Ecuador, ein Volk in Aufruhr

Ecuador befindet sich seit knapp einer Woche im Ausnahmezustand. Seit Tagen mobilisiert die Landbevölkerung für den heutigen Generalstreik. Reportage aus der Provinz Cotopaxi, wo die BewohnerInnen das Militär aus ihrem Gebiet vertrieben haben. 

9. Oktober 2019, Pancaleo (Provinz Cotopaxi), Ecuador. – Die Situation in Ecuador ändert sich derzeit im Stundentakt. Vorläufig letztes Kapitel des Volksaufstandes im Andenstaat: die gestern verhängte Ausgangssperre. Sie gilt während dreissig Tagen zwischen 20.00-5.00 Uhr und verbietet die Zirkulation rund um öffentliche Einrichtungen oder Produktionsstätten, etwa Wasseraufbereitungsanlagen oder Erdölraffinerien.

In den Stunden davor ist es zu teils massiven Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Militär und DemonstrantInnen gekommen. Die BürgerInnen waren zwischenzeitlich bis ins Innere des ecuadorianischen Parlaments in Quito vorgestossen, wurden dann aber wieder zurückgedrängt. Dabei soll auch scharf geschossen worden sein. Zudem, so berichteten Augenzeugen, seien Tränengasbomben in Richtung Versorgungsposten geschossen worden, also dorthin, wo Essen ausgegeben und Verletzte behandelt wurden. „Dem Militär ist jegliches Menschenleben egal“, sagte eine freiwillige Köchin, die sich kurz nach dem Angriff zusammen mit ihrem Sohn zurückgezogen hatte.

Bei den Angriffen sind mehrere Personen verletzt worden, darunter diverse Mütter und ihre Kinder. Eigentlich galten die Punkte als Rückzugsort für die Familien von Bauern und Indigenen, die für die Demonstration zu Fuss nach Quito gekommen sind. Doch die staatlichen Sicherheitskräfte hielten sich nicht an dieses ungeschriebene Gesetz und begannen ihre Geschosse zunehmend direkt auf die Demonstrierenden zu richten. Mehrere von ihnen erlitten Brandverletzungen.  

 

„Als Volk müssen wir zusammenhalten“

Wenige Stunden zuvor sind Dutzende von comunidades indigenas aus allen Himmelsrichtungen in Ecuadors Hauptstadt eingetroffen. Sie wurden euphorisch empfangen und sofort mit Essen und Trinken versorgt. Viele StadtbewohnerInnen haben spontan Strassenküchen eingerichtet – jene Küchen, die am Nachmittag in Quitos Innenstadt Opfer der Repression wurden.
Ursprünglich hatten die Transporteure zum Streik aufgerufen und bereits am Donnerstag und Freitag weite Teile Ecuadors lahmgelegt. Sie demonstrierten gegen die von Präsident Lenin Morenos angeordnete Streichung der Benzin- und Dieselsubventionen; diese sind Teil eines umfassenden Sparprogramms, um die Auflagen des internationalen Währungsfonds (IWF) zu erfüllen. Im Gegenzug erhält Ecuador einen Kredit von 4,2 Milliarden Dollar.  

Inzwischen haben sich grosse Teile der Bevölkerung der Mobilisierung angeschlossen, darunter Bauern, StudentInnen, UmweltschützerInnen, HandwerkerInnen, ArbeiterInnen und Arbeitslose. „Das einzige was wir haben ist unsere Stimme, die Stimme des Volkes“, sagte am Sonntagnachmittag der Vorsteher der Provinz Cotopaxi im Zentrum des Landes während einer Strassenblockade in der Ortschaft Pancaleo. „Als Volk müssen wir zusammenhalten. Wir haben keine andere Option, als den Kampf weiterzuführen, bis wir unsere Ziele erreicht haben“.

