„Bio-Lebensmittel sollten die Norm sein“

Für Hans Rudolf Herren geht Ernährungssouveränität einher mit Umwelt- und Gesundheitsschutz. Der Insektenforscher über die Abhängigkeiten von der Chemieindustrie, eingemachtes Gemüse und warum er in der Ernährungssouveränität die Rechte der ärmeren Menschen gestärkt sieht.  Insektenforscher, Weinbauer, Buchautor, Gründer der Stiftung Biovision, Mitglied des Club of Rome sowie Gewinner unzähliger Umwelt- und Landwirtschaftspreise: Hans Rudolf Herren, geboren und aufgewachsen im Kanton Wallis, hat sein Leben lang zu Ernährung und Umwelt geforscht – zuerst an der ETH Zürich, später jahrezehntelang in Afrika. Heute lebt der 70-Jährige auf einem kleinen Bauernhof im Capay-Valley, etwas ausserhalb von Sacramento/Kalifornien und kümmert sich dort um einen Rebberg sowie Zitrus- Aprikosen-, Pfirsich-, Apfel-, Birnen- und Feigenbäume. Alles Bio. Um die Wiesen zu mähen, mietet er eine Schafherde vom Nachbarn, und gönnt sich dann gelegentlich auch ein Stück Schaffleisch. „Allerdings versuche ich nur noch so viel Fleisch zu essen, wie mein eigenes Land produzieren könnte“, sagt der dreifache Vater. Herren ist ausserdem Präsident des Millennium-Instituts in Washington. Dieses berät Regierungen und erarbeitet Strategien, um die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO umzusetzen. Diese sind vor knapp zwei Jahren in Kraft getreten und sollen bis 2030 umgesetzt sein. Hans Rudolf Herren, Ihr Institut berät weltweit Regierungen bei Fragen zur nachhaltigen Entwicklung. Was raten Sie kleinen Ländern mit wenig Anbauflächen wie der Schweiz, wenn es um Ernährungssouveränität geht? Ob klein oder gross ist nicht so wichtig, entscheidend ist die Bevölkerungsdichte und der Zugang zu Anbauflächen. Dicht bevölkerten Ländern wie der Schweiz empfehle ich eine Auslegeordnung zu machen, um zu sehen: Was können wir selbst produzieren? Weltweit gibt es im Moment für jeden Menschen rund 2.000 Quadratmeter Land. Das ist mehr als genug, um die Menschheit ernähren zu können. Selbst wenn alle fünfzig Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr essen wie in der Schweiz? Natürlich hängen die 2.000 Quadratmeter mit der Diät zusammen. Und Fleischesser brauchen auf Grund des Getreideanbaus für Tierfutter oder Weideflächen für’s Vieh automatisch viel mehr Platz. Damit möchte ich jetzt aber nicht sagen, dass wir alle Veganer oder Vegetarier werden sollen. Sondern? Wir können einfach weniger Fleisch essen. Unsere aktuelle Ernährung ist ohnehin zu proteinhaltig. Wichtig scheint mir, dass wir den Rindfleischkonsum reduzieren. Rinder brauchen viel Boden, Getreide und Wasser. Das sieht man im Mittelland. Dort verfügen wir eigentlich über gute Erde, etwa für den Gemüse-, Früchte-, Getreide- oder Kartoffelanbau, produzieren aber vorwiegend Mais, um ihn dann an die Kühe zu verfüttern. Dabei gibt es genügend Grasland für die Produktion von Qualitätsfleisch, auch in der Schweiz. Doch im Moment hängen wir von den Futtermittel-Importen aus Übersee ab. Dieses Futter wird heute auf der gleichen Anzahl Quadratkilometer angebaut, wie der Futtermittelanbau innerhalb der Schweiz. Da sind die 2.000 Quadratmeter Land pro Kopf bald aufgebraucht. Wir sind bezüglich Fleischproduktion tatsächlich an einem Limit angelangt. Deshalb ist es wichtig, eine Auslegeordnung zu machen, den Ist-Zustand zu analysieren und zu erkennen, welche Lebensmittel wir nachhaltig lokal anbauen können – so wie es die Initiative verlangt. Welche sähen Sie? Grundnahrungsmittel wie ein Teil der Getreidearten für unser Brot, Milch für den Käse oder Knollengewächse und Zuckerrüben produzieren wir bereits selbst. Mengenmässig lässt sich der Bedarf in der Schweiz zwar nicht ganz