Anfang September hat für die knapp fünf Millionen SchülerInnen in Ecuador der Unterricht wieder begonnen – praktisch ausschliesslich online. Wie anderswo auf dem Planeten mussten die Kinder und Jugendliche vor einem halben Jahr von einem Tag auf den anderen umstellen, obwohl längst nicht alle Zugang zu einem Handy, einem Computer oder Internet haben. Die kritische Sicht einer Schülerin, einer Mutter und einer Lehrerin auf die „neue Normalität“, von der viele bis heute ausgeschlossen sind.
14. September 2020, Quito. – Bis Anfang März lief an den Schulen des Andenstaates alles mehr oder weniger gewohnt. Kinder und Jugendliche brüteten über ihren Hausaufgaben. LehrerInnen und das Betreuungspersonal erklärten, korrigierten und trösteten: In vielen Fällen sind sie die ersten Bezugspersonen ausserhalb der Familie, bei denen SchülerInnen ihre Sorgen und ihre Wut, aber auch ihre Ideen, Visionen und Pläne deponieren. In den Pausen wurden Bäume erklettert und Fussball gespielt, Videos hin- und hergeschickt sowie der neuste Schulklatsch ausgetauscht. Doch die Schule, der Ort des Lernens und Begleitens, an dem sich die Kinder und Jugendlichen reiben und an dem sie wachsen können, diesen Ort gibt es in Ecuador seit über einem halben Jahr nicht mehr – zumindest nicht physisch. Präsenzunterricht wurde durch Online-Klassen ersetzt, das menschliche Mit- und Durcheinander durch einen Bildschirm.
Seit Mitte März findet der Unterricht praktisch ausschliesslich via WhatsApp, Zoom oder Google Classroom statt – und dies, obwohl viele Familien keinen Zugang zur entsprechenden Technologie haben. Das Thema beschäftigt derzeit Schulen weltweit. Doch in Ländern des Globalen Südens wie Ecuador kommen die Schulen mit dieser Umstellung schneller an ihre Grenzen.
Ein Drittel der rund drei Millionen SchülerInnen, die öffentliche Schulen besuchen, haben keinen Zugang zu Computer, Handy oder Internet. Zwar verteilte das Bildungsministerium während der vergangenen Jahre kostenlos tausende von Tablets und Laptops, das Ministerium für Telekommunikation richtete landesweit hunderte von Infozentren mit Gratis-Internet ein. Doch dies reicht nicht, um alle SchülerInnen am Online-Unterricht teilhaben zu lassen – auch weil diese Zentren auf Grund der Pandemie monatelang geschlossen blieben und etliche Familien es sich nicht leisten können, zusätzliche Daten für ihre Kinder zu kaufen. Oft reicht es kaum zum Essen. Eine Realität, von der 1,8 Millionen PrivatschülerInnen nicht betroffen sind.
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„Bei Zoom können wir wenigstens die LehrerInnen sehen“
Cecilia* (18) beendete die Oberstufe im Juni 2020
„Online-Unterricht ist definitiv nicht dasselbe wie Präsenzunterricht. Im Schulzimmer stellen wir Fragen, das tun wir online nicht. Seit Mitte März schicken uns die LehrerInnen die wöchentlichen Hausaufgaben und mehrere Lernvideos. Allerdings haben viele meiner KlassenkameradInnen Probleme damit, die Dateien herunterzuladen. Sie müssten zusätzliche Megabytes für ihre Handys herunterladen – und dazu fehlt schlicht das Geld. Einige beschweren sich darüber, dass sie im Rückstand mit ihren Hausaufgaben sind und diese nicht rechtzeitig abgeben können. Das liegt nicht daran, dass sie nicht wollen, sondern dasss sie keine Internetverbindung haben, um die Videos herunterzuladen.
Zoom funktioniert online besser als WhatsApp, denn bei Zoom können wir wenigstens die LehrerInnen über eine Kamera sehen. Für viele meiner KollegInnen ist dies leider nicht möglich, da sie keinen Computer haben und dadurch keine Verbindung herstellen können. Nur wenige von uns verfügen über die notwendigen Voraussetzungen. Letztlich haben es trotzdem alle irgendwie geschafft, über WhatsApp Kontakt aufzunehmen, sodass die LehrerInnen unterrichten können.
