In Staaten wie Ecuador, wo die finanziellen Unterschiede zwischen arm und reich ohnehin schon gross sind, wird die soziale Ungleichheit durch die Covid-19-Pandemie nochmals verstärkt. Viele leiden bereits seit Wochen an Hunger, trauen sich auf Grund der Ansteckungsgefahr aber nicht, deswegen auf die Strasse zu gehen. Wer es dennoch wagt, muss mit der harten Hand des ecuadorianischen Staates rechnen.
23. Juli 2020, Quito – Die Lage in Ecuador ist unübersichtlich. So viel lässt sich sagen. Die Regierung hatte Anfang Juni beschlossen, die Quarantäne wegen der Covid-19-Pandemie teilweise zu lockern. Der öffentliche Verkehr wurde unter Sicherheitsvorschriften wieder in Betrieb genommen, einzelne Geschäfte öffneten ihre Türen. Der Krisenstab stellte in der Hauptstadt Quito das Wochen zuvor etablierte Ampelsystem von rot auf orange, ähnlich wie anderswo im Land, allerdings verstand die Mehrheit der Bevölkerung dieses Signal als grün – eine Reaktion, die zur aktuellen Unübersichtlichkeit beitrug, die aber mehr als verständlich ist.
Denn seit dem Lockdown, der im Andenstaat am 17. März in Kraft getreten war – inklusive einer rigorosen Ausgangssperre ab 14 Uhr – verloren Zehntausende im Land von einem Tag auf den anderen ihr Einkommen. Neben zahlreichen ArbeitnehmerInnen, sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Sektor, die entweder auf Kurzarbeit gesetzt wurden oder direkt die Kündigung erhalten hatten, waren insbesondere die vendedores ambulantes von den Massnahmen betroffen. Also jene Frauen, Männer und Kinder, die Früchte, Gemüse, Haushaltsartikel oder Handyzubehör auf den Strassen oder in Bussen verkaufen: ohne Arbeitsvertrag, ohne Versicherung, ohne Rente. Sie leben von den Brotkrümeln einer Wirtschaftsordnung, für die sie gar nie vorgesehen waren. Polizei, Funktionäre und PolitikerInnen würden die informellen ArbeitnehmerInnen am liebsten aus dem öffentlichen Leben verbannen. Die Rede ist von knapp vier Millionen Personen – und damit von einem Viertel der ecuadorianischen Bevölkerung.
„Die Polizei verfolgt uns, als ob wir Verbrecher wären“, rief ein Repräsentant der StrassenverkäuferInnen vergangene Woche während einer Demonstration. „Aber wir sind keine Verbrecher! Wir wollen lediglich arbeiten, denn der Strassenverkauf ist unser einziges Einkommen“. Zur Demonstration hatten über zwanzig Gewerkschaften, Arbeiter- und Studentenorganisationen aufgerufen. Gekommen waren jedoch gerade mal dreihundert Personen. Octubre volverá, skandierten sie und zogen durch die Häuserschluchten der Hauptstadt. Oktober wird wieder kommen. Gemeint ist der Landesstreik vom Herbst 2019, bei dem zwölf Tage lang zehntausende BürgerInnen auf die Strasse gingen und das Land lahm gelegt hatten.
