Tagebuch 2020, Woche 32: Nächstenliebe
„Man sagt, dass ich mich nicht bemitleiden soll, alt zu werden. Es ist dein Privileg, das vielen verwehrt bleibt“: Wandmalerei bei der Universidad Católica im Zentrum von Quito, Januar 2021. – BILD: mutantia.ch
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16. Dezember – Nächstenliebe
Die Umarmung kam von Herzen und dauerte mehrere Minuten. Erlaubt gewesen wäre sie freilich nicht, aber der Ärztin B. war das egal. Mit Maske und Gesichtsschutz umarmte die 62-Jährige die 90-jährige M., deren Mann vor wenigen Tagen gestorben ist. Sie hielt sie fest, Herz an Herz, und M. weinte. Wen, ausser der Ärztin, hatte sie dieser Tage schon umarmt?
Für B. könnte dies theoretisch zum Problem werden, zumal sie sich über die gesetzliche Anordnung hinweggesetzt hat und statt den Weisungen der Klinik ihrer Intuition gefolgt ist. Sie kennt M. seit langem, klar. Es besteht ein Vertrauensverhältnis, eine Zuneigung. Und M., die später auf dem Rücken liegt und von B. behandelt wird, sagt im Laufe der Behandlung, dass sie B. und ihre MitarbeiterInnen schon immer als FreundInnen und nicht als ÄrztInnen gesehen habe.
Bevor die Patientin den Saal schliesslich verlässt, kommt es zu einer zweiten Umarmung. Sie scheint Teil der Behandlung. Es fliessen auch dieses Mal wieder Tränen und es ist nicht klar, ob es an der Trauer über den Tod des Mannes liegt oder an der Tatsache, dass die Gefahr einer Ansteckung nicht viel wiegt, wenn die körperliche Nähe so viel Trost spendet. Die Umarmung von heute morgen war ein Akt der Liebe. Es war ein Akt der Rebellion.
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