Mitteilung vom 17. Juni 2020

mutantia.ch löst sein Abo-System auf: Es kann nur besser werden (theoretisch)

Die vergangenen Wochen haben das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt, sowohl hüben wie drüben der Ozeane. Und die Wochen und Monate – vielleicht sind es Jahre–, die uns erwarten, dürften nahtlos an diese Entwicklung anschliessen. Alleine in der Schweiz ist die Rede von bis zu zehn Prozent Arbeitslosigkeit. In anderen Ländern ist diese Zahl bereits Tatsache.

Klar, die Quarantäne ist in diesen Tagen vielerorts gelockert worden. Und ebenso mögen manche wieder mehr oder weniger zu ihrem Alltag übergegangen sein. Doch genauso klar scheint, dass wir nicht so weiterleben können wie vor der Pandemie. Dazu liegen zu viele Dinge im Argen, allen voran unser Umgang mit Menschen und Ressourcen. Und wenn es PolitikerInnen und Industrie nicht schaffen, Verantwortung zu übernehmen, dann bleibt eigentlich nur noch die Zivilgesellschaft: also du und ich und wir. Solo el pueblo puede salvar al pueblo, lautet ein geflügeltes Wort im Spanischen: Nur das Volk kann das Volk retten. Bestes Beispiel sind die anhaltenden Proteste gegen Rassimus.

Was das für Ecuador bedeutet, also dem momentanen Hauptsitz unserer kleinen mutantia-Redaktion, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, in der es nach den Massenkündigungen der vergangenen Wochen – insbesondere im öffentlichen Sektor – schwierig ist, noch eine verlässliche Zahl zu den Arbeitslosen zu erhalten. Tausende warten seit Wochen oder gar Monaten auf ihr Gehalt, und die Pandemie, die den Andenstaat hart getroffen hat, hat diese Situation noch einmal verschärft. Hinzu kommt ein Krisenmanagement, das diese Bezeichnung nicht verdient hat, sowie ein Staatshaushalt – unter dem Joch des Internationalen Währungsfond IWF –, der Gelder bei Bildung, Gesundheit und Kultur abzwackt, für Polizei und Militär jedoch neue Waffen beschafft hat.
Dazu passt der Entscheid des ecuadorianischen Verteidigungsministers, der Ende Mai dem Militär Grünes Licht gab, im Falle von gewalttätigen Demonstrationen das Feuer auf die DemonstrantInnen zu eröffnen. Mit anderen Worten: Die Menschen, die auf Grund der Pandemie und der anhaltenden Wirtschaftskrise bereits an Hunger leiden, müssen ab sofort damit rechnen, dass sie bei Demonstrationen erschossen werden. Und die Erfahrung während des Landesstreiks im vergangenen Oktober hat gezeigt, dass dazu nicht einmal Gewalt seitens der DemonstrantInnen nötig ist.

Demokratie verkommt in Ecuador immer mehr zu einem Feigenblatt. Auch deshalb haben wir, in Zusammenarbeit mit anderen Medien, unsere Berichterstattung auf spanisch während den vergangenen Wochen ausgebaut. Details findet Ihr unter diesem Link.

Angesichts dieser angespannten Situation, sowohl in Ecuador als auch andernorts auf dem Planeten, und der Tatsache, dass unabhängiger Journalismus immer stärker in Bedrängnis gerät, haben wir von mutantia.ch beschlossen, unsere seit Mitte März geltende Politik in Bezug auf unsere Beiträge aufrechtzuerhalten und dies nun auch euch als AbonnentInnen offiziell mitzuteilen: wir werden unsere Beiträge weiterhin und bis auf weiteres kostenlos und in voller Länge auf unserer Internetseite veröffentlichen.

Das birgt zwar finanziell ein grosses Risiko, zumal wir dadurch unser Abo-System auflösen. Doch wir betrachten es, auch auf Grund der anstehenden Umbrüche auf dem Planeten, als unsere Aufgabe, Informationen und Ansichten zu liefern sowie Menschen und Organisationen zu Wort kommen zu lassen, die sonst im Hagel der Mainstream-Artikel und -Meinungen untergehen oder gar nicht erst erwähnt werden. Wir können und wollen das Narrativ der aktuellen Entwicklungen in Ecuador und auf der Welt nicht umkommentiert jenen Menschen und Plattformen überlassen, die sich Propaganda leisten können und alles andere als daran interessiert sind, ihre Privilegien aufzugeben.

