Beim Landesstreik vor einem Monat sind im Andenstaat hunderte DemonstrantInnen teilweise schwerverletzt worden, auch durch Schusswaffen. Mindestens elf wurden getötet. Es sind Fakten, die die Regierung ignoriert. Gespräche mit ÄrztInnen, JuristInnen, Freiwilligen und Verletzten im Spital zeigen: das repressive Vorgehen von Polizei und Militär war unverhältnismässig.
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Edgar César Yucailla Álvarez: Erschossen
6. November 2019, Quito. – Als wir Edgar Yucailla vor zwei Wochen im Krankenhaus besuchten, war er wach und bewegte ein wenig seinen rechten Arm und sein rechtes Bein. Sein Kopf war mit einem weissen Verband umwickelt und die KrankenpflegerInnen hatten ihm Windeln angezogen. Der Präsident einer kleinen Organisation für kollektive Arbeitsgemeinschaften in Guamote, in der Provinz Chimborazo im Zentrum Ecuadors, litt an einem schweren Schädel- Hirntrauma, ausgelöst durch eine Bleikugel. Sein Gesicht glänzte an diesem Tag, doch sobald sein Bruder, der sich im achten Stock des Spitals Eugenio Espejo in Quito um ihn kümmerte, von diesem schicksalshaften Samstag Mitte Oktober erzählte, beschleunigte sich seine Atmung.
Es geschah am vorletzten Tag des Landesstreiks. Edgar Yucailla (32) kam an diesem Tag früh in den Park El Arbolito in Quitos Innenstadt, zusammen mit anderen compañeros. Die Bauern einer der ärmsten Provinzen des Landes zogen in die Hauptstadt, um ihre Unzufriedenheit, ihre Sorge und ihre Empörung über die wirtschaftliche Situation zum Ausdruck zu bringen. Aber statt auf offene Ohren zu stossen, stiessen sie auf eine Staatsgewalt, die zu töten bereit war. Edgar starb zwar nicht an diesem Vormittag, aber Zeugen berichten, dass ihm in den Kopf geschossen wurde. Von hinten, wie sein Bruder Carlos betont. Edgar fiel zu Boden und wurde erst von einem Freund ins Eugenio Espejo gebracht, nachdem sich das Tränengas verflüchtigt hatte. Seine Überlebenschancen waren gering.
Am Dienstag vor einer Woche dann, siebzehn Tage danach und fünf nach unserem Besuch, starb er. Edgar César Yucailla Álvarez ist das elfte Todesopfer, das in Zusammenhang mit dem Landesstreik steht.
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Die Verletzten und ihre Familien
Eines der ersten Bilder des Verletzten Salvador (55) im Eugenio Espejo erschien zwei Tage nach Streikende. Sein rechtes Bein, das von einer Tränengasbombe gebrochen wurde und nun mit Metallplatten in Gips eingewickelt ist, zirkulierte durch Facebook&Co. Verschiedene SpenderInnen brachten Umschläge mit Dollar-Scheinen auf sein Zimmer, und der Mann mit der Wollmütze nickte dankend, Gott werde sie behüten.
Salvador stammt aus Quisapincha, einem kleinen Ort im Herzen Ecuadors. Dort hat er ein kleines Stück Land, wo er Kartoffeln, Bohnen und Gerste pflanzt. Da er auf Grund der schlechten Bedingungen in der Landwirtschaft nicht davon leben kann, verkauft er seit Jahren Süssigkeiten in den Strassen der Provinzhauptstadt. Es ist einer von tausenden prekären Jobs im Land.
Deshalb kam er nach Quito, deshalb stellte er sich zusammen mit tausenden anderen BürgerInnen vor jenes Gebäude, in dessen Innerem die PolitikerInnen des Landes diskutieren: la Asamblea Nacional, die Nationalversammlung. Statt den VolksvertreterInnen kam Anfang Oktober das Volk selbst. Salvador war empört über das Dekret 883, das die Subventionen für Benzin und Diesel von einem Tag auf den anderen hätte streichen sollen – eine Massnahme, die den wirtschaftlichen Druck auf BürgerInnen wie ihn noch verstärkt hätte.