„Kein Empfang, keine Bildung“: so ergeht es derzeit zehntausenden von Kindern und Jugendlichen in Ecuador.
Vor Ausbruch der Pandemie ging ich nach der Schule jeweils zum Fussballtraining. Danach kam ich nach Hause und machte bis um zwei oder drei Uhr morgens Hausaufgaben. Ich hätte nie gedacht, dass ich derart lange zu Hause bleiben müsste, ohne ein einziges Mal auszugehen. Ich bin es eigentlich gewohnt, kaum Zuhause zu sein. Denn entweder bin ich beim Training, in der Schule oder mit Freunden unterwegs. In diesem Sinne hat auch mich die Pandemie hart getroffen.
In diesen Monaten habe ich vor allem von den Fächern Sprache und Literatur profitiert. Das lag auch an der Lehrerin, die es verstand, uns SchülerInnen zu motivieren und zu ermutigen, weiterzumachen. Und obwohl ich eigentlich Mathematik mag, war für mich das Lernen in diesem Fach schwierig. Mehr oder weniger schauten wir, was wir für die Abschlussprüfung brauchen werden. Doch die Fragen waren so verwirrend, dass ich sie nicht verstanden habe. Da wir keinen Unterricht haben und damit auch keine direkten Erklärungen bekamen, war es für mich schwierig, all dies nachvollziehen zu können.
Der positive Aspekt des Eingeschlossenseins ist einerseits, von Zuhause aus lernen zu können, andererseits, zuzusehen, wie die Tiere wieder herauskommen. Wir Menschen fügen dem Planeten viel Schaden zu.“
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Während der vergangenen Monate der Gefangenschaft – der Ausnahmezustand in Ecuador soll in diesen Tagen nach sechs Monaten endlich aufgehoben werden – hatte die Polytechnische Hochschule in Quito eine Umfrage zum Online-Unterricht durchgeführt. Als grösstes Problem stuften die 583 befragten LehrerInnen den fehlenden Zugang zu Smartphones, Computern und Internet ein. „Die Bildungsbehörden sind sich der digitalen und technologischen Kluft im Land durchaus bewusst“, sagt Anthropologin Vicky Novillo Rameix, die den Bericht mitverfasst hat und gleichzeitig Co-Autorin dieses Textes ist. „Die Behörden wissen, dass sich die SchülerInnen nach der Quarantäne einer Prüfung unterziehen müssen, um zu erfahren, wo sie stehen, sodass sie hinterher ihr Studium zufriedenstellend weiterführen können.“
Die Forscherin erwähnt, wie wichtig es ist, die SchülerInnen mit der für den Fernunterricht grundlegenden Dynamik des Selbstlernens vertraut zu machen. Andernfalls schwebten diese in der Luft, ohne Anker oder wirksame pädagogische Unterstützung, die es ihnen ermögliche, Lernen als Teil ihres täglichen Lebens zu betrachten, sagt Vicky Novillo Rameix. „Eines der grössten Probleme in Zeiten der Quarantäne ist es, keineN LehrerIn zu haben, die erklärt, interagiert und gleichzeitig von den SchülerInnen lernt.“
„Die Arbeit der LehrerInnen war nicht einfach,
und sie mussten mehr Zeit als im Präsenzunterricht aufwenden.“Vicky Novillo Rameix, Anthropologin
Der abrupte Wechsel im März hat den gesamten Bildungsapparat überrascht. Weder SchülerInnen und LehrerInnen, noch die Eltern waren auf virtuelle Lehr- und Lernumgebungen vorbereitet. Die Lehrkräfte mussten ihren Unterricht in Rekordzeit aus der Ferne planen und neue Methoden zur Vermittlung ihres Wissens erarbeiten – grösstenteils online. Zudem mussten die Lehrkräfte in vielen Fällen zu den SchülerInnen nach Hause fahren, insbesondere in den ländlichen Gebieten ohne Internetzugang. Dort versorgten sie sie mit gedrucktem Unterrichtsmaterial oder gaben ihnen kurzen Einzelunterricht. „Ihre Arbeit war jedenfalls nicht einfach, und sie mussten mehr Zeit als im Präsenzunterricht aufwenden“, fasst Forscherin Vicky Novillo Rameix zusammen.
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Probleme des Online-Unterrichts in Ecuador gemäss Umfrage bei Lehrkräften
Hellblau: Nicht alle SchülerInnen nehmen am Unterricht teil, weil es ihnen an Internet oder Computern fehlt.
