„Die Gemeinschaften müssen den Staat neu konstruieren“

Als ehemaliger Minister der ecuadorianischen Regierung kennt Alberto Acosta „das Monster von Innen“, wie er selber sagt. Ein Gespräch mit einem Mann, dessen Leben aus Klicks und Anekdoten besteht und der sich heute gegen jene Industrie wehrt, in die er als junger Mann einst seine Hoffnungen gesetzt hatte: jene des Erdöls.  

16. September 2019, Quito. – Alberto Acosta hat einen langen Weg hinter sich: Mitarbeiter der staatlichen Erdölfirma, Energie-Minister, Präsident der verfassungsgebenden Kommission, Präsidentschaftskandidat, Verfechter des Buen Vivir und heute unermüdlicher Kämpfer für die Rechte der Natur. Er selber sagt: „Ich weiss, dass ich heute nicht an diesem Punkt wäre, wenn ich nicht all die anderen Prozesse durchlaufen hätte.“

Derzeit befindet sich der 71-Jährige in Europa, um dort über Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell zu diskutieren, unter anderem mit Postwachstumsökonom Niko Paech von der Universität Oldenburg. Dort wirft der vielgereiste Mann, der sein Betriebs- und Volkswirtschaftsstudium während der Siebzigerjahre in Köln absolvierte und einzelne Seminare zu Politikwissenschaften in Bonn besuchte, unter anderem eine Frage auf, die angesichts der nationalistischen Tendenzen – nicht nur in Europa – gehörig Zündstoff birgt: Ist der Nationalstaat noch zeitgemäss?

Wenige Tage vor dem Abflug nach Deutschland erörterte der dreifache Vater und mehrfache Grossvater diese und andere Fragen im Gespräch mit mutantia.ch. Die Konversation fand in Quito statt, in einem Café an der Gonzalez Suarez, so etwas wie das Pendant zur Zürcher Goldküste. Alberto Acosta, der unweit von hier wohnt, kommt gerade von einem Interview mit einer Doktorandin aus Hamburg, die über Naturrechte promoviert. Er bestellt sich einen Früchtetee, geht ausführlich auf die Fragen seines Gegenübers ein, und beweist gleichzeitig, dass er die Gesprächsführung gerne selbst übernimmt. Ganz im Stil eines Politikers. 

 

Was macht ein ehemaliger Minister Ecuadors im Ruhestand?

Er arbeitet! Als Rentner habe ich mehr Zeit zum Arbeiten (lacht)

 

Und das, was sie davor getan haben – war das keine Arbeit?

Ich sage nicht, dass ich nicht gearbeitet habe: Ich war Universitätsprofessor an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso) hier in Quito. Die Arbeit dort wurde in den vergangenen Jahren jedoch durch eine Reihe bürokratischer Hindernisse immer unbefriedigender. Das Ausfüllen von Formularen, das Erstellen von Berichten, das Schreiben für Fachzeitschriften in einem äusserst begrenzten Rahmen: das fand ich am Ende alles sehr langweilig. 

 

Hinzu kommt, dass in Ecuador Universitätsprofessoren, die Master- oder Doktoratsstudiengänge begleiten, seit ein paar Jahren verpflichtet sind, einen Doktortitel zu tragen. Was halten Sie von solchen Regeln?

Starre Regeln wie diese sind immer ein Fehler. Ich selbst habe keinen Doktortitel und konnte irgendwann nicht mehr unterrichten. Allerdings glaube ich, dass es immer Menschen gibt, die an einer Universität etwas beitragen können – auch ohne höhere akademische Ausbildung.  

 

Inwiefern?

Durch ihre Erfahrung. Die Universität muss meiner Meinung nach einen qualitativen Sprung wagen. Wir sollten vielmehr über die Pluriversität sprechen, die es uns ermöglicht, anzestrales Wissen zurückzugewinnen. Ich meine damit das Wissen unserer indigenen Vorfahren und damit auch den Ursprung einer anderen Weltauffassung. Vor ein paar Jahren wurde an der Universität Yachay, einem von der Regierung Correa aus dem Boden gestampften Campus in der Provinz Imbabura, Professoren gesucht, die zum Thema Buen Vivir (gut leben) unterrichten. Damals gab es keine Person, die in Ecuador dazu promoviert hatte. Und eigentlich hätte man eine indigene Frau oder einen indigenen Mann einladen sollen, der das Buen Vivir aus eigener Erfahrung kennt. Doch am Ende wurde jemand eingestellt, der in Spanien seine Doktorarbeit darüber geschrieben hatte – völliger Blödsinn!

