Seit Jahrzehnten erforscht der Soziologe Eduardo Gudynas Lateinamerika. Die Proteste der vergangenen Wochen sind für ihn Ausdruck einer grundsätzlichen Unzufriedenheit verschiedenster Gesellschaftsschichten, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Eine Gemeinsamkeit haben sie jedoch: Der Staat hat kein Verständnis für die Anliegen des Volkes.
Das folgende Gespräch hat vor dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales als Präsident Boliviens stattgefunden.
12. November 2019, Quito. – Wenn es um den lateinamerikanischen Kontinent geht, ist Eduardo Gudynas eine Art menschlicher Radar – für ökologische oder soziale Fragen, Wirtschafts- oder Politikthemen, Rohstoffausbeutung oder den Verlust der Biodiversität. Im Rahmen seiner Tätigkeit reist der Soziologe und Generalsekretär des Centro Latino Americano de Ecología Social (CLAES) mit Sitz in Montevideo seit Jahren in sämtliche Länder der Region.
Ende Oktober war er in Ecuador zu Besuch, wo er unter anderem sein Buch „Extraktivismus und Korruption, Anatomie einer intimen Beziehung“ vorstellte. Er verließ Santiago de Chile kurz vor Ausbruch der dortigen Strassenproteste und kam nur wenige Tage nach dem Landesstreik in Ecuador in Quito an. „Diese Proteste sind enorm wichtig, denn sie zwingen uns alles neu zu diskutieren“, sagte Gudynas während unseres Gesprächs. „Sie haben ein enormes Potenzial, und wir müssen diese Grundsatzdiskussionen unbedingt schützen.“
Eigentlich wollten wir das Interview mit einer Frage zu den Gemeinsamkeiten zwischen den Protesten in Chile und Ecuador, zwischen jenen in Bolivien und Haiti beginnen. Doch damit hatte Eduardo Gudynas bereits gerechnet – und nahm uns den Wind aus den Segeln: „Es ist nicht fair davon auszugehen, dass sämtliche Proteste, die derzeit in verschiedenen Ländern stattfinden, identische Prozesse reflektieren. Es gibt politische und kulturelle Unterschiede, gerade auch innerhalb der sozialen Bewegungen. Klar mag es Übereinstimmungen geben, daran besteht kein Zweifel, aber ich möchte davor warnen, der Einfachheit halber dem Slogan zu verfallen, wonach es sich um eine identische Revolution gegen den Kapitalismus auf kontinentaler Ebene handelt. Das ist eine Interpretation, die vor allem den AnalystInnen gefällt, die ausserhalb Lateinamerikas leben.“
(…) Auffallend war das enorme Ausmass der Gewalt, sowohl in Chile als auch in Ecuador. Sind dies Anzeichen eines Staates, der den Kontakt zur Bevölkerung verloren hat?
Auf jeden Fall.
Das ist alles?
Nun, ich habe den Eindruck, dass die Regierungen, sowohl die chilenische als auch die ecuadorianische, von der Reaktion des Volkes überrascht waren und sie deshalb auf Repression setzten. Gewalt ist ein Zeichen dafür, dass sich die Regierungen an die Macht klammern. Wer auf dem Thron der Macht sitzt, mag zwar einen unterschiedlichen Background haben, aber wenn dieser jemand Angst davor hat, seine Positition zu verlieren, greift er zu jenen Repressionen, die sich derzeit bei der der Mobilisierung von Polizei oder Militär in der gesamten Region beobachten lassen. Diese Art der Unterdrückung findet auch in Kolumbien statt, nur viel heftiger. Und in Brasilien gibt es mit Jair Bolsonaro eine bedenkliche Entwicklung. Denn seine Regierung stammt aus der radikalen Ecke der Rechtsextremen, wo die Anwendung von Gewalt zum guten Ton gehört, sprich normalisiert ist. Wenn du demonstrierst, können sie dich durchaus töten. Lateinamerika ist jene Region der Welt, wo Verletzungen der Menschenrechte und Gewalt Teil des Alltags sind.
Worauf führen Sie diese Situation zurück?
Wenn es um die Forderungen der BürgerInnen geht, beobachten wir zunehmende Gewalt von Seiten des Staates. Wenn dann ein Bauer oder einE indigeneR FührerIn umgebracht wird, muss kein Minister zurücktreten; die Regierung hat nichts zu befürchten. Das sind Fakten, die von der in den Städten lebenden Mehrheit der Bevölkerung toleriert werden. Denn wenn diese Morde politisch und kulturell nicht akzeptiert würden, würden die BürgerInnen eine politische Reaktion erzwingen. Doch es geschieht nichts. Gleichzeitig neigen die Protestierenden dazu, zu mehr Gewalt zu greifen.
Quasi ein Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn?
So ist es. Denn es ist die Sprache, die sie kennen. Dann beginnt sich die Spirale der Gewalt zu drehen, die letztlich allerdings der Regierung dient.
Weshalb?
Wenn eine Regierung repressiv vorgehen will, dann kommt ihr die Rechtfertigung der Gegengewalt gelegen: Nun, die DemonstrantInnen haben ein Gebäude angezündet, dagegen müssen wir vorgehen.
Die Gewaltlosigkeit als zentraler Anhaltspunkt, um die Legitimation der Proteste aufrechtzuerhalten?
Ja, denn Gewalt zu akzeptieren bedeutet, die Spielregeln der Mächtigen zu akzeptieren. Und in diesem Moment verfügt in vielen Ländern der Region der Staat über diese Macht. Sobald du die Regeln der Mächtigen akzeptierst, hast du verloren. Ich denke, das belegt die Situation in Venezuela, wo es mit der Gesellschaft seit Jahren bergab geht.
Welchen Einfluss auf den Gewaltausbruch hat die Tatsache, dass die neue Generation junger Menschen keine Zukunft sieht?
Das hat einen grossen Einfluss, denn in Ländern wie Kolumbien oder Chile haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder festgestellt, dass die Jüngsten nicht an die Zukunft denken, also an eine Zukunft im Sinne einer Verbesserung oder des Wohlbefindens. Und das Schreckliche daran ist, dass die gegenwärtige Politik, die sogenannte Entwicklung oder der Kapitalismus, der uns offeriert wird, den Horizont der Zukunft verschwinden lässt. So wird der Kampf für die Utopien der Zukunft undenkbar. (…)
Hauptbild: Eduardo Gudynas während eines Workshops mit einer Frauengruppe in der chilenischen Küstenstadt Valparaíso, 2017 (gudynas.com).