Freilich mag der Einfluss von mutantia gering sein. Dessen sind wir uns bewusst. Aber wir sehen unsere Aufgabe auch nicht im Generieren von Klicks, sondern im Erzählen von Geschichten und im Erzeugen von Geschichte. Deshalb werden wir ab Juli noch stärker auf Recherchen, Artikel und Bilder vor Ort setzen. Nur so können wir dem Vorwurf von Fake-News entgegentreten: in Ecuador leider ein gängiges Mittel seitens der Regierung, um kleinere, digitale Medien zu verunglimpfen. Emblematisch dafür steht das alternative Medium Wambra, das während des Landesstreiks 2019 wie kaum eine andere digitale Plattform in Quito vor Ort über die Ereignisse berichtet hatte und so ein Gegengewicht zu den Massenmedien schaffen konnte. Wer wissen wollte, was vor Ort passierte, ging auf die Seite von Wambra. Doch genau dieses Medium ist während einer Medienkonferenz nach Ende des Streiks von Regierungsministerin Maria Paula Romo frontal angegriffen worden – also just von jener Frau, die für einen Grossteil der Polizeigewalt verantwortlich war, und auch keine Hemmungen hatte, abgelaufene Tränengasbomben in die Menge schiessen zu lassen. Sie sagte, dass Wambra für die Verbreitung von Fake-News verantwortlich sei …

Einer meiner Chefs beim Tages-Anzeiger, damals 2008/2009. Pflegte zu sagen: Gang use! – „Geh raus!“ Denn draussen, und das wusste er nach jahrzehntelanger Erfahrung im Journalismus sehr genau, spielt das Leben. Und genau von dort, also von draussen, werden auch wir so gut es geht unsere Berichte recherchieren und schreiben. Das ist gerade heute wichtig, da unser Zuhause zu einem Gefängnis zu verkommen droht, und sich die Hiobsbotschaften via Facebook, WhatsApp oder Push-Meldungen im Sekundentakt in unsere Köpfe hämmern. Draussen befinden sich nämlich auch jene Menschen, die bereits an der Transition arbeiten und sich unabhängig von den Blitz- und Donnerschlägen eines kollabierenden Systems jene Realität zurechtzimmern, die Mensch und Natur (wieder?) zusammenführen könnten und letztlich dafür sorgen, wozu sämtliche Lebewesen ein Anrecht haben: ein würdiges Leben.

Für euch als AbonnentInnen wird sich nicht viel ändern – ausser, dass wir unsere Produktion von derzeit 51 Newslettern auf 30 bis 40 pro Jahr zurückschrauben und die Geschichten nicht mehr wie bis zu Beginn der Pandemie montags bei Euch per Mail eintreffen. Wir werden den Montag zwar im Auge behalten, werden jedoch nicht immer montags Geschichten liefern können: ganz einfach, weil es auch anders kommen kann. Ausserdem werden die Geschichten in diesem Newsletter nur noch angerissen, sodass Ihr via Link direkt zum Artikel auf unserer Homepage gelangt.

Finanziell – und damit kommen wir zum schwierigen Teil unseres Projekts – dürfte es mutantia.ch eigentlich gar nicht mehr geben. Wir haben unser Ziel, bis im Mai 2020 unsere Abo-Zahlen auf 80-100 Personen zu verdoppeln, bei weitem verfehlt. Das liegt auch daran, weil wir im deutschsprachigen Raum ein sehr kleines Team sind und weder Zeit noch Geld hatten, mutantia.ch den Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz schmackhaft zu machen. mutantia-Marketing läuft bisher nur per Buschtelefon*. Doch obwohl wir es seit unserer Lancierung im Mai 2018 nie aus den roten Zahlen geschafft haben: aus oben genannten Gründen machen wir trotzdem weiter.
Finanzielle Nöte sind längst Teil unseres Lebens geworden. Wir sind jedenfalls, da nun komplett ohne Abo-Beiträge, fortan auf Unterstützungsbeiträge angewiesen, seien es einmalige oder regelmässige. Ihr könnt es ja als Beitrag zur Medienfreiheit betrachten und weiterhin unter diesem Link einzahlen.

Zum Schluss möchten wir all jenen danken, die uns seit der Lancierung unterstützt haben, sowohl moralisch als auch finanziell. Gerade auch jenen, die erst kürzlich einbezahlt haben. Ihr wart und seid ein wichtiger Impuls, mutantia.ch am Leben zu erhalten. Gracias!

 

Saludos y Buen Vivir

 

Romano Paganini
Koordinator mutantia.ch

 

*Wer uns diesbezüglich unter die Arme greifen möchte, sehr gerne. Wir sind auch ein Jahr nach unserem Aufruf nach wie vor auf der Suche nach einer oder einem Community-ManagerIn, also Facebook, Twitter und Instagram.