Die humanitäre Katastrophe in Venezuela wirkt sich zunehmend auf ganz Lateinamerika aus. Eine Reportage vom Busbahnhof in Quito, wo täglich Dutzende von Flüchtlingen aus dem Norden unter freiem Himmel übernachten.
Quito. – Verzweiflung kennt viele Gesichter. Eins davon gehört Martín. Der Mann ist Ende fünfzig und eben erst aufgestanden. Eingepackt in eine dicke Jacke steht er neben mir, hört zu, was sein Landsmann aus Venezuela sagt, und dann bricht es plötzlich aus ihm selber heraus. Nicht um etwas zu erklären oder klarzustellen, nein, Martín spricht, weil er etwas loswerden möchte, als ob reden atmen wäre. Die Satzzeichen lässt er gleich ganz weg:
„in venezuela arbeitest du eine woche und das reicht nicht mal für ein kilo reis ich krampfte während zwanzig jahren als schweisser für eine gemeinde aber ich verdiente zuletzt mehr indem ich kaffee in den strassen verkaufte meine mutter defäktiert über einen künstlichen darm und braucht dringend medikamente immerhin schicken meine neffen aus den USA regelmässig geld für sie ich selber habe nicht einmal genügend um meiner tochter kleider zu kaufen deshalb bin ich gegangen und habe dann in kolumbien begonnen fruchtsäfte zu verkaufen ebenfalls in der strasse aber kolumbien ist voll von venezolanern es gibt keine arbeit nun hoffe ich dass es hier besser wird “
Flüchtlinge werden an der Grenze ausgeraubt
Es ist kurz nach sechs und der Himmel über Quito zeigt an: Es wird ein sonniger Tag. Martín hat seine erste Nacht hier verbracht, hier am Busbahnhof Carcelén im Norden der Stadt, wo täglich Dutzende Busse aus dem Nachbarland Kolumbien ankommen. Viele der Reisenden wissen nicht, wie und wo es weitergeht. So auch Martín, der wie alle Flüchtlinge in diesem Text anders heisst. Viel mehr als ihre Namen sind es ihre Geschichten, die interessieren. Es sind Geschichten von Menschen, die aus einem Kriegsgebiet geflüchtet sind.
Gemäss der Internationalen Organisation für Migration (auf Englisch) haben bereits über eine Million Venezolaner ihr Land verlassen. Täglich strömen Tausende über die Grenze nach Kolumbien. Von da gelangen sie nach Ecuador, Peru und weiter nach Chile und Argentinien. Die humanitäre Katastrophe des nördlichsten Landes Südamerikas hat sich inzwischen auf den ganzen Kontinenten ausgewirkt – und auf dessen Migrationspolitik. Chile hat erst kürzlich härtere Gesetze beschlossen, die Grenze zwischen Kolumbien und Ecuador wird verstärkt bewacht und die Grenzen zwischen Venezuela und Kolumbien sowie zu Brasilien werden immer wieder geschlossen.
Die Flüchtlinge kommen trotzdem, wenn’s sein muss zu Fuss. In Carcelén berichten die Menschen von stundenlangen Märschen auf kolumbianischen Autobahnen, teilweise barfuss. Auch Schwangere und Familien mit Kinderwägen seien unterwegs. Gerastet wird, wenn die Dunkelheit einbricht. Wer Glück hat, schafft es unter eine Brücke. Auch von Rassismus, Überfällen und Vergewaltigungen wird berichtet, insbesondere an der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien. Die Menschen in Carcelén erzählen, dass sich dort die Grenzwächter des Militärs mit Banden zusammengeschlossen haben und Profit aus der venezolanischen Migration schlagen
Quito, das Zwei-Millionen-Dorf in den Bergen, ist für die Flüchtenden deshalb eine dankbare Raststätte – egal, wie kalt die Nächte auf 2.700 Meter über Meer werden.
Das Bett auf dem Parkplatz
Während die meisten der knapp 200 Flüchtlinge an diesem Morgen noch dabei sind, ihr Hab‘ und Gut zusammenzupacken, die Plastikplane zu lichten, mit der sie sich provisorisch ein Dach gebastelt haben oder die Matrazen am Ende des Parkplatzes aufeinanderschichten, ist Jorge bereits bei der Arbeit. Relativ munter weist der 52-Jährige die Autos in das erwachende Nachtlager. Ab und zu gibts Trinkgeld. Doch kaum beginnt der ehemalige Profisportler und spätere Immobilienhändler über Venezuela zu sprechen, verliert sich sein Lächeln, verlieren sich wie bei Martín Punkte und Kommas.
