17. April 2020 – Das folgende Gespräch mit Architektin und Bio-Konstrukteurin Isabel Donato wurde 2015 geführt, erhält auf Grund der Covid-19-Pandemie jedoch wieder an Aktualität. Donato spricht nicht nur von der Fragilität städtischen Zusammenlebens und stellt die Fundamente unseres Wirtschaftens ins Frage, sie bringt auch jenes Thema aufs Parkett, das wegen der überquellenden Städte gerade im Falle eines Gesundheitnotstands interessant werden könnte: die Neugründung von Dörfern.*
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„Verlasst die Städte!“ Es war dieser eine Satz in Isabel Donatos Rede, der mir besonders hängen geblieben war. Die Architektin sagte ihn inmitten einer Grossstadt und das Publikum, vorwiegend städtisch, applaudierte artig. Das war im Juni 2014 während des ersten Nationalen Kongresses für Biobau und Energiewissenschaft in der argentinischen Küstenstadt Mar del Plata. Gekommen waren der Poliermeister und Lehrer Jorge Belanko aus El Bolson (Patagonien), Architektin Rosario Etchebarne aus Montevideo (Uruguay), einige Mitglieder von „Arquitectos Al Borde“ aus Quito (Ecuador) sowie zwei Konstrukteure, die mangels Finanzierung per Autostopp aus dem chilenischen Valparaíso angereist waren; dort hatten sie nach den verheerenden Bränden wenige Wochen zuvor beim Wiederaufbau einzelner Quartiere geholfen. Ebenfalls dabei war Gernot Minke, Professor an der Universität Kassel, Autor zahlreicher Bücher und weltweit einer der wichtigsten Ansprechpartner bei Fragen zur Bio-Architektur. Und eben Isabel Donato. Sie ist die Mutter des ecobarrios (Öko-Quartiers) Villasol in Salsipuedes im zentralargentinischen Cordoba und landesweit eine der ersten Personen, die sich akademisch mit Lehm- und Strohbau auseinandersetzen. Während ihres Referats kam Donato immer wieder auf die Städte zu sprechen und schloss mit den Worten: „Sie dienen heute höchstens noch als Museen“.
Ein halbes Jahr später, als ich mit dem Bus von der argentinisch-bolivianischen Grenze her kommend in Richtung Cordoba unterwegs war, kamen mir ihre Worte wieder in den Sinn. Viele Fragen waren offen, die ich ihr nun persönlich stellen wollte – denn meine Reise sollte nur wenige Kilometer an ihrem Haus in Salsipuedes vorbeiführen. Also schickte ich ihr eine Anfrage per Mail, und hoffte auf eine baldige Antwort. Als diese ausblieb, machte ich mich auf gut Glück in Richtung ecobarrio auf. Zu verlieren hatte ich schliesslich nichts. Und Isabel Donato (73), die an diesem Sonntagnachmittag gerade eine BesucherInnen-Gruppe durch ihr Viertel führte, bat spontan ihre Assistentin, zu übernehmen und lud mich kurzerhand zu sich nach Hause ein.
Das ecobarrio in Salsipuedes umfasst rund sieben Hektare Land und seine fast vierzig Häuser sind so verteilt, dass jedeR der BewohnerInnen seine Privatsphäre hat. Die internen Vorschriften sehen vor, dass die EigentümerInnen dazu verpflichtet sind, ihre Häuser mit nachwachsenden Materialen zu bauen, in erster Linie Lehm, Stroh und Holz. Zudem muss sich das Design der Umgebung anpassen, sich also harmonisch in Hügel und Wälder einbetten. Das Haus von Isabel Donato steht etwas versteckt hinter Büschen und ist in drei Stockwerke unterteilt: unten wird geschlafen, oben gearbeitet und im Erdgeschoss stehen Küche und Wohnzimmer. „Ich habe wenig Zeit“, sagte Donato und setzte sich auf die Treppe beim Eingang. Die Besuchergruppe befand sich tatsächlich bereits auf dem Weg zu ihrem Haus. Also versuchte ich mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
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Isabel Donato, bei Vorträgen und Podiumsdiskussionen sagen Sie, dass man die Städte verlassen soll. Warum?