La lucha es la respuesta, Der Kampf ist die Antwort – Aus Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 haben vergangene Woche nur wenige BürgerInnen an den Protesten gegen die Regierung teilgenommen: ein Strassenverkäufer wehrt sich bei einer Kundgebung im Zentrum von Quito gegen die Kriminalisierung seiner Arbeit. – BILD: Romano Paganini
Doch von einem solchen Szenario ist Ecuador im Moment weit entfernt. Die indigene Landbevölkerung, die für Mobilisierungen entscheidend ist, haben sich in ihren Kommunen isoliert. Die Stadtbevölkerung – zumindest jene, die es sich leisten kann – bleibt ebenfalls Zuhause. Das war letztlich auch der Hauptgrund, weshalb sich 24 Stunden vor der Demonstration ein Grossteil der Organisationen zurückgezogen hatten: aus Angst vor einer möglichen Ansteckung. Und auch aus Angst davor, dass die Regierung ihnen die Schuld in die Schuhe schieben könnte, sollte es zur weiteren Verbreitung von Covid-19 kommen …
Viel Hilfe von Mensch zu Mensch
Wie viele Menschen sich in Ecuador tatsächlich mit Covid-19 angesteckt haben, ist – ähnlich wie anderswo – auf Grund unzuverlässiger Tests und Angaben nicht klar. Gemäss des nationalen Gesundheitsministeriums haben sich bis am vergangenen Sonntag, 19. Juli 2020 rund 74.000 Personen infiziert, 5.300 sind an den Folgen der Erkrankung gestorben. Es sind Zahlen, die vorsichtig gelesen werden müssen, zumal die ecuadorianische Regierung kurzzeitig keine Statistiken mehr erfasst hatte und die Angaben über Infektionen in ländlichen Gebieten teilweise ganz fehlen. Hinzu kommt der Kollaps des Gesundheitssystems der Küstenstadt Guayaquil im April. Gemäss Angaben der Provinzverwaltung von Guayas, zu der Guayaquil gehört, sind zwischen März und Mai knapp 19.000 Menschen gestorben – ein vielfaches dessen, was sonst üblich ist. Doch diese Zahlen geben bis heute Rätsel auf, denn es konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden, wie viele dieser Personen tatsächlich an Covid-19 gestorben waren. Denn parallel dazu ist es an verschiedenen Orten im Land zum Ausbruch des Dengue-Fiebers gekommen. Und auf Grund des Kollaps konnten andere Krankheiten nicht oder nur teilweise behandelt werden. Hinzu kommt eine andere Krise, die erst am Anfang steht und die das Immunsystem der Menschen in ihren Grundfesten trifft: jene des Hungers.
Ecuador litt bereits vor Covid-19 an einer anhaltenden Wirtschaftskrise. Diese ist inzwischen in eine Rezession gemündet. Beobachter sprechen gar von der schlimmsten Krise seit Republiksgründung vor knapp 200 Jahren. Vielen Menschen steht das Wasser heute schon nicht nur bis zum Hals sondern bis unter die Nasenspitze. Eine öffentliche Diskussion über die Verteilung von Lebensmitteln findet kaum statt. Stattdessen verdorren auf den Äckern die Kartoffeln und anderes Gemüse. Leonidas Iza, indigener Führer und Vorkandidat für die Präsidentschaftswahlen in einem halben Jahr, hatte zusammen mit anderen Indigenenorganisationen bereits im April vorgeschlagen, dass die Regierung die Produktion der Bauern aufkaufen und dann kostenlos an die bedürftige Bevölkerung abgeben soll. Er wurde ignoriert.
Und so hilft sich die Zivilgesellschaft so gut es geht selbst, etwa mit regionalen Netzwerken zur Lebensmittelversorgung zwischen Stadt und Land, oder auch mit Tauschhandel zwischen Berg- (reich an Hülsenfrüchten und Kartoffeln) und Küstenregion (Früchte und Fisch). Gleichzeitig landet in den Städten das Essen aber nach wie vor tonnenweise im Müll.
Am 25. Mai diesen Jahres fanden die bisher grössten Demonstrationen gegen die Sparpolitik von Präsident Lenin Moreno statt. Weitgehend friedlich und so gut es geht unter Einhaltung der Abstandsregeln gingen damals über 1000 Personen auf die Strasse. Auf den Bildern ist eine indigene Frau zwischen den Robocops der ecuadorianischen Polizei zu sehen (oben), brennende Reifen vor einer Bushaltestelle (Mitte) sowie eine ältere Dame, die den öffentlichen Sicherheitskräften bei der Räumung eines Platzes in Quito die ecuadorianische Verfassung entgegenhält (unten). – BILDER: Romano Paganini
Die Anspannung wegen Covid-19 hat sich also längstens mit existenziellen Nöten vermischt. Hinzu kommt die politische Instabilität: María Alejandra Muñoz ist seit dieser Woche die vierte Vizepräsidentin während der bisher dreijährigen Amtszeit von Lenin Moreno. Ausserdem wird die öffentliche Debatte von einer tiefsitzende Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung geprägt, die sich gegenseitig misstrauen. „Ich werde verfolgt, weil ich auf der Strasse ein paar Gesichtsmasken verkaufe“, sagte der vendedor nach der Demo im Gespräch. „Doch die da oben sind alle korrupt. Sie beklauen uns und befinden sich dennoch auf freiem Fuss.“
Der Mann brachte auf den Punkt, was viele BürgerInnen zornig werden lässt, nicht nur in Ecuador: die grassierende Korruption. Alleine während den ersten Monaten der Pandemie sind zahlreiche Fälle ans Licht gekommen. Da wäre zum Beispiel der überteuert Kauf von Gesichtsmasken und Leichensäcken. Oder die Machenschaften bei der öffentlichen Trinkwasserversorgung in Quito. Oder die Funktionäre, die sich als Behinderte ausgaben, und damit etwa von Steuererleichterungen profitierten, zum Beispiel beim Import von Autos.