„Sozialist, Kommunist, ein Roter – so nennen sie mich nun schon mein ganzes Leben lang. Heute identifiziere ich mich zweifellos mit der Linken“: Alberto Acosta (71).                                                           BILD: Alejandro Ramirez Anderson 


Sie stammen aus einer konservativen Familie der ecuadorianischen Oberschicht. Ihr Grossvater war Bankier bei der Bank Pichincha, genauso wie ein Onkel von Ihnen. Sie hingegen kämpfen seit Jahren gegen transnationale Firmen und die Rohstoff-Ausbeutung im Land. Sind Sie schon immer gegen den Strom geschwommen?

Ich war schon als Kind ein unruhiger und rebellischer Mensch und nicht zufrieden mit der Welt wie sie ist. Da muss sich irgendein Gen falsch entwickelt haben. 

 

Wie äusserte sich Ihr Rebellentum?

Ganz unterschiedlich. Ich war damals ein Rebell ohne Grund. Danach hatte ich meine Gründe, aber einige Dinge kann ich jetzt nicht erwähnen, immerhin nehmen Sie dieses Gespräch ja auf (lacht). In Deutschland studierte ich zwar Wirtschaft, aber ich ging auch nach Europa, weil sie mich hier nicht mehr ausstehen konnten. 


Ernsthaft?

Naja, ich reiste nach Deutschland, um mich dort für die Ausbeutung unserer Ressourcen vorzubereiten. Wir wussten damals bereits, dass es in Ecuador Erdöl gibt, und auch mein Vater wollte, dass diese Ressourcen ausgebeutet werden.  

 

Woher wussten Sie Bescheid?

Über die Presse natürlich. Und über meinen Grossonkel José Maria Velasco Ibarra, der in diesem Moment zum fünften Mal Präsident der Republik war. Im Februar 1969 war ich als zwanzigjähriger vor Ort im Amazonas-Becken, um die ersten Erdöl-Ausbeutungen kennenzulernen. Damals herrschte im ganzen Land Aufbruchstimmung und man glaubte, mit dem Erdöl alle Probleme lösen zu können. Eine mexikanische Zeitschrift schrieb sogar vom Kuwait der Anden.  


Spürten Sie als Rebell keine Abneigung gegen diese massive Ausbeutung der Natur? 

Nein, denn ich befand mich auf einer Linie mit der Möglichkeit, diese Ressourcen zu nutzen und so die Probleme des Landes zu lösen. Als ich in Deutschland war, begann ich, dieses traditionelle Muster der Integration in den Weltmarkt in Frage zu stellen, insbesondere was Ecuador als Produzenten und Exporteur von Rohstoffen betrifft … 


… bestimmt auch unter Einfluss von Eduardo Galeanos Buch Offene Adern von Lateinamerika?

Galeano spielte sicherlich eine Rolle, ja. Aber auch unsere Geschichte. Ich mochte Geschichte schon immer, denn sie hilft, zu verstehen. Damals wurde mir klar, dass der Export von Rohstoffen ein ernsthaftes Problem darstellt. Deshalb begann ich das Thema zu vertiefen und erkannte, dass das Ganze wesentlich komplexer ist und eine stärkere Beteiligung des Staates erfordert. 

 

Als Regulierungsinstanz?

Eher als aktiver Akteur innerhalb der Wirtschaft. Nach meinem Studium in Deutschland und meiner Rückkehr nach Ecuador war ich einerseits voller Zweifel, andererseits hatte ich klare Vorstellungen. Ich war äusserst kritisch mit der Transnationalisierung der Wirtschaft und betrachtete es als unabdingbar, die Beteiligung Ecuadors als Exporteur von Rohstoffen an den Weltmarkt zu überprüfen. Mir war enorm wichtig, dass der Staat die Erdöl-Ausbeutung kontrollierte. Damals begann ich für die staatliche Erdölfirma CEPE (Corporacion Estatal Petrolera Ecuatoriana) zu arbeiten und wurde zum Anhänger staatlicher Interventionen. Und das alles mitten im Kalten Krieg. 

 

Man drückte Ihnen den Stempel des Sozialisten auf.

Sozialist, Kommunist, ein Roter – so nennen sie mich nun schon mein ganzes Leben lang …

 

Und konnten Sie sich mit diesen Bezeichnungen identifizieren?

Schritt für Schritt, ja. Heute identifiziere ich mich zweifellos mit der Linken.  


 


„Wenn du nur noch jene Bücher liest oder jenen Menschen zuhörst, mit denen du einer Meinung bist, dann bestätigst du lediglich das, was du bereits weisst oder glaubst, dass es das Richtige ist.“



 

Machten Sie sich keine Gedanken zu den Verschmutzungen, die durch die Ausbeutung von Erdöl entstanden? 