Ich wiederhole diesen Aufruf seit 1987. Damals ist beim ersten Klimagipfel in Oslo der sogenannte Brundtland-Bericht präsentiert worden. Während der Veranstaltung betonten Wissenschaftler, dass die Städte sinnbildlich für eine Epoche ständen, in der die Menschheit durchgedreht sei. Sie entstammen einem absolut nicht-nachhaltigen System, in dem der Mensch die Welt des Geschäftemachens als oberstes Prinzip betrachtet. Er hat künstliche Bedürfnisse geschaffen, dabei aber den tatsächlichen Werten von Mensch und Umwelt keine Bedeutung zukommen lassen. Deshalb ist innerhalb unserer Zivilisation im Lauf der Zeit eine Art Bruch entstanden, der alarmierend ist und den Lebensraum der Menschen in Gefahr bringt. Und all dies spiegelt sich in den Städten wider.
Können Sie das konkretisieren?
Ohne Benzin kommen wir weder zu Wasser, noch zu Nahrungsmitteln, noch zu Energie – und die Stadt geht in fünf Minuten unter. Für die StädteplanerInnen von heute werden die geopolitischen Einflüsse immer wichtiger, weshalb sie ausserhalb ihrer Städte nach Land suchen, von dem sich die Städte dann versorgen lassen können. Auch gibt es Projekte von schwimmenden Städten oder von Hochhäusern, die ihre Energie selber erzeugen, inklusive eigenem Bauernhof.
Das klingt ein bisschen nach Science Fiction …
…ist aber real. All das ist bereits durchdacht, organisiert, administriert und wird an den Schulen für Industriedesign studiert. Es gibt viele interessante Vorschläge in Bezug auf die Technologie, um die aussergewöhnlichen Ressourcen der Natur zu nutzen – zum Vorteil für die Entwicklung der Menschen und in Einklang mit der Natur, also nicht getrennt voneinander.
Da es im Internet praktisch keine Fotos von Isabel Donato gibt, zeigen wir jenes von ihrer Ansprache im Juni 2014 in der argentinischen Küstenstadt Mar del Plata. – BILD: Ricardo Tamalet
Wie muss man sich das vorstellen?
Dass die Technologie dem Menschen nützt und wir gleichzeitig das Ökosystem respektieren. Da gibt es unermessliche Kräfte, die aktiviert werden müssten, die wir aber gar nicht aktivieren wollen! Schliesslich benutzen wir nach wie vor dieselbe Elektrizität, die einst Edison (1847-1931) erfunden hatte. Und das macht heute schlicht keinen Sinn mehr. Es macht keinen Sinn, Staudämme in Patagonien zu bauen, die von Chinesen finanziert werden, um Licht nach Cordoba zu bringen. Es existieren bereits Speichersysteme für Sonnenenergie mit Magneten. Da kann jedes Haus seine eigene Elektrizität erzeugen und auf die Staudämme in Patagonien verzichten. Doch solange daraus kein grosses Geschäft gemacht werden kann, solange werden diese Systeme auch nicht grossflächig zum Einsatz kommen.
Sie sagen also: ohne Geschäft keinen Fortschritt?
Ich sage, dass wir Menschen, die auf eine Veränderung der herrschenden Gesellschaftsordnung hinarbeiten, nach wie vor zu wenig Zugang zu Wissenschaft und Technologie haben. Denn wenn Wissenschaft und Technologie zusammenkommen und etwas Neues erfunden wird, diese Erfindung jedoch kein lukratives Geschäft bedeutet, und also konträr zu den herrschenden Verhältnisse steht, dann landen die Ideen entweder im Mülleimer oder der Erfinder wird erschossen. Wieviele Erfindungen gibt es, die Grossfirmen aufkauften, dann aber nie zur Anwendung kamen?
Kommen wir zurück zu Ihrem Aufruf, die Städte zu verlassen. Seit 2007 lebt über die Hälfte der Menschheit in Städten oder stadtnahen Gebieten.
Wenn alle, die in der Stadt leben aufs Land ziehen, geht die Erde unter …
…sofern wir in der selben Form weiterleben.