„ich war verzweifelt als ich das land verliess, psychisch meine ich in venezuela sind die menschen wie zombies unterwegs ich konnte kein geld mehr für meine kranke mutter auftreiben dabei haben wir extra weniger gegessen meine geschwister sind trotzem geblieben sie sind ingenieure und ärzte und haben ihr eigenes haus wenn du dieses alleine lässt dann wird es besetzt und du bekommst es nicht mehr zurück ich selber habe neun wohnungen in caracás und an der küste doch sie stehen alle leer und die einzige chance die ich sah um geld für meine mutter zu sammeln war die flucht“
Jorge wird an diesem Vormittag immer wieder in meine Nähe kommen, aufmerksam seinen Landsleuten zuhören, hier hat jeder etwas zu berichten. Ab und zu gibt er seinen Kommentar dazu. Oder aber er winkt ab und dreht sich um. Fünfundfünfzig Kilo habe er gewogen, als er Venezuela verliess, inzwischen seien es rund siebzig. Die Kekse, die ich ihm offeriere, lehnt er ab. „An Essen fehlt es uns hier nicht.“
Und tatsächlich: Wie jeden Tag kommen auch heute um sieben Uhr Freiwillige auf den Parkplatz, schöpfen Suppe und Reis und servieren es auf Plastiktellern, inklusive eines Stückes Fleisch. Mittags und abends meist das selbe Bild. „Wir werden hier wirklich sehr gut behandelt“, sagt einer und schiebt sich den Löffel in den Mund.
Der Rassismus in Ecuador
Eine der ersten Freiwilligen in Carcelén war Maria del Rosario Carrillo. Bereits im Februar, als noch niemand am Busbahnhof übernachtete, servierte sie den Ankommenden sonntags jeweils eine warme Mahlzeit, half Informationen über Quito zu sammeln, organisierte Arztbesuche und suchte zusammen mit Freunden nach Spenden für die Weiterreise. Nachdem aber eine junge Frau ein Foto auf Facebook gepostete hatte, weil sie damit ihrer Familie in Venezuela zeigen wollte, dass es auf dem Fluchtweg auch gute Seelen gibt, klingelte bereits am Abend das Handy von Maria. Venezolanische Journalisten im Ausland wollten die Geschichte aufschreiben – auch weil Maria ursprünglich aus Caracás kommt. „Seither kommen mehr Leute hier an“, sagt die Frau. „Und immer öfters sind sie völlig verzweifelt, unterernährt, tragen kaputte Schuhe und haben nicht genügend warme Kleidung.“
Heute, ein halbes Jahr später, hat sich der Busbahnhof von Carcelén zu einem Flüchtlingslager entwickelt. Am Eingang zum Parkplatz wurden zwei Toi-Toi-Toiletten aufgestellt, eine Möbelfirma hat Dutzende Matrazen vorbeigebracht und täglich kommen Freiwillige – um Essen, Kleider, Decken oder Geld vorbeizubringen. Erst kürzlich, berichtet Maria, habe eine ältere Dame fünfundsechzig Tickets für die Weiterreise nach Peru finanziert.
Der Krieg in Venezuela: Er führt zu zusätzlicher Ausbeutung in den Nachbarländern. In Peru wurde Anfang Monat ein Netzwerk vonFrauenhändlern ausgehoben. Einzelne der Mädchen aus Kolumbien und Venezuela waren gerademal 16 Jahre alt.
Ob Grosszügigkeit oder Kalkül bleibt offen. Die Stimmung in Ecuador ist jedenfalls nicht nur gut. Das Land steckt selber in einer wirtschaftlichen Krise und viele Bewohner sehen in der Migration eine Bedrohung – genauso wie die anderen Länder der Region. Die Angst äussert sich in rassistischen Bemerkungen im Internet, auf der Strasse oder in Inseraten, in denen es heisst: „Suchen Kellner (keine Venezolaner)“ Andere wiederum nutzen die Situation und stellen die Flüchtlinge für einen Hungerlohn an. Seit sich herumgesprochen hat, dass es in Carcelén billige Tagelöhner gibt, tauchen auf dem Parkplatz regelmässig Bauleiter oder Garagenbesitzer auf und offerieren Arbeit für 200 Dollar im Monat; der gesetzliche Mindestlohn in Ecuador liegt bei 380 Dollar. Und noch etwas ist in Carcelén zu beobachten: Männer, die Frauen für den Begleitservice suchen. Erst gestern soll einer vorbeigekommen sein und Arbeit in einer Bar offeriert haben.