An diesem Nachmittag kurz nach fünfzehn Uhr beginnen Polizei und Militär auf die DemonstrantInnen zu schiessen. Eines der Geschosse trifft Salvador und bricht ihm das Schienbein. Das Blut fliesst über seine Socke und seinen Schuh. Seit diesem Tag Anfang Oktober liegt der Vater zweier Töchter und vierfache Grossvater im öffentlichen Spital, im Eugenio Espejo.
Neben seinem Bett im fünften Stock steht María Margarita, seine ältere Tochter. Als sie die Geschichte ihres Vaters hört, wahrscheinlich zum x-ten Mal, bricht sie plötzlich in Tränen aus. Sie erzählt von ihren Kindern im Alter von 8 bis 16 Jahren, die seit Tagen Zuhause ausharren und kaum etwas zu Essen hätten. „Er sichert uns das Leben“, sagt María Margarita, er sorge für Essen und Schulmaterial und gäbe den Kindern immer mal wieder etwas Kleines mit auf den Weg. Salvador ist das Oberhaupt der Familie und wenn er keine Süssigkeiten auf der Strasse verkauft, dann spürt das seine Familie. Doch bis er wieder beschwerdefrei arbeiten kann, werden Monate vergehen.
Polizei und Militär richteten Waffen auf die DemonstrantInnen
Es ist eine Situation, die sich in dutzenden Familien des Landes wiederholt. „Die Leute protestierten, weil sie bereits enorm unter Druck standen“, sagt Kary, eine Freiwillige, die Familien von Verletzten begleitet. „Doch jetzt sind viele der Verletzten noch schlimmer dran als zuvor.“ Dank der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen finanziert Kary Lebensmittel, Medikamente und auch Transport für die Betroffenen, etwa zum Spital. Die Psychologin hilft, freiwillige ÄrztInnen, AugenspezialistInnen und PsychologInnen zu finden, um jene Versorgung zu gewährleisten, die die öffentlichen Spitäler nicht bieten. „Einige der Verwundeten leiden unter einem Trauma“, sagt sie. „Einzelne haben sogar versucht, sich umzubringen.“
Während unseren Besuchen im Eugenio Espejo stiessen wir auf diese spürbare Verzweiflung. Zum Beispiel Juan Carlos (35) aus der Provinz Imbabura. Dem Obst- und Gemüsetransporteur ist eine Tränengasbombe in der Hand explodiert, als er versucht hatte, diese in Richtung Polizei zurückzuwerfen; noch ist unklar, ob der Mittel- und Ringfinger seiner rechten Hand amputiert werden müssen. Oder Julio (35) aus Chimborazo, der Taxifahrer, der durch den Einschlag einer Tränengasbombe ins Gesicht sein linkes Auge verloren hat. Oder Darwin (23), der Arbeiter aus der Provinz Pichincha, der ebenfalls sein Auge verlor, nachdem ihm die Polizei aus einem Panzerwagen in den Kopf geschossen hat. Oder Luis (27), der Maurer, ebenfalls aus Pichincha, dem durch einen Schuss aus nächster Nähe der Unterarm gebrochen wurde.
Alle vier sind Väter und alle vier wissen nicht, wann sie wieder arbeiten und Geld verdienen können oder ob sie überhaupt zu ihren Jobs zurückkehren können.
Sie bestätigen ausserdem, was Fotos und Videos belegen: Polizei und Militär richteten während des Landesstreiks ihre Waffen direkt auf die Körper der DemonstrantInnen. Und wenn Tränengas- oder Schrotbomben aus geringer Entfernung auf den Körper abgefeuert werden – das zeigt sich derzeit bei den Protesten im Irak – können sie tödlich sein.
Auf Grund einer Tränengas-Bombe das Schienbein gebrochen:
Strassenverkäufer Salvador (55) aus der Provinz Tungurahua.