Dabei geht es längst nicht mehr nur um die seit 1974 geltenden Subventionen auf Kraftstoffe, die jährlich rund 1,3 Milliarden Dollar ausmachen. Gerade die Mobilisierung der Indigenen ist Ausdruck der seit Jahren anhaltenden Unzufriedenheit mit der Politik des Zentralstaates. Unter Morenos Vorgänger Rafael Correa sind die Bauern- und Indigenenbewegungen in den ländlichen Gebieten unterwandert worden. Deren SprecherInnen wurden beschattet, verunglimpft oder weggesperrt. Diverse soziale Bewegungen, vor allem jene, die sich für die Umwelt und die Rechte der Indigenen einsetzen, verloren an Stärke. Sie hatten Angst vor den Repressionen rund um Correas Sicherheitsapparat, der unter anderem vom israelischen Militär ausgebildet wurde*. Nur wenige trauten sich noch gegen die teilweise autoritär auftretende Regierung aufzustehen. 

Dies änderte sich zumindest teilweise unter Lenin Moreno, der im Mai 2017 vom einstigen Vizepräsidenten (2007-2013) zum Präsidenten aufstieg. Er machte deutlich, dass er eine Politik des Dialogs führen wolle, bei dem sämtliche Sektoren zu Wort kommen sollen. Das kamen sie teilweise auch – allerdings ohne ernst genommen zu werden. Gerade in den indigenen Gebieten, die reich an Rohstoffen wie Holz, Kupfer, Gold, Erdöl oder Gas sind, liess der Zentralstaat jegliches Feingefühl vermissen und machte dort weiter, wo Correa aufgehört hatte: bei deren Ausbeutung. Es war die Regierung Moreno die nur wenige Monate nach Amtsantritt mit Erdölbohrungen im eigentlich unter Schutz stehenden Nationalpark Yasuni begonnen hatte.  

Deshalb ist es kein Zufall, dass Ecuador vergangene Woche als Teil des Sparprogramms für Anfang 2020 seinen Austritt aus der Organisation erdölexportierender Länder OPEC bekanntgegeben hat. Dadurch muss das Land weder Preise noch Produktionsmengen von Erdöl mit anderen Staaten absprechen, kann also weitgehend machen, was der Markt verlangt. Oder China. Denn Correa, der sich während seiner zehnjährigen Präsidentschaft bewusst vom IWF und den USA abwandte und stattdessen mit China zu handeln begann, hat dem asiatischen Staat auf Jahre hinaus Erdöllieferungen versprochen. Im Gegenzug finanzierte China Infrastruktur-Projekte wie Strassen oder Wasserkraftwerke. 

 

Konfrontation auf der Autobahn 

Ecuador muss heute also nicht nur die vom IWF gewährten Kredite mit Geld bedienen, sondern auch China mit Rohstoffen. Die Konsequenz: Mensch und Natur werden bis aufs Letzte ausgepresst. Auch deshalb wehrt sich die Bevölkerung wie an diesem Sonntagnachmittag in Pancaleo, der kleinen Ortschaft in der Provinz Cotopaxi, wo es vierundzwanzig Stunden zuvor zu wüsten Strassenschlachten gekommen war. Bei den Zusammenstössen mit der Armee wurden mehrere DemonstrantInnen schwer verletzt; einer könnte gar sein linkes Auge verlieren.

Dennoch formierte sich die Bevölkerung in den Stunden darauf erneut und zog vom Nachbarsort Salcedo aus wieder nach Pancaleo. El pueblo unido, jamas sera vencido!, skandierten sie immer und immer wieder: Das vereinte Volk wird nie besiegt. Von weitem waren bereits die Rauchsäulen der brennenden Autoreifen zu sehen. Bäume wurden gefällt und quer auf die Autobahn gelegt. Die Armee wollte die Verbindungsachse zwischen Quito und Cuenca offen halten, um so den Handel zwischen Nord und Süd nicht zu unterbrechen. Allerdings war sie zu diesem Zeitpunkt von den Pancaleños bereits auf die Brücke zurückgedrängt worden, und somit von beiden Seiten eingekesselt. 