Der Krieg in Venezuela: Er führt zu zusätzlicher Ausbeutung in den Nachbarländern. In Peru wurde Anfang Monat ein Netzwerk von Frauenhändlern ausgehoben. Einzelne der Mädchen aus Kolumbien und Venezuela waren gerademal 16 Jahre alt
(Details auf Spanisch).
Plötzlich drückt mir jemand eine Süssigkeit in die Hand. „Nimm“, sagt die junge Frau und läuft, als ich sie ihr zurückgeben möchte, davon. Es ist eine
tortica de chocolate, direkt aus Caracás. Paula (20), die noch keine 24 Stunden in Carcelén ist, hat einen ganzen Sack mitgebracht. Sie wird heute zusammen mit ihrer Freundin Lydia (22) und deren Schwester Marlén (28) ins Zentrum fahren, in der Hoffnung ein paar Cents für ihre Familien zu sammeln. Alle drei haben Kinder. Paula hatte ihre jüngste Tochter erst vor wenigen Wochen abrupt abstillen müssen. „Für Frauen ist die Flucht weniger gefährlich als für Männer“, begründen die drei ihren Schritt. Sie reisen bewusst zusammen, aber ohne Familien. Das Warten auf gültige Reisepapiere für die Kinder ist teuer und nervenaufreibend. Sie wollen sich so bald wie möglich niederlassen, Geld verdienen und dann ihre Familien nachholen. „Wir lieben Venezuela und wollen irgendwann zurückgehen“, sagt Marlén, „aber im Moment sehen wir einfach keine Perspektive.“ Und kaum beginnen die Frauen darüber zu reden, strömt die Verzweiflung heraus.
„die lebensmittel die wir vom staat bekommen sind abgelaufen der reis schmutzig und die linsen verursachen durchfall kleider für unsere kinder können wir uns nicht leisten aber wir wollen dass sie zur schule gehen seife gibt es keine und wenn dann ist sie flüssig und macht unsere haut kaputt in venezuela suchen schwangere im müll nach nahrungsmitteln gebären auf offener strasse und die kinder und alten sterben weil die spitäler keine patienten mehr aufnehmen natürlich wird das in den medien nicht gezeigt und maduro (der Präsident; die Red)
sagt es sei alles in ordnung aber das stimmt nicht uns werden sie nicht für dumm verkaufen können“
„Statt den Flüchtlingen so schnell wie möglich eine würdige Unterkunft zu bieten, wenigstens mittels Zelten und die Hürden für einen legalen Aufenthalt zu senken, machen die Behörden alles noch komplizierter.“
Guillermo Rovayo, Anwalt
Der Konflikt in Venezuela ist seit Jahren am Brodeln und seit den
blutigen Zusammenstössen 2017 immer mehr eskaliert. Es war eine Frage der Zeit, bis die Menschen migrieren und sich anderswo niederlassen würden. „Doch statt konkrete Vorschläge in Bezug auf die Flüchtlingssituation zu machen, beschränkt sich die ecuadorianische Regierung auf lauwarme Bemerkungen zum Konflikt zwischen Lenin Moreno
(Ecuadors Präsident; die Red.) und Nicolas Maduro“, sagt Anwalt Guillermo Rovayo. Er arbeitet für die Organisation
Misión Scalabriniana, die Migranten bei Rechtsfragen berät. Und er ist entsetzt darüber, wie Ecuador mit den Flüchtlingen umgeht. „Statt ihnen so schnell wie möglich eine würdige Unterkunft zu bieten, wenigstens mittels Zelten und die Hürden für einen legalen Aufenthalt zu senken, machen die Behörden alles noch komplizierter.“
Rovayo bezieht sich auf den Papierkram mit Venezuela – ein Land, das sich seit Monaten im Ausnahmezustand befindet und deren Funktionäre für hundertausende Bürger im Ausland irgendwelche Apostillen ausfüllen sollten. „Deshalb landen auch so viele Personen in der Illegalität“, sagt Rovayo. In der Regel müssen die Flüchtlinge zwölf bis fünfzehn Monate auf die gewünschten Papiere aus Venezuela warten. Die Aufenthaltsbewilligung in Ecuador beschränkt sich jedoch auf neunzig bis hundertachtzig Tage …
Der Anwalt ist überzeugt, dass der Migrationsstrom aus Venezuela nicht so schnell abreissen wird. Es liege nun an der Regierung in Quito zu verhindern, dass Flüchtlinge von der Polizei schlecht behandelt werden. „In unseren Beratungen“, sagt Rovayo, „bekommen wir das leider immer wieder zu hören.“ Ausserdem müsse das Ministerium für Soziale und Wirtschaftliche Inklusion (MIES) nun endlich die Federführung übernehmen und zusammen mit lokalen Behörden, NGO’s und der Zivilgesellschaft Verpflegung, Übernachtungsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und den Zugang zu Bildung für Flüchtlinge aus Venezuela koordinieren.
