit.

“Imperiale Lebensweise – zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus” (14,95 Euro, Oekom-Verlag)

Interview: Romano Paganini

Hauptbild: dielichtgestalten.de