Genau. Wenn wir stattdessen lernen, mit der Erde in Beziehung zu treten und ihren reproduktiven Wert zu nutzen, wäre das alles kein Problem. Es ist bewiesen, dass Ameisen die selbe physische Masse mitbringen wie die Menschen. Und klar mögen die Ameisen unseren Garten zerstören, aber sie tun dies nicht mit dem Planeten, im Gegenteil: Sie tragen zu dessen Entwicklung bei. Als Spezies haben sie einen Weg des Miteinanders gefunden und vergrössern die Ressourcen statt sie zu zerstören. Wir Menschen hingegen zerstören, was wir zum Leben brauchen.
Der Mensch, eine unterentwickelte Spezies?
Nun, wir müssen zu verstehen beginnen, wie sich die Prozesse der Natur entwickeln, unsere Leben entsprechend anpassen und uns dann tatsächlich in die Natur integrieren. Und zwar nicht, um als Wilde zu leben, die sich ausschliesslich von Waldfrüchten ernähren. Wenn wir zum Beispiel Nebel oder Regen produzieren, müssen wir die Energie des Windes und der Sonne nutzen. So können wir jene Fortschritte generieren, die sich innerhalb der Natur unendlich reproduzieren, ohne diese zu schädigen. Doch das sind Dinge, die unsere Gesellschaft nicht wertschätzt. Lieber kauft man Wasser in Einwegflaschen oder wartet auf die Rechnung der Wasserwerke. Es ist, als ob wir Menschen ausserhalb der Natur lebten.
Sie meinen – ein bisschen wie Roboter?
Ja! Und zwar wegen dieser komischen Parallelwelt zwischen Markt und Geschäfte machen. Doch diese Form des Wirtschaftens wird unseren Planeten töten, und das ist kein Scherz! Kein System kann auf Dauer aufrechterhalten werden, wenn es sich nicht weiterentwickelt. Systeme – egal ob in der Natur, der Physik, der Biologie oder im Sozialen – evolutionieren oder sie gehen unter.
Das Öko-Quartier Villasol in Salsipuedes, Zentralargentinien: Rund vierzig Familien leben hier, verteilt auf sieben Hektare Land. – BILD: ruta0.com
Wie können wir dieses destruktive Verhalten durchbrechen?
Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir einen evolutionären Sprung benötigen. Denn wenn wir diesen nicht realisieren, gehen wir unter. Das wissen die Wissenschaftler, die Philosophen, die Theologen, ja selbst der Papst weiss das. In diesem Prozess gibt es Kräfte, die uns in Richtung Zerstörung drücken und andere wiederum, die uns bei diesem evolutionären Sprung unterstützen. David Sempau beschreibt dies schön in seinem Buch Die Dinge beim Namen nennen: Ein Schmetterling kann je nach Flugbahn zum evolutionären Sprung beitragen oder nicht. Sempau sagt, dass jede Sache, die wir tun – und ich teile diese Ansicht – so ist wie der Flug dieses Schmetterlings. Und so kommt irgendwann der Moment, in dem wir genügend Energie gesammelt haben, sodass dieser evolutionäre Sprung möglich wird.
Anders gesagt: Nachhaltig bauen, meditieren, uns in Gruppen organisieren und unsere Gemüsegärten bestellen, hilft auf metaphysischer Ebene, diesen Sprung realisieren zu können?
Sowohl auf physischer als auch auf metaphysischer Ebene, ja. Vertrauen und Glauben spielen dabei eine zentrale Rolle. Denn wer nicht vertraut und nicht glaubt, und stattdessen das Wörterbuch des Skeptikers aufschlägt, kommt nicht vom Fleck. Stattdessen bleibt man stehen und wird irgendwann wie ein Stein mitgeschleift.
Das würde bedeuten, dass wir uns von unserer bisherigen Lebensform verabschieden und stattdessen eine neue entwickeln müssten. Was halten Sie – in Anlehnung an ihren Aufruf, die Städte zu verlassen – von der Gründung neuer Dörfer?
Ich glaube, es müssen neue Dörfer gegründet werden. Eigentlich hat dieser Prozess bereits begonnen, wie etwa in der Provinz Cordoba, wo Personen Land zur Verfügung stellen. Und vor kurzem habe ich einen Artikel im Internet gelesen, dass in der Provinz Chubut (Patagonien) jemand 80.000 Hektare offeriert.