Für besonderes Aufsehen hatte der Fluchtversuch eines jungen Geschäftsmannes gesorgt, der Teil eines grösseren Korruptionsnetzwerkes um den ehemaligen Präsidenten Abdala Bucaran (1996-1997) sein soll. Sein Kleinflugzeug, mit dem er von den Behörden flüchten wollte, war kurz nach der peruanischen Grenze abgestürzt. Der Mann überlebte schwerverletzt und wird seither rund um die Uhr von mehreren Polizeibeamten bewacht. Er soll, berichten lokale Medien, in den Wochen zuvor Zubehör für öffentliche Spitäler zu überteuerten Preisen verkauft haben. Während also Ärztinnen und PflegerInnen teilweise unter widrigen Bedingungen ums Überleben von Covid-19-PatientInnen kämpfen, und Schutzmaterial wie Masken und Handschuhe oft aus der eigenen Tasche bezahlen müssen, wittern andere das grosse Geschäft.
„Die Regierung ist autoritär und repressiv. Wir rufen Menschenrechtsorganisationen dazu auf, diese Situation zu überwachen und machen Regierungsministerin
Maria Paula Romo für jegliche Gewaltexzesse verantwortlich.“Jaqueline Artieda,
Universitätsdozentin und Wortführerin der Stundenten-Proteste in Quito
Dazu kommt die Privatisierung diverser staatlicher Firmen – etwa die Fluggesellschaft Tame oder auch die Post – weitere Entlassungen von Beamten sowie Kürzungen im Haushaltsbudget. Und dies alles, um den internationalen Gläubigern, allen voran dem Internationalen Währungsfond (IWF) und ihren Forderungen gerecht zu werden. Für besonderen Unmut sorgte das Zusammenlegen von Kultureinrichtungen sowie das Kürzen des Bildungsetats um rund 100 Millionen Dollar. Deshalb waren bereits Anfang Mai, als die Ampel noch auf rot stand und nur aus dem Hause ging, wer nicht anders konnte, dutzende von StudentInnen und DozentInnen auf die Strasse gegangen.
Auch Jaqueline Artieda, Geschichtslehrerin an der öffentlichen Universität in Quito, griff damals zum Megafon. Und sie tat es auch vergangene Woche wieder, eingehüllt in ihren grünen Overall, mit blauer Maske über Mund und Nase: „Das Volk leidet bereits jetzt Hunger“, rief sie während der Demonstration in die Menge und nannte damit eine der Folgen der Covid-19-Pandemie in Ecuador. „Doch die Regierung der Räuber, zusammen mit dem IWF, kümmert sich um die Reichen und Mächtigen. Wir hingegen müssen uns organisieren und dafür sorgen, dass der Kapitalismus begraben wird. Der Klassenkampf ist lanciert!“
Die autoritären Züge einer gewählten Regierung
Nach ihrer Ansprache beim Parque Arbolito, Epizentrum des Landesstreiks im vergangenen Jahr, marschierten die DemonstrantInnen an der weiträumig abgesperrten Asamblea Nacional vorbei, dem ecuadorianischen Parlament, hoch zur Nationalbank. Wie in den vorangegangenen Demonstrationen im Mai und Juni standen dutzende PolizistInnen in Robocop-Ausrüstung am Strassenrand oder brausten auf Motorrädern ohne Nummernschild am Umzug vorbei.