Verlor sein linkes Auge, ebenfalls wegen einer Tränengas-Bombe:
Taxifahrer Julio (35) aus der Provinz Chimborazo.
Noch ist unklar ob er seinen Mittel- und Ringfinger amputieren lassen muss:
Transporteur Juan Carlos (35) aus der Provinz Imbabura.
Die Liste der Verwundeten im Eugenio Espejo kann noch verlängert werden: Etwa mit Wilmer (25) und Edwin (32), die beide durch Schüsse am Bein verletzt wurden. Oder Lorena, die am letzten Tag des Streiks mithalf, eine Strasse vor ihrem Haus zu blockieren. Als das Militär eintraf und zu schiessen begann, wollte sich die Schülerin in einem nahegelegenen Wald in Sicherheit bringen. Doch die Tränengas- und Schrotbomben fanden den Weg auch dorthin. „Plötzlich traf mich eine dieser Bomben und ich wurde ohnmächtig“, sagt das fünfzehnjährige Mädchen, eingehüllt in einen blauen Bademantel, in der Augenklinik des Krankenhauses liegend.
Mit einem Motorrad wurde sie zunächst in ein Regionalspital gebracht, musste dann aber auf Grund der Schwere der Verletzung ins Eugenio Espejo gefahren werden. Und während es den AnführerInnen der Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (Conaie) gelang, die Regierung dazu zu bringen, 883 aufzuheben, und sich die Strassen innert kürzester Zeit mit feiernden Menschen füllten, wurde Lorena in Quito operiert. Was das Mädchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: ihr linkes Auge war verloren.
Zu dieser Verherrlichung der Staatsgewalt kommt das öffentliche Gesundheitswesen, das nach Angaben freiwilliger ZeugInnen nicht geschlossen bereit war, die verwundeten DemonstrantInnen zu behandeln.
Erst nach der dritten und letzten Operation erfährt sie die Wahrheit. „Die Ärzte hatten Angst, dass sie es sonst nicht überleben würde“, sagt Cristina, Lorenas Tante. Sie war an besagtem Sonntag ebenfalls auf der Strasse und bildete mit anderen Frauen eine Menschenkette. Sie versuchten zunächst mit dem Militär zu sprechen. Immerhin haben viele der Nachbarn Verwandte und Bekannte in der Armee, inklusive der Cousin von Cristinas Mann. Ustedes también son del pueblo, skandieren sie, Auch ihr seid das Volk.
Doch in diesen Tagen – auch auf Grund der vom Präsidenten verhängten Ausgangssperre – bestand keine Dialogbereitschaft. „Damit wir nicht weiter protestierten, begannen sie Tränengas- und Schrotbomben auf uns abzufeuern“, erinnert sich Cristina. „Es waren derart viele Soldaten, dass ihre Geschosse auch den Wald erreichten. Es war ihnen egal, dass auch Kinder vor Ort waren“. Eines davon war Lorena.
Ihre Tante wird wütend, wenn sie über die Ursachen des Protestes nachdenkt. „Es war eine schlechte Entscheidung des Präsidenten“, sagt Cristina und schüttelt den Kopf. „Ich wehre mich dagegen, dass er das, was passiert ist, jetzt zu vertuschen versucht.“
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Die Angst der ÄrztInnen und die Zensur des Staates
Lorena, Edwin, Wilmer, Luis, Darwin, Julio, Juan Carlos und Salvador: Dies sind nur acht der 1340 verwundeten ZivilistInnen während des Nationalstreiks zwischen dem 2. und dem 13. Oktober 2019, die von der staatlichen Ombudsstelle registriert wurden. Hinzu kommen die 80 Soldaten, die 435 PolizistInnen und dutzende von Verwundeten, die ambulant auf der Strasse, in den Universitäten von Quito oder im Haus der Kultur behandelt wurden. Sie erscheinen genauso wenig in der offiziellen Statistik, wie jene Menschen, die sich aus Angst vor möglichen Repressionen gar nicht erst behandeln liessen. Für jene, die während des Streiks verletzt wurden, gab und gibt es keinen Schutz von Seiten des Staates.