abdecken, wir kämen vielleicht auf siebzig bis fünfundsiebzig Prozent. Doch dank der Böden und des Klimas können wir enorm vielfältig anbauen. Natürlich gibt es ausserhalb der Saison dann gewisses Gemüse nicht, aber wir können ja auf bewährte Methoden zurückgreifen und Chabis, Sauerkohl oder Kohlrabi einmachen und mehr Treibhäuser bauen. Früher, als es noch keine Lebensmittelimporte aus Spanien, Chile, Südafrika oder Asien gab, haben wir das auch so gemacht. Womit wir beim Kern der Initiative der Ernährungssouveränität sind. Technisch lässt sich diese umsetzen. Doch ist die Gesellschaft in der Schweiz bereit für diesen Schritt?  Wenn ich sehe, was mit der Vollgeld-Initiative passiert ist, bin ich mir da nicht so sicher. Das wäre nämlich mal etwas gewesen, bei dem die Schweiz mit gutem Beispiel hätte vorangehen können. Bei Ernährungsfragen sind wir allerdings am selben Punkt wie beim Finanzsystem: Wir müssen eine Lösung finden, denn so wie es im Moment läuft, kann es nicht weitergehen. Warum? Weil wir uns in einer Sackgasse befinden. Wir müssen uns fragen, ob wir in einem Umfeld mit gesunden Böden, Tieren und Pflanzen leben wollen oder nicht. Die Schweiz gehört europaweit zu jenen Ländern, in denen am meisten Pestizide pro Hektar ausgebracht werden. Unsere Landwirschaft ist also enorm abhängig von der Chemie. Gleichzeitig ist die Hälfte unserer Gesundsheitskosten auf schlechte Ernährung zurückzuführen. Dazu kommen die Kosten für Umwelt und Soziales – sie sind irgendwann nicht mehr tragbar. Apropos Kosten: Die GegnerInnen der Initiative argumentieren, dass bei einer Annahme die Lebensmittelpreise steigen würden. Ein berechtigter Einwand?   Nein, denn das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. In der Schweiz wird heute weniger als acht Prozent des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben – im Vergleich zu anderen Staaten extrem wenig. Und warum? Weil unsere Bauern hochsubventioniert sind und unsere Einkommen im internationalen Vergleich hoch sind. Der Konsument zahlt zwar wenig im Laden, doch was er nicht sieht, ist, dass diese Lebensmittel über Steuern und andere Abgaben mitfinanziert werden. Der tatsächliche Preis der Lebensmittel ist also wesentlich höher. Natürlich, sonst könnten die Bauern gar nicht überleben. Wie zuvor erwähnt, verursacht die billige Nahrung in der Schweiz noch ganz andere Kosten. Worauf wollen Sie hinaus? Mir ist wichtig, dass die Konsumenten über die Hintergünde der heutigen Lebensmittelproduktion informiert werden. Denn die billigen, industriell produzierten Produkte versauen derzeit unsere Umwelt, gefährden unsere Gesundheit, verschmutzen das Wasser und tragen zum Klimawandel bei. Während die Profite zum grossen Teil der Agrarindustrie zukommen, werden die Kosten nirgends erwähnt. Was kostet es beispielsweise eine Gemeinde, wenn sie eine Anlage für die Wasseraufbereitung unterhalten muss? Dieses Geld könnte man einsparen und den Bürgern im Gegenzug offerieren, dass sie die ersten 20.000-30.000 Franken ihres Einkommens nicht versteuern müssten. Davon würden in erster Linie die ärmeren Menschen profitieren, die dann etwas mehr Geld hätten, sich besser ernähren zu können. Es kann ja nicht sein, dass sich nur Reiche Bio leisten können und sich die Ärmeren weiter vergiften. (…) Hauptbild: „Wir sind heute nicht mehr fähig, in grösseren Zusammenhängen zu denken“: Hans Rudolf Herren, Präsident des Millennium-Instituts, hier bei einem Besuch in der Schweiz 2015 (Davide Caenaro/Coopzeitung)

Wenn Sie weiterlesen wollen, empfehlen wir Ihnen das Probeabo von mutantia.ch. Da sind Sie mit 15 Franken oder 12 Euro dabei und können sich während drei Monaten vergewissern, ob Ihnen unsere Beiträge schmecken oder nicht.