Was an Machtgehabe postpubertärer Männer erinnert, ist von der Regierung Ecuadors nicht nur legitimiert, sondern gewollt. So hatte Verteidigungsminister Oswaldo Jarrin Ende Mai einer Bestimmung stattgegeben, wonach das Militär im Falle gewalttätiger Auseinandersetzungen das Feuer auf die DemonstrantInnen eröffnen darf. Der Entscheid wurde zwar inzwischen vom Verfassungsgericht gestoppt, doch die Tendenz ist eindeutig: Die Scharfmacher um den geschwächten Präsidenten Moreno, allen voran Regierungsministerin Maria Paula Romo und Verteidigungsminister Jarrin, setzen auf Repression. Es scheint so, als ob es nur eine Frage der Zeit sei, bis der blutige Oktober 2019 zurückkehrt. Damals hatten mindestens neun Menschen ihr Leben gelassen und tausende sind bei den Zusammenstössen mit Polizei und Militär verletzt worden, teilweise schwer. Durch gezielte Kopfschüsse mit Schrottbomben und Tränengas-Projektilen verloren ausserdem zahlreiche Personen ihr Augenlicht. Die DemonstrantInnen forderten damals den Rücktritt von Romo und Jarrin, blieben jedoch ohne Erfolg.
„Wir sind hier, um unser legitimes Recht auf Widerstand wahrzunehmen“, sagt Jaqueline Artieda, als wir an der berittenen Polizei vorbeikommen, die die Altstadt und damit auch den Präsidentenpalast weiträumig abgeriegelt hat. „Die aktuelle Regierung ist autoritär und repressiv. Wir rufen Menschenrechtsorganisationen dazu auf, diese Situation zu überwachen und machen Ministerin Romo für jegliche Gewaltexzesse verantwortlich.“
Beobachter sprechen von der schlimmsten Krise in der Geschichte der ecuadorianischen Republik: Ein Bauarbeiter hält seine Maurer-Kelle den PolizistInnen entgegen, Quito 16. Juli 2020. – BILD: Luis Herrera R.
Die Augenkammern Jaquelines sind heute mit roten Adern durchsetzt. Der stundenlange Digitalunterricht hat seine Spuren hinterlassen. Doch weder sie noch ihre KollegInnen erhalten Entlohnung für Computerreparaturen, Elektrizitätskosten oder gar Überstunden. Sie waren gezwungen, von einem Tag auf den anderen auf Online-Arbeit umzustellen und sämtlich anfallende Kosten selbst zu tragen. Hinzu kommt der zusätzlich Arbeitsaufwand, zumal Unterricht via Computer für viele neu ist, und sich jedeR das entsprechende Wissen zwischen Tür und Angel aneignen musste.
Der Bericht an die Vereinten Nationen
In zwei Monaten nun läuft sowohl der Vertrag von Jaqueline aus, als auch jener von 700 anderen DozentInnen; hinzu kommen hunderte weitere Personen aus der Administration. Und es sieht nicht danach aus, dass sie erneuert würden. Im Gegensatz zu Oktober, als die Regierung die Treibstoff-Subventionen streichen wollte, was zu einer Volksrevolte führte, wird derzeit die Sparschraube täglich ein bisschen mehr angezogen. Dass die Bevölkerung dabei eine untergeordnete Rolle spielt, belegt die Tatsache, dass Moreno&Co. im Zuge der Pandemie – und im Gegensatz zu dem, was sie noch im Oktober versprochen hatte – die Subventionen auf Treibstoffe nun doch gestrichen und die Preise vom Weltmarkt abhängig gemacht hat. Wie sich das auf den Haushalt der EcuadorianerInnen auswirkt, wird sich erst zeigen, wenn die Ölpreise wieder steigen.
Mehrere Menschenrechts- und Politorganisationen haben am vergangenen Montag 20. Juli 2020 auf eine Anfrage der Vereinten Nationen geantwortet, die eine Einschätzung in Bezug auf die hiesige Regierung und ihren Umgang mit der Pandemie haben wollte. „Der ecuadorianische Staat ist seiner Pflicht, die Rechte seiner Bürger und der Natur zu respektieren und zu garantieren nicht nachgekommen, und hat sogar die Verständigung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen behindert, die zur Notfallversorgung beizutragen versuchen“, heisst es in dem Manifest. Und so dürfte die aktuelle Unübersichtlichkeit angesichts der multiplen Krisen im Land früher oder später so enden, wie im Oktober 2019: im Chaos. Selbst der Bruch mit der ohnehin fragilen Demokratie-Ordnung steht im Raum.
Text: Romano Paganini
Hauptbild: Wie beim Landesstreik im Oktober nahmen die in der Stadt lebenden Indigenen ihre Kinder mit zur Demonstration. Für sie ist es selbstverständlich, dass Töchter und Söhne mitmarschieren, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte geht, Quito, 16. Juli 2020. (Luis Herrera R.)
Korrektur: Katharina Hohenstein