Diese Ungewissheit ist auf eine Regierung zurückzuführen, die diese Realitäten von Anfang ausgeblendet hatte. Regierungsministerin Maria Paula Romo brachte die Geschichte in Umlauf, wonach die DemonstrantInnen, die mutmasslich von Sicherheitskräften getötet wurden, bei Unfällen ums Leben gekommen sind – obwohl in mindestens einem Fall Beweise in Form von Fotos und Videos vorliegen. Verteidigungsminister Oswaldo Jarrín warf den Universitäten vor, Versorgungszentren für Vandalen gewesen zu sein – ohne die Tränengasangriffe auf diese Einrichtungen zu erwähnen, von denen auch Mütter und Kinder betroffen waren. Und die Empörung der DemonstrantInnen wird auch einen Monat nach Ausbruch des Streiks nicht weniger, solange die Regierung Lenín Morenos auf Funktionäre wie Marcos López setzt – seines Zeichens Vorstandsmitglied für Währungs- und Finanzpolitik – der sich bewundernd über die chilenischen Sicherheitskräfte geäussert hatte, deren aggressives Eingreifen der vergangenen Wochen an die letzte Militärdiktatur (1973-1990) erinnerte. „Ich wünschte, wir wären wie Chile“, sagte López. „Wenn ein Karabinieri in Chile nicht respektiert wird, holt er seinen Revolver hervor, drückt ab und damit ist die Geschichte erledigt.“
Zu dieser Verherrlichung der Staatsgewalt kommt das öffentliche Gesundheitswesen, das nach Angaben freiwilliger ZeugInnen nicht geschlossen bereit war, die verwundeten DemonstrantInnen zu behandeln. Gemäss übereinstimmenden Aussagen mehrerer Verwundeter, die an die Indigenen-Organisation Conaie gelangt waren, um in Zusammenhang mit dem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) als Zeugen aufzutreten, wurden sie von öffentlichen Krankenhäusern zurückgewiesen und liessen sich vereinzelt privat behandeln oder hielten ihre Schmerzen schlicht ohne Behandlung aus.
„Verheimlichung durch den Staat“
Wir begannen ab dem dritten Tag nach Ende des Landesstreiks die Verwundeten im Eugenio Espejo zu besuchen, also in jenem Spital, wohin die meisten Verletzten eingeliefert wurden.
Unser Team plante zunächst Transparenz walten zu lassen. Doch als die privaten Sicherheitskräfte hörten, dass wir Journalisten sind, wurden wir zurückgewiesen. Sie kommen nur mit der Genehmigung der Direktion hinein, hiess es. Uns blieb also keine andere Wahl als die einer Undercover-Recherche, stets mit der Zustimmung der PatientInnen oder ihrer Verwandten, die uns den Zutritt ins Innere des Krankenhauses ermöglichten.
Die mangelnde Transparenz in Bezug auf die verletzten DemonstrantInnen scheint Programm zu sein. „Von allen Spitälern, die wir um öffentliche Informationen gebeten haben, hat nur eines angemessen reagiert“, sagt Ana Vera, Direktorin der Frauenrechtsorganisation Surkuna, die zusammen mit anderen Gruppen zur Verteidigung der Menschenrechte versuchte, an Informationen zu gelangen: wie viele DemonstrantInnen wurden behandelt, welche Verletzungen wiesen sie auf, waren es Kinder, Frauen oder Männer? „Ohne diese Informationen lässt sich keine Diagnose dessen stellen, was eigentlich passiert ist“, sagt Ana Vera. „Wir sind jedenfalls der Ansicht, dass dies bereits eine Verheimlichung von staatlicher Seite aus darstellt und das Recht auf Information hierbei verletzt wird.“
Angegriffen, trotz des weissen ÄrztInnenkittels
Das Klima der Angst, das während und nach dem Landesstreik entstanden ist, betrifft auch das Gesundheitspersonal. Wir haben versucht, mit ÄrztInnen vom Eugenio Espejo zu sprechen, doch diese antworteten stets mit leiser Stimme: Wenn ich etwas sage, verliere ich meinen Job. Ähnliche Reaktionen kamen von anderen ÄrztInnen, die während des Streiks im Einsatz standen. Sie haben uns ihre Erfahrungen zwar schriftlich mitgeteilt, wie etwa Daniela Morales*, die trotz weissem Kittel und weisser Flagge in der Hand von der Polizei aus einem Panzerwagen aus angegriffen wurde und schreibt: „Auf uns wurden Bomben geschossen, die wie Steine sind und jemanden, wenn er damit am Kopf getroffen wird, durchaus töten können.“ Allerdings schreibt sie in der gleichen Textnachricht auch, „dass es nicht verkehrt ist, an die möglichen Repressionen“ in Zusammenhang mit einer Aussage zu denken.