In der Luft kreiste zum wiederholten Mal ein Militärhelikopter und die Körpersprache der Uniformierten liess zunächst offen, ob es zu einer weiteren Konfrontation kommen wird. Die Frauen und Kinder brachten sich auf dem Hügel neben der Autobahn in Sicherheit. Einige rüsteten sich mit Steinen und Ästen aus und warteten, was passieren würde. Falls nötig, das war klar, würden sie sich wieder verteidigen. 

Doch es war nicht nötig. Der Rückzug der Streitkräfte, mit hängenden Armen aber erhobenen Hauptes, verwandelte sich in einen Triumphzug der Bevölkerung. Ustedes también son del pueblo!, riefen sie den Uniformierten zu, Ihr seid auch aus dem Volk. Es brach Jubel aus und in den Gesichtern der Demonstrierenden, zuvor noch gezeichnet von Anspannung und Angst, war Erleichterung zu erkennen.

Das Bild in Pancaleo sollte sich im Laufe der vergangenen Tage andernorts in der Provinz Cotopaxi wiederholen. Im Weiler Planchaloma, so berichteten BewohnerInnen, wurden drei Soldaten von der comunidad festgesetzt. Insgesamt, so teilte die Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE) am Montag mit, sollen die comunidades landesweit über fünfzig Militärs als Geisel halten. Der von der Regierung ausgesprochene Ausnahmezustand, sagte ein Sprecher der CONAIE, diene nicht der Sicherheit der Bevölkerung, sondern dazu, sie zu kriminalisieren. „Unsere einzige Waffe ist unser Recht auf Widerstand“, sagte er und bezog sich auf Artikel 98 in der ecuadorianischen Verfassung. Dort ist  festgehalten, dass Individuen und Gruppen das Recht auf Widerstand haben, sollte die Behörde gegen die in der Verfassung festgehaltenen Rechte verstossen.

Die Konsequenzen dieses Widerstandes bis Mittwochmittag Lokalzeit: über 600 Festnahmen im ganzen Land, Dutzende Schwerverletzte und mindestens fünf Tote. 

 

„Verlierer sind die Landwirte“ 

„Sobald die Preise für Kraftstoffe steigen, steigen auch die Kosten für den Transport von Mensch und Ware“, sagte am Rande der Strassenblockade in Pancaleo der Präsident eines kleinen Weilers aus der Nachbarschaft. „Doch diese Kosten vermag der Bauer nicht zu stemmen, denn letztlich bezahlen die Konsumenten keine höheren Preise für die Lebensmittel. Verlierer sind also die Landwirte und nicht etwa die Transporteure“.  

Dabei waren sie es, die vor einer Woche zum landesweiten Streik aufgerufen hatten. Allerdings erklärten sie diesen am Freitagabend für beendet, angeblich, um dem sich ausbreitenden Chaos entgegenzuwirken. Tatsächlich ging am Donnerstag und Freitag auf Ecuadors Strassen praktisch nichts mehr ging. Die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte wurden mit brennenden Autoreifen blockiert und die Taxifahrer stoppten sämtliche KollegInnen, die sich nicht an die Abmachung hielten. In den Strassen der Grossstädte Guayaquil, Cuenca und Quito kam es teilweise zu massiven Ausschreitungen – Ausschreitungen, die seither anhalten.

Der Zorn der Bevölkerung war derart gross, dass Lenin Moreno noch am Donnerstag den Ausnahmezustand verhängte und das Militär auf die Strasse schickte; dreissig Tage soll der Ausnahmezustand gelten. Dieser ermächtigt den Staat dazu, demokratische Grundrechte ausser Kraft zu setzen, etwa das Versammlungsrecht oder die Medienfreiheit.

Was das bedeutet, zeigte sich umgehend auf der Strasse. Dort wurden JournalistInnen angegriffen, zu Boden gedrückt und immer wieder an der Dokumentation der Proteste und ihrer Repression gehindert. Die Polizei setzte massiv Gewalt ein und machte in den engen Strassenschluchten von Quitos Altstadt Jagd auf Demonstrierende. Diese wiederum versuchten mit Steinen und Molotow-Cocktails in der Hand  zum Präsidentenpalast vorzudringen. Die Polizei verhinderte dies mit Metallzäunen, Panzerwagen und knüppelte die Demonstrierende vom Pferd aus nieder.

