Bei den Überschwemmungen vom 29. Oktober 2024 rund um Valencia sind offiziell 228 Menschen ums Leben gekommen. Hunderttausende verloren ihre Häuser, Geschäfte, Produktionsanlagen, Arbeitsplätze oder Autos. Es war eine der grössten Naturkatastrophen in der jüngeren Geschichte Europas.
Wenige Tage später nahm das Team von mutantia.ch Kontakt zu Überlebenden auf, die aus erster Hand berichten, was sich nach der Flutwelle abgespielt hatte. Sie sprechen von fehlender Hilfeleistung, dem Vertuschen von Informationen sowie dem Versuch, das Ausmass der Katastrophe herunterzuspielen. Also begannen wir, die Daten systematisch aufzuarbeiten.
Im E-Book „Lo que el agua dejó“ („Was das Wasser zurückliess“) erzählen wir die Chronik einer angekündigten Katastrophe. Es dokumentiert die Ereignisse dieses Tages sowie jene der folgenden sechs Monate: zwischen Verzweiflung und Solidarität, Wut und Recherche, Lernprozessen und dem eigenen Überleben. Und nicht zuletzt illustriert es, wie Katastrophen dazu beitragen können, die Bindungen innerhalb einer Gemeinschaft zu stärken und sich des eigenen Lebensraums bewusst zu werden.
Valencia, Mai 2025. – Es ist der 9. November 2024, elf Tage nach den Überschwemmungen rund um Valencia, als mir bei der Ankunft im Katastrophengebiet das Ausmass der Ereignisse erstmals so richtig bewusst wird. Verwesungsgeruch brennt sich in meine Nase, und ohne nachzudenken, mache ich es wie die Freiwilligen, die neben mir mit Stiefeln, Schaufeln und Besen durch die schlammbedeckten Strassen waten: Ich stülpe die Maske über mein Gesicht. Epidemiologen warnten bereits vor Tagen vor möglichen Infektionen. Schliesslich liegen noch immer Tote zwischen Trümmern und in Garagen. Hinzu kommt ausgelaufenes Benzin, die kaputten Batterien zehntausender Autos sowie unzählige Liter Abwasser. Die Flutwelle hat 123 Kläranlagen zerstört, viele davon müssen abgerissen und neu gebaut werden.
Am Mast einer Strassenlaterne sehe ich die Vermisstenanzeige von Lorenza Marlene Villaverde, einer jungen Paraguayerin, deren Körper Tage später von Rettungskräften geborgen wird. Neben mir, der Barranco del Poyo, der heute – wie eigentlich immer – kaum Wasser führt. Aber am frühen Abend des 29. Oktober 2024 wurde das Ufer des Poyos von einer drei Meter hohen Welle überrollt und überschwemmte sämtliche Vorstädte Valencias zwischen Torrent und Catarroja.

„Die einzige Annäherung an das Geschehene besteht im Beschreiben dessen, was das Wasser zurückgelassen hat“: Romano Paganini, Autor des E-Books, Mai 2025. – Foto: Magdalena Ham
Zusammen mit Davide Bonaldo*, einem Fotografen aus Barcelona, mühen wir uns durch eben dieses Catarroja, einem jener Orte, die von den Überschwemmungen am meisten betroffen sind. Wir kommen an einer Strassenecke vorbei, wo sich Kleider, Wasserflaschen und Dutzende von Windelpackungen stapeln: Hilfsgüter, die ihren Bestimmungsort noch nicht gefunden haben. Viele der Menschen hier scheinen auf der Suche nach etwas zu sein: sei es Kleidung, Seife, Essen, Transportmöglichkeiten oder nach Nachbarn, die Hilfe beim Abpumpen von Wasser und Schlamm brauchen. Das Chaos ist allgegenwärtig, und als Journalist stelle ich mir beim Anblick dieser postapokalyptischen Szenerie dieselbe Frage wie Tausende andere am Ground Zero: Wo beginnen?
Die innere Unruhe, dem Geschehenen sprachlich gerecht zu werden, wird mich in den folgenden Wochen und Monaten eng begleiten. In Zeitungen und digitalen Netzwerken suche ich nach Antworten, genauso wie in zig Gesprächen mit betroffenen NachbarInnen und Menschen aus meinem Umfeld. Auch habe ich in mir selbst nach Worten gesucht – bis ich eines Tages zu einer befreienden Erkenntnis kam: Es gibt sie nicht. Diese Katastrophe ist zu gross, als dass ihr die Sprache gerecht werden könnte. Die einzige Annäherung an das Geschehene besteht im Beschreiben dessen, was das Wasser zurückgelassen hat. Es ist eine Rekonstruktion von Ereignissen und Erinnerungen, die Schritt für Schritt stattfinden wird.
Also vertiefte ich meine Recherchen, die ich am 9. November 2024 begonnen hatte, und sammelte Informationen aus erster Hand. Ich interviewte Angehörige der Opfer, Freiwillige, Feuerwehrleute, Guardia Civiles, Polizeitaucher, Psychologen, Beamte, Aktivisten, betroffene Nachbarn und Nachbarinnen sowie Organisationen von Angehörigen. Anfang 2025 wurde mir schliesslich klar, dass diese Recherche nicht in einen Artikel passt, sondern nur in ein Buch**.
„Lo que el agua dejó“ („Was das Wasser zurückliess“) vereint exklusive Informationen und verwebt sie mit offiziellen Daten. Es ist ein Versuch, die Ereignisse in einer sechsmonatigen Zeitleiste festzuhalten, damit sie für die Nachwelt erhalten bleiben und nicht von der digitalen Revolution und ihren Kollateralschäden verschluckt werden. Es handelt sich um eine Chronik vom 29. Oktober 2024 bis zum 29. April 2025.
Die Angehörigen, die ihre Mutter und Vater, Neffen und Enkelinnen, Freunde und ArbeitskollegInnen verloren haben, sprechen nicht von den Todesopfern der Flutkatastrophe. Sie sprechen davon, dass ihre Lieben durch die Unfähigkeit der verschiedenen staatlichen und regionalen Behörden getötet wurden, also jene Institutionen, die für die Überwachung der Schluchten, die Frühwarnsysteme und die anschließende Hilfeleistung verantwortlich sind. Es laufen bereits mehrere Gerichtsverfahren. Aber am Ende – so habe ich den Eindruck -, wird es sich ähnlich verhalten, wie im Nachgang zur Pandemie, sprich: Erst in einigen Jahren, wenn sich die Wogen geglättet haben und die entsprechenden Untersuchungen durchgeführt wurden, wird etwas mehr Klarheit herrschen. Dieses E-Book möchte einen Beitrag zur Rekonstruktion der Erinnerungen leisten.
Romano Paganini,
Autor des E-books “Lo que el agua dejó”,
Autor des E-books “Lo que el agua dejó”,
Mai 2025, Ondara (Spanien)
*Autor des Titelbildes dieses Artikels. Es zeigt eine Strassenecke der Gemeinde Catarroja im Süden von Valencia am 9. November 2024. Auf Grund ungenügender Koordination seitens Behörden sowie fehlendem Wissen bei den Freiwilligen, wurde der Schlamm in den ersten Tagen in die Kanalisation geschüttet – was später für zusätzliche Probleme bei der Abwasserentsorgung sorgte.
**Noch sind wir auf der Suche nach Geldgebern, um das E-book fertigschreiben und veröffentlichen zu können.
