Tagebuch 2020, Woche 24: Argentinien – Schock

Indigene FührerInnen vor der ecuadorianischen Staatsanwaltschaft in Quito: In Gedenken an die Todesopfer des Landesstreiks halten Jaime Vargas (links) und Leonidas Izas (mitte) deren Bilder in die Höhe, darunter Inocencio Tucumbi und Edgar Yucailla. – BILD: mutantia.ch

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19. Oktober – Argentinien

 

Eine argentinische Freundin, die Ecuador vor einem Monat wegen Schwangerschaft zusammen mit ihrem Partner in Richtung Süden verlassen hat, ist auf ihrer über 6.000 Kilometer langen Reise nach Argentinien kein einziges Mal um einen Covid-19-Test gebeten worden. Die Reise war zwar lang (über sechs Tage) und der bürokratische Aufwand gross (in Argentinien kann man derzeit nur von einer Provinz in die andere reisen, und muss dann jeweils den Bus wechseln), doch wie es dazu kam, dass sie an keinem einzigen staatlichen Checkpoint ihren extra in Ecuador gemachten (und bezahlten) Covid-19-Test vorweisen mussten, ist auch für die beiden ein Rätsel.

Deshalb wieder einmal die Frage: Was passiert hier eigentlich? Es gelten weltweit nach wie vor x Restriktionen, das öffentliche Leben wurde praktisch komplett runtergefahren. Doch wenn es darum geht, die vermeintlich unabdingbaren Massnahmen umzusetzen, dann wird’s plötzlich unklar, und zwar nicht nur in den Americas. Ein in Ecuador lebender Franzose, der kürzlich seine Familie in Lyon besucht hatte, sprach von denselben Vorkommnissen auf seiner Reise: „Pas du test.“

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22. Oktober – Schock

 

Während Covid-19 in Europa offenbar wieder ausser Rand und Band ist, hat man in Ecuador das Gefühl, es sei alles mehr oder weniger beim Alten – nur dass sich die Leute nach wie vor mit dem Ellbogen begrüssen und praktisch überall im öffentlichen Raum (teilweise sogar in den Autos) Masken tragen. Über steigende Zahlen wird hier im Moment kaum berichtet, und wenn, dann ist den meisten Menschen klar, dass die Aussagekraft dieser Zahlen mäßig bis gering ist.

In der öffentlichen Diskussion dominieren Themen wie der Landesstreik 2019 oder der Versuch vergangene Woche, die Statue von Isabel la Catolica (Auftraggeberin und Geldgeberin von Christoph Kolumbus) vom Sockel zu reissen. Auch die Wahlen im Februar 2021 sind Thema, sowie die Regierungsministerin Maria Paula Romo, die nach wie vor vehement abstreitet – oder schlichtweg lügt, je nach Standpunkt –, dass die staatlichen Sicherheitskräfte für die Eskalation des Landesstreiks verantwortlich waren. In einem aufwändig produzierten Propagandavideo wäscht sie ihre Hände ein weiteres Mal in Unschuld. Mantraartig wiederholt sie, dass sie lediglich ihre Arbeit verrichtet und für Recht und Ordnung gesorgt habe. Wer sich allerdings an die kriegsähnlichen Zustände von damals erinnert, weiss genau, dass die Realität eine andere war.

Dies sind die Themen, die derzeit den Alltag beherrschen. Covid-19 ist ziemlich weit in den Hintergrund gerückt, auch weil die Leute wieder zur Arbeit fahren, beziehungsweise auf der Strasse dafür kämpfen, ein paar Dollar zu verdienen. Ja, es ist fast erstaunlich, wie das Thema aus den Medien verschwunden ist.

Ein Jahr nach dem Landesstreik, fünfhundertachtundzwanzig nach der Ankunft der Europäer in Amerika: Indigenenorganisationen ziehen vom Parque Arbolito im Zentrum von Quito zum nahegelegenen Parlament, vorbei am Gebäude des Rechnungshofs (oben), dessen Ruinen wie ein Denkmal an den Streik 2019 erinnern. Beim Denkmal von Isabel la Catolica (1451-1504) kommt es dann zu Auseinandersetzungen mit DemonstrantInnen (mitte), die kurz darauf versuchen Christoph Kolumbus’ (1451-1506) Geldgeberin vom Sockel zu stürzen (unten). Doch das Vorhaben sollte am 12. Oktober 2020 scheitern, die Polizei treibt die Personen mit Tränengas auseinander. – BILD: mutantia.ch  

Ganz anders in Europa: Da sprechen Behördenmitglieder von „Schock“ und es werden erneut ganze Städte abgeriegelt. Es entsteht der Eindruck, alles sei noch viel schlimmer als im Frühjahr, also zu Beginn des Ausbruchs. Ausserdem kommt es jetzt auch in der Schweiz zu einer landesweiten Maskenpflicht. Mamita, was bitte ist denn hier los?! Ist das wirklich gerechtfertigt? Inzwischen weiss man doch, wie sehr die Angst das Immunsystem schwächt und es deshalb jegliche Krankheitserreger einfacher haben, in unsere Körper vorzudringen.

Man weiss inzwischen, dass sich das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, auf Grund der Dauer-Negativ-Schlagzeilen rund um Covid-19 sowie dem dauernden Zuhause sein und rumsitzen, vergrössern kann (auf Englisch). Auch deshalb wird in einzelnen comunidades indigenas hier in Ecuador gar nicht mehr getestet. Lieber lässt man die Leute im Unwissen, um sie nicht zusätzlich zu verunsichern. Kaum weisen sie Symptome auf, gehen sie in die Selbstquarantäne und heilen sich mit ihren Kräutern. Klar, über solche Methoden lässt sich streiten, und klar, sie funktionieren nicht immer. Manche Menschen, gerade ältere Semester, sind auch hier gestorben, an oder mit Covid-19. Doch das wären sie wohl auch im Wissen um eine Infektion mit dem Virus. Eine entsprechende Behandlung hätten sie ohnehin nicht bekommen.

Viele Menschen hier, vor allem in ländlichen Gebieten, haben kaum Zugang zum Gesundheitswesen und organisieren sich deshalb auf eigene Rechnung. Es ist die einzige Möglichkeit, nicht nur im Fall von Covid-19.

Angesichts des kollektiven Hypes und der weit verbreiteten Angst vor Covid-19 sollten wir im Umgang mit Informationen wesentlich vorsichtiger sein – sowohl wir, die schreiben, als auch alle anderen, die sich informieren (wollen). Denn die Nachrichten, wie sie derzeit grösstenteils produziert werden, generieren einseitige Informationen und verstärken das Gefühl der Machtlosigkeit. Entsprechend schwächen sie uns und sind in Sachen Prävention alles andere als hilfreich. Wer sich mit Gesundheitsfragen beschäftigt, weiss, wie Worte wirken können. Und wenn jemand vom Schweizer Bundesamt für Gesundheit in Bezug auf die steigenden Ansteckungszahlen von „Schock“ spricht, dann ist das gleichzeitig ein Schock für das Immunsystem von Hunderttausenden Menschen. Diese Person trägt also Mitverantwortung dafür, was sich nach solch einer Aussage in den Körpern der Menschen abspielt, insbesondere in den Geschwächten. Dass es sich bei dieser Person um einen Arzt handelt ist selbstredend – und Ausdruck eines Gesundheitssystems, das zwar teuer ist, aber offenbar äusserst anfällig.

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