Der Rohstoff-Industrie sind alle Mittel recht, um weitere Territorien zu erschliessen. Doch bevor sie die Umwelt verschmutzt, schüchtert sie die lokale Bevölkerung ein. Der Zeugenbericht einer US-Amerikanerin zeigt, wie die Ausbeutung im Regenwald mit unseren Lebensvorstellungen zusammenhängt.
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Der folgende Text, der 2018 enstanden und zunächst bei „Anthropology and Environment Society’s Engagement“ (einer Digital-Zeitschrift aus den USA) und bei „La Linea de Fuego“ (einer Digital-Zeitschrift aus Ecuador) erschienen ist, wird zum ersten Mal in deutscher Sprache publiziert. Die im Artikel beschriebenen Ereignisse zum Tod von Anacleta von der indigenen Gemeinde der Sápara fanden im Frühjahr 2016 statt; Autorin Lindsay Ofrias war ein paar Monate später bei den Sáparas zu Besuch.
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19. August 2019. – (…) Als ich im August 2016 durch den Dschungel einer Sápara-Gemeinde ging und meine Gastgeberin plötzlich abrupt stehen blieb, fiel mir beinahe das Herz aus der Brust. Ein Schrei hallte durch die Bäume – bis ich realisierte, dass er von ihr stammte. Die beiden kleinen Kinder in unserer Gruppe waren wie gelähmt vor Angst und konnten ihren Blick kaum vom Grün ablassen, das uns umgab. „So terrorisieren sie uns“, sagte meine Gastgeberin, während sie mit der Machete auf die gefällten Bäume zeigte, die auf unserem Weg lagen. „Es sind die Männer, die Anacleta getötet haben“, flüsterte meine andere Gastgeberin. „Wir sollen wissen, dass sie uns folgen.“ Die Augen der Kinder weiteten sich und mir wurde das Herz schwer. Die Sonne ging unter und ich war besorgt, dass wir es nicht sicher zu ihnen nach Hause zurückschaffen würden. Zudem fühlte ich mich für meine Freundin verantwortlich, die ich für diese Reise eingeladen hatte.
Die „schwarze Liste“
Vor etwa drei Monaten, nicht weit von dort wo wir jetzt standen, hatten Familienmitglieder Anacleta gefunden: mit dem Gesicht zum Boden, nackt, zerstückelt und von Macheten umgeben. Während mir die Geschichte erzählt wird, zeigt mir ein Verwandter die Bilder: der Hals von Anacleta war lila, als ob sie von hinten erdrosselt worden wäre. Einige dachten, dass die blauen Flecken an ihrem Körper Beweise für eine Vergewaltigung waren. Andere Mitglieder der comunidad behaupteten, dass es sich um Suizid, häusliche Gewalt oder Schamanismus handelte. Wieder andere wiesen auf die Stecklinge hin, die rund um Anacleta ausgelegt waren, und die mehrere Frauen als eine Warnung verstanden: eine Art „schwarze Liste“. Diejenigen, die sich der Erdölförderung widersetzten, insbesondere die Frauen, sahen sich als nächste Zielscheibe der Gewalt eines Krieges, der ihr Volk dezimieren könnte.
Anacleta gehörte nicht zu den Hauptaktivistinnen. Doch ihre enge Beziehung zu bekannten AktivistInnen könnte sie zu einer Zielperson gemacht und sie in die Schusslinie der Erdölindustrie gebracht haben. Die Untersuchung zu ihrem Tod ist nach wie vor im Gang. Unabhängig davon, wer dafür verantwortlich ist: Die Tatsache, dass viele Mitglieder der comunidad die Brutalität, der Anacleta zum Opfer gefallen ist, mit der Erdölindustrie in Verbindung bringen, spiegelt den Umfang dieses „Krieges“ wider. Eine kapitalistische Invasion, der sie ausgesetzt sind und die mindestens ein weiteres Menschleben gefordet hat.
Der Schrei meiner Gastgeberin war ein Signal an die „mysteriösen Männer“ im Dschungel. Dadurch wollte sie ihnen klarzumachen, dass wir in einer Gruppe unterwegs sind und sie nicht fürchteten. Unsere Hoffnung war, dass wir dadurch stärker wirkten, als wir es wirklich waren – ähnlich, als stünde man vor einem Jaguar; mit in die Höhe gestreckten Armen, um grösser und bedrohlicher auszusehen.
Das unsicher gewordene Eigenheim
Die Rückkehr nach Hause hat unsere Angst nicht gemildert. Das Eigenheim, das ein gemütlicher und sicherer Ort sein sollte, war inzwischen weder gemütlich noch sicher. Es gab weder Telefon- noch Internetverbindung und das einzige Radio, das uns mit der nächsten Stadt verband – immerhin eine Flugreise entfernt – , funktionierte nur tagsüber. Auf einen möglichen Hinterhalt waren wir jedenfalls nicht vorbereitet. Die Familienmitglieder wollten weder Konfrontation noch Gewalt, und soweit ich verstanden habe, waren sie stets darauf bedacht, Frieden zu suchen.
Nur ein sehr kleiner Teil des Hauses war mit Wänden und einer Tür aus Holzlamellen ausgestattet. Das Schloss konnte mit wenig Kraft aufgebrochen werden … Wir blieben die ganze Nacht über wachsam, sowohl im Innern des Hauses als auch auf der Veranda, mit unseren Stirnlampen stets auf der Suche nach Verdächtigem zwischen all den Schatten, die der Mond auf die Blätter der Farne und Bäume projezierte.
Es waren Momente des angespannten Wartens, ohne über die nötigen Mittel zu verfügen, um uns allenfalls gegen etwas noch Schlimmeres verteidigen zu können: ein Gefühl also, mit dem die Mitglieder der comunidad seit dem Tod Anacletas und vielleicht schon viel früher bestehens vertraut waren.
Glücklicherweise waren wir am nächsten Morgen alle in Sicherheit. Allerdings schämte ich mich, meinen Besuch zu beenden und so früh nach Quito zurückzukehren. Meine Gastgeberinnen jedoch dankten mir dafür, dass ich Zeugin war und so ihrer Angst Glaubwürdigkeit verleihen konnte. (…)