Das habe ich damals gar nicht registriert. Zudem wurde kaum darüber gesprochen. (Pause) Rückblickend durchlebte ich diesbezüglich verschiedene Brüche. Es brauchte verschiedene Klicks, um dort anzukommen, wo ich heute stehe. Schliesslich komme ich aus einer traditionellen Familie, studierte Wirtschaft an einer äusserst orthodoxen Universität und war überzeugt davon, dass es für die Probleme unserer Zeit nationalstaatliche Lösungen braucht. Der Öko-Klick kam erst viel später. 

 

Wann genau?

Als ich 1985 meine heutige compañera kennenlernte, Anamaria Varea. Wir besuchten damals San Rafael, einen wunderschönen Wasserfall auf dem Weg von Quito runter ins Amazonas-Becken. Wir waren mit einem befreundeten Pärchen unterwegs, und als wir an der Erdöl-Pipeline vorbeikamen, sagte ich zu ihnen: Seht, das ist die Halsschlagader der ecuadorianischen Wirtschaft. Hier strömt der Reichtum des Landes vorbei. Und sie als Biologin und Ökologin antwortete mir: Da fliesst das Blut des Amazonas’.

 

Worauf Sie erschraken, oder?

Erschrocken bin ich nicht, aber es hatte wieder einmal Klick gemacht. Durch den Einfluss ihrer Arbeit und jener andere Leute aus unserem Umfeld bin ich auf Umweltfragen erst aufmerksam geworden. Aber natürlich: Das geht nicht von einem Tag auf den anderen. Ich bewundere die Menschen, die diesbezüglich von Anfang an Bescheid wissen. Allerdings hängt das stark davon ab, wo man geboren und wie man sozialisiert wird, in welcher Familie man aufwächst und welche Studien man absolviert. Ich komme nunmal von der anderen Seite.

 

Von welcher Seite?

Von der dunklen Seite der Macht, wie es auch in Krieg der Sterne gesagt wird. Ich stamme aus einer konservativen Familie mit einer traditionellen Weltauffassung, und begann erst spät zu erkennen, dass es zum Beispiel keine Technologie gibt, welche die Natur vor Erdöl-Verschmutzungen schützt. Allerdings verstand ich das erst, als die Bohranlage der British Petroleum im Jahr 2010 im Golf von Mexiko versank. Wieder klickte es. Um es mit den Worten von José Marti auszudrücken, dem kubanischen Schriftsteller und Dichter, der viele Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hatte: Ich kenne das Monster von innen.

 

Nun, was also müssen wir über dieses Monster wissen? 

Dass es uns alle verschlingen wird! Das kapitalistische System lebt davon, Leben zu unterdrücken. Egal ob Menschen oder Natur. Die grosse Herausforderung besteht darin, wie Gesellschaften in eine andere Richtung bewegt werden können. Die ecuadorianische Gesellschaft zum Beispiel, ja eigentlich ganz Lateinamerika, verfügt über eine Art extraktivistische DNA. Und das ist nicht einmal eine Frage von links oder rechts. Sie können sogar mit volksnahen Sektoren sprechen, die sich als links bezeichnen, ja sogar zum Sozialismus tendieren: unter dem Strich sind auch sie extraktivistisch. 

 

Wenn Sie von einer extraktivistischen DNA sprechen, dann ist der Staat …

 …ja, für mich war der Staat lange Zeit auch ein sehr starker Bezugspunkt. Ich habe Ende der 1990er Jahre sogar ein Buch geschrieben mit dem Titel Der Staat als Lösung. Heute finde ich, wir sollten den Staat als solches überdenken. Ich frage mich, ob der Staat vielleicht sogar verzichtbar wird und wir über Gesellschaften ohne Staat nachdenken müssen. (Pause) Meine Texte prägten mein Leben und mein Leben prägt meine Texte. Aber was ich früher gesagt oder geschrieben habe, heisst nicht, dass ich das nach wie vor so sehe. Das hängt immer auch mit der jeweiligen politischen Situation zusammen. Mir fällt es jedenfalls schwer, starre Positionen aufrecht zu halten. Ich stelle mich dauernd in Frage, zweifle und führe Diskussionen mit mir selbst. 

 

Das erlaubt Ihnen auch, besagte Klicks zuzulassen. 

Klar, es ist ein Prozess des ununterbrochenen Klick-Machens. 

 

Hatten Sie nie das Gefühl, zu spät zu kommen? 