Sowohl die Interamerikanische Menschenrechtskommission als auch die Vereinten Nationen äusserten ihre Besorgnis zum Vorgehen der ecuadorianischen Polizei. So wurden verschiedene DemonstrantInnen während ihrer Verhaftung massiv geschlagen. Symbolisch für die Polizeigewalt steht Sebastian Acosta, ein junger Vertreter der Indigenen-Bewegung aus der Provinz Tungurahua, dessen zerschlagenes Gesicht wenige Stunden nach seiner Festnahme bei Facebook&Co. zirkulierte. 

Inzwischen haben sich über hundert Intellektuelle, AktivistInnen und Kulturschaffende aus verschiedenen Teilen der Welt in einem Brief zu Wort gemeldet. Darin verurteilen sie die massive Polizeigewalt und fordern die Regierung Morenos auf, den Ausnahmezustand aufzuheben; dieser sei unverhältnismässig und verletze grundlegende Menschenrechte.    

 

Lenin Moreno will Chaos verhindern

Den BürgerInnen rund um Latacunga ist der Ausnahmezustand einerlei. Seit Tagen blockieren sie die Strassen und haben sich am Montagmittag zu Fuss in Richtung Quito aufgemacht. „Wir werden die Autobahnen solange sperren, bis die Regierung die verkündeten Massnahmen zurückzieht“, liess sich einer der comuneros zitieren.
Doch danach sieht es im Moment nicht aus, im Gegenteil: Präsident Lenin Moreno hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass die angekündigten Massnahmen unverrückbar seien – und meinte in Anspielung auf chaotische Situationen aus vergangenen Jahren vielsagend: „Diese Zeiten sind vorbei. Wir müssen aufhören, Veränderungen durch Vandalismus zu erzeugen“. Auf die Polizeigewalt ist er nicht eingegangen. Stattdessen ist der Präsident inzwischen in die Küstenstadt Guayaquil geflüchtet. Seine „Politik des Dialoges“ ist gescheitert und BeobachterInnen zweifeln, ob er sich noch lange halten kann.

Währenddessen hatten die Chauffeure rund um Latacunga ihre Camions zur Verfügung gestellt, um die BürgerInnen schneller in Richtung Hauptstadt zu bringen. Hunderte  von Personen bestiegen darauf die Fahrzeuge und machten sich skandierend in Richtung Norden auf.

Als sie ausserhalb der Stadt von einer Armee-Einheit aufgehalten wurden, war zunächst wieder nicht klar, was passieren würde. Doch die Soldaten durchsuchten die Demonstrierenden lediglich nach Waffen und nahmen ihnen die Holzstöcke weg. Zu Fuss passierten sie die Strassensperre und stiegen auf der anderen Seite wieder auf die Lastwagen in Richtung Quito.

Sämtliche Bilder dieses Artikels stammen aus der Provinz Cotopaxi und deren Hauptstadt Latacunga. Sie wurden am Sonntag und Montag aufgenommen und zeigen sowohl die Strassenblockaden in der Gemeinde Pancaleo und Latacunga, als auch die Demonstrationen in der Provinz-Hauptstadt.

 

*RICHTIGSTELLUNG: Das ecuadorianische Militär wurde nicht unter der Regierung von Rafael Correa durch israelische Einheiten ausgebildet, sondern unter jener von Präsident Leon Febres-Cordero (1984-1988). Ausserdem sind Anfang September wieder ecuadorianische Spezialeinheiten – dieses Mal unter Präsident Lenin Moreno – zur Ausbildung nach Israel geschickt worden. Wir bedauern diesen Fehler.  

 

Sämtliche Bilder dieses Artikels stammen aus der Provinz Cotopaxi und deren Hauptstadt Latacunga. Sie wurden am Sonntag und Montag 6. und 7. Oktober 2019 aufgenommen und zeigen sowohl die Strassenblockaden in der Gemeinde Pancaleo und Latacunga, als auch die Demonstrationen in der Provinz-Hauptstadt.

 

Text und Bilder: Romano Paganini