Venezuela – Kündigungsgespenst – Versammlungsfreiheit

Bilder wie aus einem Hollywood-Film: Frauen und Männer, die in der Garage eines Einlkaufszentrums in Tumbaco, am Stadtrand von Quito, darauf warten, eingelassen zu werden. April 2020. – FOTO: mutantia.ch

* * *

9. Mai – Venezuela

 

Heute hat mir Joyner geschrieben. Wir haben den jungen Mann vor rund einem Jahr in El Juncal in Ecuadors Norden kennengelernt, zusammen mit Alejandro, einem unserer Fotografen. Joyner war damals mit ein paar Weggefährten aus Venezuela in Richtung Peru unterwegs – zu Fuss, wohlverstanden. Er werde ans Ende der Welt gehen, und danach noch weiter, scherzte er beim Binden seiner ausgelatschten Schuhe. Zwischen Caracas und El Juncal liegen knapp 2.500 Kilometer.

Dabei war Joyner ein paar Jahre zuvor dem Tod nur knapp entkommen, damals, als er einem ehemaligen Freund das Motorrad nicht ausleihen wollte und darauf mit mehreren Schüssen schwerverletzt worden war. Er habe den Angriff nur überlebte, weil er sich tot gestellt hatte, sagte er in El Juncal und zeigte uns seine Narben in Hüften und Beinen.

Inzwischen ist er längst in Peru angekommen und hat sich dort mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Auf seinem Facebook-Profil hielt er immer wieder fest, dass er sich nach wie vor en la lucha befinde – ein Kampf, der meistens mit dem eigenen Überleben einhergeht. Genauso wie bei Hunderttausenden anderen Flüchtlingen aus Venezuela, die über den Kontinent verstreut nach neuen Perspektiven suchen.

Ab und zu schrieb Joyner auch mir, wollte wissen, ob ich nach wie vor in Ecuador sei und was ich so mache. Die Bilder in seinem Profil zeigten ihn stets lachend, trotz der lucha. Die Nachricht von heute hingegen war anders, bedrückt und hoffnungslos: Ich dachte, meine Reise in den Süden würde mich zum Erfolg führen, doch das Einzige, was ich fand, ist Trauer. Derzeit habe ich bei ein paar compañeros aus Venezuela Unterschlupf gefunden. Und dann fragte er, ob ich ihm von Ecuador aus irgendwie helfen könne. Er habe Hunger und seit Tagen nichts mehr gegessen.

 

* * *

10. Mai – Angst

 

In Quito sind die Menschen äusserst ängstlich, wenn es um Covid-19 geht. Klar, die Bilder aus Guayaquil, die als Negativbeispiel um die Welt gingen, haben auch die Menschen hier erschüttert. Deshalb ziehen sie sich praktisch seit Ausbruch der Pandemie nicht nur die vom Stadtpräsidenten verordneten Masken über Nase und Mund, sondern stülpen sich auch in Gummihandschuhe und Ganzkörper-Overalls. Dazu gibts Brillen oder die neu auf den Strassenmärkten erhältlichen Schutzmasken, die der Schutzvorrichtung eines Schweissers entsprechen, nur eben transparent. Und so ähneln die Verängstigten in ihren Kostümen ChemikerInnen oder BiologInnen in heikler Mission.

Wer keine Maske trägt, wird schräg angeschaut, beschimpft oder sogar von der Polizei gebüsst: 100 Dollar, fast ein Viertel des Mindestlohnes … Und wer an Covid-19 erkrankt und sich nicht an die Quarantäne hält – sprich, zuhause bleibt – dem drohen ein bis drei Jahre Gefängnis. Die Stadtverwaltung hat deswegen extra überdimensionierte Plakate aufgehängt, die vor einer möglichen Haft warnen.

#DisziplinUmZurückzukehren – Die Frage ist nur: Zurück zu was? Plakat der Stadtverwaltung von Quito, Mai 2020. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird mit ein bis drei Jahren Gefängnis bestraft. So will es eine entsprechende Verordnung, die in den ersten Wochen nach Beginn der Quarantäne verabschiedet worden war. – BILD: mutantia.ch

Klar, all diese Umstände haben Quito in einen ungemütlichen Ort verwandelt. Die Angst ist allgegenwärtig und das Misstrauen gross. Wo man hinkommt stehen Alkohol-Dispenser, und in unserem kleinen Lebensmittelladen an der Ecke haben sie extra eine Person angestellt, die den Leuten Alkohol auf die Hände und rund um den Körper spritzt – als ob das dämonische Virus überall lauern könnte und wir als Menschen es nur überlebten, wenn wir uns zwei, drei- oder zehnfach schützen, egal mit was. Freilich geschieht all dies im Wissen (oder eben nicht), dass wir selber weiss Gott wie viele Viren und Bakterien in uns tragen und ohne diese gar nicht leben könnten.