Nein, zu keinem Zeitpunkt! Ich weiss, dass ich heute nicht an diesem Punkt wäre, wenn ich nicht all die anderen Prozesse durchlaufen hätte. Es muss einen Prozess geben und ich werde auf meinem weiteren Weg sicherlich noch weitere Klicks erfahren …

 

…bis…

…na bis dann eben der finale Klick kommt (er lacht). Diesbezüglich habe ich allerdings einen gewissen Vorteil. 

 

Weil sie die dunkle Seite der Macht kennen?

Absolut! Ein Beispiel sind meine Freunde, die sich über die Mitarbeiter der Erdöl-Industrie ärgern. Ich hingegen verstehe die petroleros, denn ich bin mir bewusst, dass sie dazu ausgebildet worden sind. Ihre Welt beginnt und endet dort, wo sich der Stacheldraht der Anlage befindet. Sie glauben, dies sei das Zentrum des Universums, der Nabel von Wirtschaft und Gesellschaft.

 

Mit anderen Worten: Sie sind der Meinung, dass man den petroleros mit mehr Verständnis begegnen sollte, damit sie ihre persönlichen Prozesse durchlaufen könnten?

Vielleicht. Oder einfach, um zu erfahren, warum sie tun, was sie tun. Und natürlich, um Argumente zu sammeln und ihnen aufzuzeigen, dass sie falsch liegen. Ein aktuelles Beispiel: Wie soll man sich gegenüber der ecuadorianischen Bergbau-Industrie verhalten? Du kannst es über die comunidades machen – das ist verständlich, denn deren Lebensbedingungen werden direkt beeinträchtigt. Aber mir scheint, dass wir auch auf anderer Ebene argumentieren müssen, etwa dahingehend, dass solche Projekte nicht nur sozio-ökologischen Schaden anrichten, sondern auch unrentabel sind – und deshalb keinen Sinn machen. Man muss diese Argumente kennen. Ecuador ist ein typisches Produkt- oder auch Rohstoff-Land: Kakao-Land, Bananen-Land, Blumen-Land, Shrimps-Land, Erdöl-Land und jetzt streben wir danach, ein Bergbau-Land zu werden. Doch haben wir unsere Probleme gelöst? Nein!

Alberto Acosta mit Berufskollege Niko Paech von der Universität Oldenburg nach einer gemeinsamen Diskussionsveranstaltung 2018 in Deutschland.                                                                                              BILD: Privatarchiv AA


In Ihren Vorträgen betonen Sie stets, dass die Türen für alle Akteure offen gehalten werden müssen, gerade auch bei der Rohstoffausbeutung. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Wenn du nur noch jene Bücher liest oder jenen Menschen zuhörst, mit denen du einer Meinung bist, dann bestätigst du lediglich das, was du bereits weisst oder glaubst, dass es das Richtige ist. Oft ist es aber gut, sich andere Weltanschauungen anzuhören. Zudem ist es die Grundlage aller demokratischen Prozesse. Über autoritäre Formen lässt sich keine demokratische Gesellschaft aufbauen.   

 

Ist Ecuador ein demokratisches Land?

Es ist eine Demokratie, die noch in den Kinderschuhen steckt. Ich würde sagen, dass die Demokratie als Prozess einer endlosen Radikalisierung betrachtet werden muss. 

 

Endlose Radikalisierung?! 

Stets mehr Demokratie, niemals weniger. Und wenn ich an Demokratie denke, denke ich nicht nur an die Wahlen, sondern auch daran, wie wir entscheiden und wie wir uns organisieren. Demokratie beginnt letztlich zuhause und in den Gemeinden. Gerade heute erschien von mir ein entsprechender Artikel auf der Online-Platform Rebelion (auf Spanisch). 

 

Und was ist der Fokus dieses Beitrages?

Die Welt aus der Sicht der Quartiere und Stadtviertel zu denken. Ich erinnere mich an eine Kampagnenreise nach Guayaquil, Jahre ist es her, da kam eine junge Dame auf mich zu und sagte: Hören Sie, Herr Ökonom, ich werde für Sie stimmen, aber Sie brauchen mir nicht sagen, was ich zu tun habe, denn Sie leben nicht in diesem Quartier und haben auch keine Lösungen parat. Das war eine weiterer Klick. Wir setzten uns also hin und suchten nach gemeinsamen Lösungen für das Quartier. Ich war damals höchstens eine Art Gesprächspartner, aber weiter nichts. Da wurde mir klar, dass es in der Welt Unmengen von Vorschlägen und Ideen gibt, Tausende! 

 

Und warum sind diese Veränderungen in unserem Alltag noch nicht sichtbar?