Lediglich zwei ÄrztInnen, die während des Streiks als Freiwillige im Einsatz standen, hatten den Mut, sich persönlich mit uns zu treffen – vorausgesetzt, wir würden ihre Anonymität wahren. EineR von ihnen erzählte uns bereits während des Streiks, dass die häufigsten Verletzungen in der Haut steckende Objekte sind, die auf die Bomben und andere Waffen der Polizei und des Militärs zurückzuführen sind. Zudem hätten mehrerer DemonstrantInnen ein Schädel- Hirntrauma erlitten, und es sei zu Verletzungen durch Schusswaffen gekommen. Letztgenannte Information bestätigt einE andereR ÄrztIn, die/der bei der Widerbelebung eines Demonstranten dabei war, der durch eine Bleikugel am Kopf verletzt wurde. „Dieser Patient“, sagt uns die Person im Gespräch, „wurde während den ersten zwölf Stunden im Krankenhaus nicht registriert. Ich weiss das, weil ich vorbeigegangen war.“
Verlor ihr linkes Auge, als sie sich vom Militär im Wald verstecken wollte:
Schülerin Lorena (15) aus Sangolqui, einem Vorort von Quito.
Auch Edgar Yucailla, der Bauer aus Chimborazo, wurde durch eine Bleikugel getötet. Louisa Lozano, die die Verwundeten und ihre Familien begleitet, sagt: „Wir haben den strafrechtlichen Untersuchungsbericht, und dort heisst es, dass Edgars Tod auf den Angriff einer Schusswaffe zurückzuführen ist.“ Die Vertreterin der Indigenen-Organisation Conaie weist darauf hin, dass „in anderen Fällen leider keine entsprechende strafrechtlichen Untersuchungen“ stattgefunden und die ÄrztInnen stattdessen den Körper des Verstorbenen direkt an die Angehörigen übergeben hätten, mit dem Hinweis, dass sie oder er „eines natürlichen Todes gestorben“ sei.
Zusammen mit anderen unabhängigen Medien haben wir versucht, sowohl die Direktion des Eugenio Espejo als auch die Verantwortlichen des Gesundheitsministeriums zu interviewen. Wir wollten wissen, was sie zu den Vorwürfen zu sagen haben. Beide Institutionen ignorierten unsere Anfrage.
„In den Spitälern gibt es viele ÄrztInnen, die über die Situation im Land empört sind“, sagt Louisa Lozano. „Sie kennen den Ernst der Lage und die Situation ihrer PatientInnen. Sie haben uns gebeten, ihre Namen zu schützen, um dadurch nicht ihren Job zu verlieren, allerdings sollen wir das Geschehene durchaus erwähnen.“
Von der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen
Einer dieser Punkte, über die sich die ÄrztInnen empören, ist die Tatsache, dass einzelne Krankenakten nicht mit dem Geschehenen übereinstimmen. „Ich glaube, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission all das zu gegebener Zeit sichtbar machen wird“, sagt Louisa Lozano, „denn wir haben klare Beweise.“ Die Conaie, genauso wie andere Organisationen aus der Zivilgesellschaft sowie Einzelpersonen haben vergangene Woche ihre Akten bei der Kommission hinterlegt.