Orange: Den LehrerInnen fehlt es an Ausbildung in Sachen Online-Unterricht.
Grau: Den LehrerInnen fehlt es an Ausbildung, um digitalen Lernstoff zu entwickeln.
Gelb: Die SchülerInnen haben Schwierigkeiten, die digitalen Plattformen zu bedienen.
Dunkelblau: Die Institutionen unterstützen den Fernunterricht nicht mit genügend Mitteln.
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„Es war schwierig, unserem Sohn nicht helfen zu können“
María Eugenia*, Mutter von Cecilia und einem neunjährigen Jungen, der in die fünfte Klasse geht
„Mir wurde der Inhalt, den mein kleiner Sohn lernt, auf eine Art und Weise vermittelt, die sich von den heutigen Methoden unterscheidet. Ich musste ihn in diesen Monaten zwar begleiten, um zu sehen, ob das was er tat, richtig ist, doch es war schwierig: ganz einfach weil ich es nicht verstand. Letztlich musste ich meine Tochter Cecilia um Hilfe bitten.
Wir haben ein Problem, denn sowohl mein Mann als auch ich konnten die Schule nicht beenden. Ich habe die dritte Oberstufe abgeschlossen, mein Mann lediglich die Primarschule. Es war also sehr schwierig für uns, unserem Sohn nicht helfen zu können, denn eigentlich hätte er diese Hilfe gebraucht. Es war jedenfalls sehr schwierig, sich auf diesen Wechsel einzustellen.
Für das kommende Semester würde ich vorschlagen, dass der Unterricht via Zoom durchgeführt wird, so wie wir jetzt dieses Interview führen. Bisher sind die Hausaufgaben lediglich via WhatsApp geschickt worden, doch sie erhielten keine Erklärungen von den LehrerInnen. Das Schwierige an der ganzen Situation ist, dass die Klassenkameraden meines Sohnes kein Internet haben. Das macht es sehr kompliziert. Einen positiven Aspekt der Quarantäne gibt es allerdings: Ich musste nicht so früh aufstehen …“
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Eine der Personen, die das Bildungswesen im Land seit 25 Jahren begleitet, ist die ecuadorianische Pädagogin und Schriftstellerin Rosa María Torres. In ihrem Blog hat sie Informationen zum Online-Unterricht zusammengestellt und kommt zum Schluss, dass es vereinfachende und falsche Vorstellungen dazu gäbe, wie das Problem der Internet-Verbindung, insbesondere in ländlichen Gebieten, gelöst werden kann. „Viele glauben, dass das Problem leicht zu lösen sei, indem man Laptops und/oder Smartphones verteilt und das Internet für die Armen finanziert“, schrieb sie kürzlich. „Die Problembeurteilung reduziert sich auf den Zugang zum Internet, nicht aber auch die Qualität der Verbindung und des Computers sowie dem Bedarf an entsprechender Ausbildung sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Eltern.“
mutantia.ch hätte gerne mit dem Direktor von Cecilias Schule gesprochen, wo Cecilia und ihr Bruder zur Schule gehen und wo Anahi Ramos* (siehe unten) Sprachen und Literatur unterrichtet. Doch der Mann befürchtet Sanktionen seitens des Bildungsministeriums. Deshalb haben wir sämtliche Namen geändert und beschränken uns auf die Angabe, dass die Befragten von einer Schule aus Zentralecuador stammen. Ebenfalls gerne hätten wir mit jemandem vom Bildungsministerium gesprochen, doch bis Redaktionsschluss haben wir auf unsere schriftliche Anfrage keine Antwort bekommen.
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„Megabytes gegen ein Huhn“: Einzelne SchülerInnen, insbesondere in ländlichen Regionen, mussten Tiere verkaufen, um an den Online-Klassen teilnehmen zu können.
