Tagebuch 2020, Woche 28: Chaos – Neutralität – Schwäche

Weil Musik und Geselligkeit auch der Gesundheit guttut und die staatlich verordnete Isolation aufs Gemüt schlägt: MusikerInnen beim Privatkonzert ausserhalb von Quito, November 2020. – BILD: Autor unbekannt

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16. November – Chaos

 

Chaos total! Niemand hat Zeit, alle sind gestresst. Wann wir kollabieren? Keine Ahnung. Sind wir nicht schon dabei?

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19. November – Neutralität

 

Wenn ich mir die Debatte um die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) anschaue, kann ich nur den Kopf schütteln. Es scheint, als ob im Laufe der Covid-19-Krise jegliche Empathie mit dem Ausland vom Winde verweht worden sei, wenigstens bei Menschen wie Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Hauptsache Handy und 3-D-Drucker funktionieren, egal zu welchem Preis. Und ja klar: die eigene Existenzangst spielt natürlich ebenfalls mit. Die Debatte wird zwar geführt, aber ohne in die Tiefe zu gehen. Doch diese braucht es. Denn ohne die Strukturen, auf denen unsere Wirtschaft aufgebaut ist, wirklich in Frage zu stellen, werden wir nicht weiterkommen.

Selbstverständlich gehören die paar Konzerne in der Schweiz in die Schranken gewiesen. Es kann nicht sein, dass diese Steuererleichterungen erhalten und gleichzeitig – quasi staatlich legitimiert – anderswo auf dem Planeten Menschen und Natur gefährden. Das ist nicht nur Unsinn, sondern widerspricht, wofür sich die politische Schweiz anderswo gerne anpreist: Menschenrechte, Respekt vor dem Anderen und – ganz wichtig – Neutralität. Schon alleine Konzernen wie Glencore&Co. überhaupt ein Zuhause zu bieten scheint fragwürdig.

Das Konzert fand im Freien statt, und wer Masken tragen wollte, konnte dies selbstverständlich tun: Publikum beim Privatkonzert ausserhalb Quitos, November 2020. – BILD: Autor unbekannt 

Aber nochmals: Was wir in diesen Tagen hören sind die Nebengeräusche einer wesentlich grösseren Debatte, die durch Covid-19 in Gang gebracht werden könnte. Immerhin stehen unsere „Zivilisationen“ erst am Anfang einer wirtschaftlichen Krise, die schlimmer sein soll als jene in den 1930er Jahren. Nun stellt sich die Frage: Was machen wir damit? Die Kovi wäre jedenfalls eine gute Ausrede, um Antworten darauf zu suchen. Schliesslich sind die Konzerne lediglich die Speerspitze einer kolonialen Selbstverständlichkeit, an die sich Frau und Herr Schweizer gewöhnt haben. Denn eigentlich ist der Alpenstaat ja ein mausarmes Land ohne nennenswerte Rohstoffe – oder zumindest ohne diese auszubeuten. Die Abhängigkeit vom Ausland ist also eminent: ohne Rohstoffe keine Industrie und Technologie, kaum Exporte und – weniger Arbeitsplätze. Ändert man die Optik, könnte man auch sagen, dass die Abhängigkeit vom Ausland derart gross ist, dass man zur eigenen Existenzsicherung beide Augen zudrückt und geflissentlich mit Firmen und Staaten geschäftet hat, die die Menschen- und andere Rechte systematisch mit Füssen treten.

Und jetzt, da ich das Ganze aufschreibe, muss ich feststellen: Es ist gar kein Auge zudrücken. Viel mehr ist es aktive die Teilnahme an Kriegen, Umweltverschmutzungen und anderem fragwürdigen Verhalten, die die offizielle Schweiz gerne bei anderen Staaten denunziert. Doch solange sie sich am Bau und Export von Waffen, Flugzeugen und anderem Kriegsmaterial beteiligt und durch Steuereinnahmen die Staatskasse füllt, müssen wir gar nicht weiter über Menschen- und andere Rechte sprechen. Wenn es um die Wirtschaft geht, stehen diese nicht im Zentrum. Punkt. Genau deshalb sollten wir über Sinn und Zweck dieser Wirtschaft diskutieren, auch nach der Abstimmung zur Kovi. Denn Arbeitsplätze&Co. sind das Totschlagargument von Marktradikalen, die ihr Augenmass schon länger verloren haben und ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen gehen. Nur, ist diese Form des Wirtschaftens wirklich im Sinne der Bevölkerung?

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21. November – Schwäche

 

Ich war schon lange nicht mehr traurig. Heute bin ich es. Und irgendwie bin ich froh, dass sich mir dieses Gefühl von Schwäche und Zerbrechlichkeit wieder einmal zeigt. Will heissen: Ich lebe noch.

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