Was also, möchte ich vom MIES wissen, hat der ecuadorianische Staat unternommen, um beispielsweise Situationen wie jene in Carcelén zu verhindern? „Diese Themen betreffen das Ministerium für Migration“, heisst es in einer kurzen Mail. Verantwortung scheint hier niemand übernehmen zu wollen. Vom Ministerium für Migration bekomme ich gar nicht erst eine Antwort.
Zuletzt setze ich mich zu Eugenia (20), Tomás (24) und Luna (3) auf’s Troittoir. Die drei sind vor vier Stunden in Carcelén eingetroffen, haben kaum geschlafen. Tomás sitzt noch immer auf der Matraze, die Decke über den Kopf gehüllt. Zehn Monate lang hatte er in Bogotá versucht, zu überleben: mit Hilfe eines mobilen Kiosks. „Es lief gut“, sagt er,“ ich hatte mich wirtschaftlich stabilisiert und wollte eigentlich meine Familie nachholen.“ Doch dann geschah, was Strassenverkäufern in vielen Städten auf der Welt passiert: Die Behörde jagte sie davon. Und da er in Kolumbiens Hauptstadt ohnehin fast täglich rassistisch beschimpft wurde, entschied sich Tómas für die Weiterreise. Er holte Eugenia und Luna nach Bogotá und sagte: „Wir gehen nach Peru.“ Denn dahin waren inzwischen seine Eltern und Geschwister geflüchtet, ihr Heim hatten sie zurückgelassen. „Meine Mutter“, sagt Tomás mit ausdruckslosem Gesicht, „erzählte mir letzthin am Telefon, dass sie so lange darauf hingearbeitet hatten, dieses Haus zu bauen, und jetzt mussten sie es verlassen.“
Luna nimmt ein paar Kekse aus dem Sack und hält sie ihrem Vater hin. „Nimm, Tómas“, sagt sie kreischend, „nimm!“ Der Mann lächelt ein wenig, ist dankbar, bei seiner Familie zu sein. Sie werden die Erdnussbutterschnitten, die sie aus Bogotá mitgebracht haben, hier am Busbahnhof Carcelén zu verkaufen versuchen. Sie möchten so schnell wie möglich weiter nach Lima. Der Kontakt dort läuft seit kurzem ausschliesslich über die Mutter. Dem Vater von Tómas wurde vor ein paar Tagen das Handy geklaut.
Text: Romano Paganini
Bilder: Alejandro Ramirez Anderson
NACHTRAG VON ENDE AUGUST 2018
Mitte Juli hat mutantia über das Flüchtlingslager am Busbahnhof Carcelén in Quito berichtet. Eine Woche danach wurde das Lager geräumt. Damals fanden die Menschen zwischenzeitlich Unterkunft in privaten Herbergen. Seit Mitte August hat sich nun auch die Stadtregierung von Quito eingeschaltet. Gemäss der Tageszeitung El Comercio hat sie fünf Herbergen für je dreissig Personen eröffnet; Vorrang haben Schwangere, Familien mit Kinder, Rentner und Menschen mit Behinderung. Doch die Unterkünfte reichen bei weitem nicht aus. Denn von den 600.000 Venezolanern, die allein in diesem Jahr nach Ecuador gekommen sind, reist zwar die Mehrheit weiter Richtung Süden, doch 120.000 haben sich inzwischen in Ecuador niedergelassen. Das Flüchtlingslager von Carcelén wurde nur wenige Tage nach der Räumung in einem kleinen Park zwischen den Autobahnen ausserhalb des Busbahnhofes wieder aufgebaut.
Hinzu kommt nun, dass die ecuadorianische Regierung vor zehn Tagen beschlossen hat, nur noch jene Menschen ins Land zu lassen, die über einen gültigen Pass verfügen – das sind die wenigsten. Die Menschen haben weder Geld für gültige Papiere, noch Zeit, um auf diese zu warten. Flüchtende können sich unmöglich an Regeln halten, die ihr Leben gefährden.
Währenddessen äussern sich auch in Ecuador nationalistische Gruppierungen. Unter dem Titel Primero Ecuador (Ecuador zuerst) haben sie für den Donnerstag 30. August zu einer Veranstaltung auf der Plaza Grande in Quito aufgerufen. Gleichzeitig soll es am selben Ort zu einer Gegendemonstration kommen. Zur Veranstaltung „Die Unterdrückten haben keine Nation“ haben die Antifaschisten aufgerufen.