„Die Demokratie funktioniert leider nicht mehr”

24. Januar 2020, Russin bei Genf. – Unermüdlich kämpft Jean Ziegler gegen die Windmühlen des 21. Jahrhunderts. Der ehemalige Nationalrat publiziert Buch um Buch, und provoziert die Mächtigen wie eh und je. Im Interview spricht der 85-Jährige über die Klimabewegung, Empathie und warum der Mensch heute wie eine Ware funktioniert. 

 

Herr Ziegler, können Sie auch einmal Nein sagen, wenn Sie als Vizepräsident des beratenden Ausschusses der Menschenrechtsrats der UNO aufgeboten werden?

Nein, bei der Generalversammlung nicht. Es gibt diesen furchtbaren bürokratischen Ausdruck, «Stand-by». Wenn einer der 193 UNO-Staaten eine Auskunft verlangt über Menschenrechte, muss ich innert 48 Stunden dort sein. I mues eifach ga, das ist imperativ. Ich kann nicht an Guterres zurückschreiben, ich sei verhindert.

 

Während der letzten Vollversammlung in New York hielt Greta Thunberg ihre berühmte Wutrede. Wie sind die Worte der Klima-Aktivistin bei Ihnen angekommen?

Dazu möchte ich mich nicht äussern. Für mich ist Greta eine grossartige Figur. Was sie sagt, ist gut, klar und überzeugend. Und mein Buch hilft ja dieser Bewegung, weil es zeigt, wie der Kapitalismus den Planeten kaputt macht.

 

Ist Greta eine Art Che Guevara von heute?

Nein! Che war eine ganz andere Person. Er hat die Welt verändert, er zeigte den Weg, er half Kuba befreien, er war der Leuchtturm in der Nacht!

 

Wird Greta nicht zu einer Leitfigur unserer Zeit gemacht?

In der Mediengesellschaft passiert das, klar. Aber es braucht ja gar keine Ikonen, höchstens eine Porte-Parole, also jemand, der für eine Bewegung spricht. 

 

Hegen Sie Sympathien für die Bewegung Fridays for Future?

Ja, diese Jungen kommen aus dem Nirgendwo, haben weder den Rückhalt einer Partei noch einer Gewerkschaft und dennoch sind sie millionenfach aufgestanden – das ist wunderbar. Es ist der Aufstand des Gewissens. Sie sagen: Wir wollen den Planeten erhalten, also tut endlich was! Das ist ein Generalangriff auf den Kapitalismus.

Bei aller Kritik am Kapitalismus: Es ist ein produktives System.

Das stimmt, das ist ein Paradoxon. Der Kapitalismus ist dynamisch und erfinderisch. In der Basler Chemie wird alle drei Monate ein neues Molekül entdeckt, an der Wall Street gibt es monatlich ein neues Finanzinstrument. Der Kapitalismus hat die Menschheit unglaublich vorangebracht, was die Naturbeherrschung betrifft. Die UBS korrespondiert mit ihrer Filiale in Tokyo in Lichtgeschwindigkeit. Der Kapitalismus hat eindrücklichen Reichtum geschaffen, aber es ist eine kannibalische Weltordnung.

 

Wieso kannibalisch?

Zwei Milliarden Menschen haben kein Zugang zu sauberem Trinkwasser, alle vier Minuten verliert jemand das Augenlicht aufgrund von Vitamin A-Mangel und alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Das sind die UNO-Zahlen, die sind unbestritten. Was uns von den Opfern dieser Weltordnung trennt, ist ja nur der Zufall der Geburt. Jeder von uns könnte jetzt im Jemen oder im Sudan sterben.

 

Warum schaffen wir es nicht, dies zu ändern?

Es gibt eine Monopolisierung der Macht in der Hand von ganz wenigen Oligarchien. Die 18 reichsten Leute hatten 2018 so viel Vermögen wie 4,7 Milliarden Menschen, also die ärmere Hälfte der Menschheit. 18 Leute! (…)

 

Hauptbild: Jean Ziegler bei sich Zuhause in Russin, unmittelbar an der Grenze zu Frankreich. (Njazi Novokazi/Cigar)