Das sind Offerten von Privatpersonen?
Richtig. Die Regierungen – selbst die fortschrittlichsten unter ihnen – sind ans herrschende System gebunden und befinden sich in einer Art Hamsterrad.
Ein Hamsterrad ohne Bremshebel?
Regierungen und Universitäten werden von Menschen organisiert, sind also nicht einfach nur sture Institutionen. Und zwischendurch bricht auch immer wieder mal einer dieser Menschen auf, wie in jüngster Zeit Führungsmitglieder der Weltbank. Die treten dann an die Öffentlichkeit und nennen die Dinge beim Namen. Dennoch sollte man versuchen, besagtes Hamsterrad zu umgehen und andere Projekte zu unterstützen. Ein gutes Beispiel für die stattfindenden Umbrüche sind die Gruppen der indigenen Bauern und der Kleinbauernbetriebe. Dieser Sektor beweist den Regierungen mit Zahlen und Fakten, dass es mehr Sinn macht, die algarrobo (Johannisbrotbäume) sinnvoll zu nutzen, statt sie zu fällen und das Land dem Soja-Anbau zu überlassen. Natürlich können wir die Soja-Produktion nicht von heute auf Morgen einstellen, das wäre verheerend. Aber zumindest sollten wir den Alternativen eine Chance geben.
„Es gibt immer Gruppen, die solider sind und über mehr Bewusstsein, Willen und Impulse verfügen. Sie sind bereit, einen solchen Wandel durchzuführen und entsprechende Opfer auf sich zu nehmen.“
Nochmals zur Neugründungen von Dörfern. Worum geht es da genau?
Es geht darum, dass in der Provinz Cordoba nachhaltige Dörfer gegründet werden sollen. Wir sind derzeit an den Vorbereitungen für eine digitale Plattform. Dort können sich jene einschreiben, die Land verkaufen oder gratis zur Verfügung stellen, die arbeiten oder die in dem neuen Dorf leben wollen. Jeder kann etwas anbieten: Arbeit, Geld, Material, Wissen. Und obwohl sich die Webseite erst im Aufbau befindet, wurden wir bereits mit Anfragen überhäuft.
Die Leute warten also darauf, dass jemand die Sache an die Hand nimmt …
…und das dieser Jemand über das nötige knowhow verfügt – ein Schimpfwort des Kapitalismus’(lacht). Sie fragen uns, weil wir nach der Erfahrung mit dem ecobarrio in Salsipuedes über das nötige knowhow verfügen. Man will jene Fehler vermeiden, die wir begangen hatten. Allein der grosse Andrang beweist, wie gross das Bedürfnis inzwischen ist.
Warum lebt dann nach wie vor die Mehrheit der Menschen in Städten?
Das liegt unter anderem daran, dass es nicht ganz einfach ist, die Stadt zu verlassen und daran, dass es Leute gibt, die es zwar versucht haben, allerdings gescheitert sind. Wir Städter sind nunmal keine Bauern und nicht darauf vorbereitet, in Gemeinschaft zu leben, uns selbst zu versorgen und uns damit zu begnügen.
StadtbewohnerInnen sind also gar nicht bereit, aufs Land zu ziehen?
Nein, das sind wir nicht. Die Leute verwechseln ihre Wünsche oft mit ihren Fähigkeiten. Sie wollen zwar aufs Land, erschrecken dann aber, wenn sie dort sind: Ui ein Skorpion, ui eine Schlange, ui der Boden ist aber tief hier! Doch es gibt immer Gruppen, die solider sind und über mehr Bewusstsein, Willen und Impulse verfügen. Sie sind bereit, einen solchen Wandel durchzuführen und entsprechende Opfer auf sich zu nehmen. Es sind jene wenigen Gruppen, die beweisen, dass es eben doch möglich ist, von der Stadt aufs Land zu ziehen.
*Auszug aus dem Buch „Manos de la Transition“ (Hände der Transition) des Journalisten Romano Paganini.
Illustration: Pawel Kuczynski