Die Hoffnung auf Gerechtigkeit ruht nun auf deren Schultern, genauso wie auf jenen der UNO, die bis zum 8. November Beweise zum Geschehenen sammelt.
Die Frauenrechtsorganisation Surkuna hat in den vergangenen Tagen mehrmals versucht, bei der Staatsanwaltschaft Klagen von Verwundeten einzureichen – erfolglos. „Sie argumentierte, dass wir einen staatlich anerkannten Mediziner dazu bräuchten“, sagt Direktorin Ana Vera, „eine Anforderung, die vom Gesetz nicht vorgesehen ist.“ Surkuna hat deshalb bereits eine entsprechende Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. „Was uns allerdings beunruhigt“, sagt Vera, „was passiert mit denjenigen, die nicht über dieses Wissen verfügen? Vielleicht werden ihre Klagen zwar behandelt, aber die Untersuchung letztlich von der Polizei durchgeführt. Wir verlangen deshalb, dass die Investigation von einem akkreditierten Sachverständigen durchgeführt wird, der keinerlei Verbindung zur öffentlichen Sicherheit hat.“
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Röntgenbild von Edwin (32):
Um die Schrotteile aus seinem linken Bein zu holen, musste er sich mehrmals operieren lassen.
Epilog
Edgar Yucaillas Körper wurde nach der Autopsie in die Zentrale der Conaie in Quito gefahren, wo eine Zeremonie zu seinen Ehren stattfand. Sein Bruder Carlos, der Rest der Familie und seine compañeros aus Guamote fuhren ihn darauf zurück an jenen Ort, wo er einst Kühe gemolken sowie Kartoffeln, Karotten und Erbsen gepflanzt hatte.
„Edgar war wie ein Vater für mich“, sagte Carlos an jenem Tag am Spitalbett. „Er kam nach Quito, weil er das Beste für uns wollte.“
Die compañeros von Edgar hatten Carlos erzählt, was an jenem 12. Oktober im Park El Arbolito geschehen war. Er selber reiste zwei Tage später nach Quito und versuchte mehrmals, an die Krankengeschichte seines älteren Bruders zu kommen. Doch das Spitalpersonal schwieg und bezog sich auf einen entsprechenden Gesetzesartikel. Dies geschah auch bei PatientInnen, die im Gegensatz zu Edgar sprechen konnten und gemäss Gesetz das Recht hatten, Informationen zu ihrer Krankengeschichte zu erhalten. Doch die Antwort, die viele von ihnen erhielten: Da es sich um heikle Fälle handelt, werden wir Ihnen Ihre Krankengeschichte nur im Rahmen einer gerichtlichen Untersuchung aushändigen.
Zu solchen wird es nun zweifellos kommen. Denn sämtliche Verletzte, die wir interviewt haben, wollen Klage gegen den Staat einreichen. „Das Ganze darf nicht unbestraft bleiben“, sagte etwa Julio, der Taxifahrer aus Chimborazo. „Ich habe ein lebenswichtiges Organ verloren: mein Auge! Keine Million Dollar wird diese Wunde heilen. Deshalb denke ich, dass wir gemeinsam mit den anderen Verwundeten Gerechtigkeit verlangen müssen.“
*Name geändert
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Text: Romano Paganini
Fotos: Kevin Tapia
Mitarbeit: Acapana, Cabaliofilms sowie die Redaktion von mutantia.ch
Hauptbild: Carlos Yucailla zusammen mit seinem Bruder im Spital Eugenio Espejo in Quito. Fünf Tage nach Aufnahme dieses Bildes starb Edgar an seinen schweren Kopfverletzungen. Grund war ein Kopfschuss während den Demonstrationen im Park El Arbolito am 12. Oktober 2019 im Zentrum Quitos (mutantia.ch).