Sie sind sichtbar! Aber wir nehmen sie nicht wahr. (Pause) Wenn du ein wenig still bist und zuhörst, hörst du die Zukunft atmen, wie der deutsche Journalist Ulrich Grober zurecht sagt. Ja, sie atmet bereits! Die Sache ist nur, dass wir gewohnt sind, auf DIE Antworten zu warten, auf DIE Modelle und DIE Lösungen aus Makroökonomie und von Seiten des Staates.

 

Antworten, Modelle und Lösungen, die in diesem Falle nicht kommen werden? 

Wir müssen unsere Vorstellung vom Nationalstaat als strategisch unabdingbar überwinden. Ich möchte den Staat als solches nicht minimieren, aber ich glaube nicht, dass für die Krisen unserer Zeit von staatlicher Seite Lösungen kommen werden. Wie ich bereits vorhin erwähnt habe, sollten wir über eine Gesellschaft ohne Nationalstaat nachdenken. Aber nicht ein neoliberaler Staat, sondern wenn, ein plurinationaler. Und ich sage das nicht als Antwort, sondern als Frage. Wir müssen das – wir müssen uns – konstruieren, und zwar mit so viel Gemeinschaft wie es nur geht. Denn von den Gemeinschaften aus können wir auch die Märkte neu denken – Märkte, die von eben jenen Gemeinschaften kontrolliert werden. Sogar das Geld sollten sie kontrollieren. Denn je mehr die Gemeinschaft das politische und wirtschaftliche Leben kontrolliert, desto grösser ist ihre Autonomie.

 

Können Sie das konkretisieren?

Wichtig ist die Selbstversorgung zu erhöhen, konkretes Handeln zu ermöglichen und geringere Abhängigkeiten von den oligarchischen Mächten, transnationalen Unternehmen und auch vom Nationalstaat zu schaffen. Was wir brauchen? Eine Umverteilung des Reichtums sowie andere Strukturen der Produktion und des Konsums. Die Gemeinschaften müssen den Staat neu konstruieren. Denn heute ist der Staat die sichtbare Hand des Marktes. 

 

Von oben…

… von unten kommen die Antworten. Auch durch den technologischen Fortschritt wirst du mehr Antworten von unten geben können, als du dir vorstellen kannst – bis hin zu Dingen, die unmöglich scheinen, wie etwa die eigene Stromversorgung. Dabei gibt es Häuser, die bereits heute alleine mit Solarenergie funktionieren: Auf der einen Seite versorgst du dich selbst, auf der anderen verkaufst du den Überschuss. Das ist ein Vorteil für kleine Unternehmen. Dadurch kitten wir das soziale Gefüge und zerstören gleichzeitig alles, was mit grossen und weiten Lieferketten zu tun hat. Das Pluriversum ist in Bewegung. Auch in der Schweiz gibt es interessante Ansätze, wie zum Beispiel die Volksabstimmung zur Grundrente oder die Vollgeld-Initiative im vergangenen Jahr.  

 

Aber beide wurden abgelehnt und zwar ziemlich deutlich. 

Ich weiss, aber das Thema ist nun auf der Agenda und das ist gut so. Wir müssen zuhören und beobachten, nicht nur sehen und hören. Verstehen ist die grosse Aufgabe unserer Zeit. Nur so können wir die Welt verändern.
 

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Kurz vor Veröffentlichung dieses Interviews hat uns Alberto Acosta eine Mail auf Deutsch geschrieben. Die Betreffzeile: „Noch ein Klick“. Auf Grund der Thematik haben wir entschieden, dessen Inhalt an dieser Stelle widerzugeben:

„Ich selbst habe viele Jahrzehnte als Professor für Entwicklungstheorie in Ecuador und im Ausland zu dem Themenfeld geforscht. Aber jetzt fühle ich mich wie ein Astronomieprofessor, der, nachdem er jahrelang in den Himmel gestarrt hat, feststellen muss, dass der von ihm beobachtete Stern erloschen ist. Oder noch schlimmer: dass dieser vermeintliche Stern nur das reflektierte Licht komplexer Sternenbeziehungen war. „Entwicklung“ ist eine Fata Morgana, der die Menschheit blind hinterher läuft.
Daher müssen wir begreifen, dass es sich beim Ende des Entwicklungszeitalters um einen Epochenbruch handelt. Wir müssen uns vom Zeitalter des zerstörerischen Entwicklungsmodells und der traditionellen Idee des Fortschritts verabschieden.
 

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Text: Romano Paganini

Hauptbild: „Ich war schon als Kind ein unruhiger und rebellischer Mensch“: Alberto Acosta auf einem Kinderspielplatz im Stadtteil La Floresta, Quito. (Alejandro Ramirez Anderson)