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„Wie ich doch den Präsenzunterricht vermisse!“
Anahí Ramos* – Sprach- und Literaturlehrer im zweiten und dritten Jahr der Sekundarschule
„Wie für alle LehrerInnen war auch für mich das Online-Unterrichten eine riesige Veränderung. Wir waren es gewohnt, direkten Kontakt mit den SchülerInnen zu haben – und von einem Tag auf den anderen sahen wir sie nur noch via Bildschirm. Unsere grösste Herausforderung besteht darin, jene Schülerinnen und Schüler in abgelegenen Gemeinden zu erreichen, die weder über technologische Hilfsmittel wie Computer oder Handy verfügen noch Internetzugang haben. Die Teilnahme am Unterricht mag Pflicht sein, garantiert aber keineswegs, dass sie auch teilnehmen können. Ich erinnere mich an einen Schüler, der mir sagte: ‚Ich lebe in einem sehr abgelegenen Gebiet und kann nur einmal die Woche mein Handy aufladen. Allerdings muss ich dazu ein Meerschweinchen verkaufen, sonst habe ich kein Geld.‘ Das war extrem schmerzhaft für mich.
Wir müssen bedenken, dass viele meiner SchülerInnen in extremer Armut leben oder dass ihre Eltern Analphabeten sind. Deshalb musste ich darauf bestehen und sie motivieren, die Schule nicht abzubrechen. Klar haben wir LehrerInnen in Sachen Online-Unterricht eine Ausbildung erhalten; dafür bin ich sehr dankbar. Aber ich frage mich: ‚Wie soll ich meine SchülerInnen erreichen, wenn sie keinen Computer oder kein Smartphone haben?‘
Diesbezüglich waren die Verantwortlichen der einzelnen Kurse entscheidend, denn sie fuhren persönlich zu den einzelnen Schülerinnen ans Ende der Welt. Dort gaben sie ihnen gedrucktes Material mit Hinweisen auf die Hausaufgaben. Allerdings mussten sie diese ohne Hilfe von LehrerInnen ausfüllen. Ich weiss nicht, wie sich die SchülerInnen untereinander organisiert haben, aber irgendwie haben sie es fertiggebracht, wenn auch relativ spät, sich mit den WhatsApp-Gruppen in Verbindung zu setzen.
„Manchmal kamen sie zu spät zum Unterricht, halb betrunken oder unter Drogen. Aber ich habe sie nie aus dem Klassenzimmer geworfen.“
Ich hatte ein paar SchülerInnen, die besonderen Aufwand auf sich genommen hatten, um ihr Handy aufladen zu können. In der vierten oder fünften Woche der Quarantäne konnten sie eine Verbindung herstellten. Einige von ihnen sagten: ‚Können Sie mir die Aufgaben der vergangenen Wochen noch nachschicken? Wissen Sie, ich war bis jetzt am Arbeiten und konnte deshalb nicht mit Ihnen Kontakt aufnehmen.‘ Klar – die meisten von ihnen arbeiten parallel auf dem Bau oder helfen ihren Eltern in der Landwirtschaft.
Online mussten wir die Hausaufgaben jeweils im Detail erklären und versuchten dabei, sie so gut es geht zu dosieren. Ich schickte ihnen Audio-Nachrichten über WhatsApp. In diesen hielt ich einen kleinen Vortrag zum Thema und erklärte ihnen dann, was sie tun sollten. Darauf erledigten sie die Hausaufgaben von Hand in ihrem Heft und schickten mir hinterher ein Foto. Manchmal riefen sie mich auch an, schrieben mir oder stellten Fragen. Aber natürlich ist all das viel schöner, wenn wir es im Präsenzunterricht machen können. Da erzählten mir die SchülerInnen etwas aus ihrem Alltag, machten Witze und ich konnte ein wenig aus meinem Alltag ausbrechen. Ach, wie ich doch den Präsenzunterricht vermisse!
Das Lernen war jeweils gegenseitig. Ich habe Sprache und Literatur unterrichtet, die SchülerInnen wiederum haben mir Dinge aus der Landwirtschaft beigebracht. Manchmal kamen sie zu spät zum Unterricht, halb betrunken oder unter Drogen. Aber ich habe sie nie aus dem Klassenzimmer geworfen. Viel eher bin ich ihnen mit mütterlicher Zuneigung begegnet, sodass sie sich auch mir auf einer menschlichen Ebene öffnen konnten. Wir müssen lernen, tolerant und offen zu sein. Und das kann man nur von Angesicht zu Angesicht.“
*Namen aus Sicherheitsgründen geändert
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Text: Vicky Novillo Rameix & Romano Paganini
Korrektur: Katharina Hohenstein
Illustrationen: Sämtliche Zeichnungen stammen vom ecuadorianischen Künstler Tzantza.