Die Massnahmen gegen die Pandemie hat hier jedenfalls groteske Züge angenommen und zu einem Verhalten geführt, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Vor Spitälern und Märkten zum Beispiel stehen Sprühtunnels, wo die Menschen mit Desinfektionsmittel abgespritzt werden, notabene Chemikalien, die auch als Korrosionsschutzmittel für Autos eingesetzt werden. Ganze Strassenzüge werden mit derselben Chemikalie abgespritzt, und der Vizepräsident Ecuador lobt solche Aktionen in den höchsten Tönen. Dazu gilt es zu erwähnen, dass die Männer in Quito vor der Pandemie an jede mögliche Strassenecke pissten und Hygiene nicht gerade zu den Merkmalen dieser Stadt zählten. Umso überraschter bin ich nun, dass eine grosse Mehrheit diesen Hygienetripp mitmacht.

Als ich kürzlich einen befreundeten Anthropologen darauf angesprochen hatte, und meinte, das Verhalten der Menschen wirke angesichts der sonstigen Realität irgendwie heuchlerisch, antwortete er: Das ist keine Heuchelei, sondern Unwissen. Die Menschen haben keinen Bezug zu ihren Körpern und damit zu ihrer Gesundheit. Deshalb klammern sie sich an die Angst und befolgen die Anweisungen von oben.

Es sind die Weisungen derselben Leute, die den Bildungs- und Gesundheitssektor während den vergangenen Jahren zusammengestrichen haben.

 

* * *

12. Mai – Kündigungsgespenst

 

Zum zweiten Mal innert einer Woche sind gestern hunderte von StudentInnen hier in Quito auf die Strasse gegangen, um gegen die Sparmassnahmen im Bildungsbereich zu demonstrieren. 100 Millionen Dollar sollen jährlich wegfallen. Hinzu kommen Zusammenlegungen in Kulturinstitutionen und beim Arbeitsministerium, sprich: das Ganze wird auch uns direkt betreffen. Denn der Arbeitgeber von Marizu hängt direkt von diesem Ministerium ab.

Das Kündigungsgespenst dreht also auch in unserem Haushalt seine Runden. Umso wichtiger war es für mich, gestern ebenfalls auf die Strasse zu gehen. Dabei geht es in Ecuador längst nicht mehr „nur“ um Bildung, Gesundheit oder Kultur. Was im Andenstaat auf dem Spiel steht – und leider nicht nur hier – sind mehr oder weniger etablierte demokratische Strukturen, die es der Bevölkerung erlauben, in relativer Freiheit zu leben. Mit Betonung auf relativ. Natürlich lässt sich das hiesige Gefüge nicht mit jenem in europäischen Ländern vergleichen, dazu sind die Klassenunterschiede viel zu gross und die VolksvertreterInnen zu korrupt. Hinzu kommt ein toxische Beziehung zwischen Regierung und Volk, die sich durch gegenseitiges Misstrauen auszeichnet. Sie schraubt täglich etwas mehr am Hebel der Unterdrückung und der wirtschaftliche Druck ist mittlerweile derart gross, dass längst tausende Menschen kaum oder nur noch wenig zu essen haben.

Das Geschäft mit der Angst und dem Unwissen: In Ecuadors Hauptstadt, die zur Provinz Pichincha gehört, wurden insbesondere zu Beginn der Quarantäne ganze Quartiere mit Desinfektionsmittel versprüht. Das Bild stammt von der Facebookseite von Ecuadors Vizepräsident, Mai 2020. – BILD: Facebook/Otto Sonnenholzner 

Bereits vor Wochen hatte mir ein Bauer aus dem Norden des Landes am Telefon erzählt, dass Tagelöhner nachts auf die Felder gingen, um dort Erdäpfel aus der Erde zu klauen – ganz einfach, weil sie keinen Lohn mehr haben.

Hunger, kombiniert mit der Angst vor einer möglichen Ansteckung mit Covid-19, hat hier ein Klima der Unsicherheit geschaffen, und kaum jemand hat die Kraft oder den Mut, auf die Strasse zu gehen, um gegen diese Situation zu protestieren. Deshalb wirken die derzeit stattfindenden Studentenproteste wie Balsam.

Als ob dies nicht genug wäre, hat die Regierung angekündigt, die staatlichen Subventionen auf Treibstoffe nun doch zusammenzustreichen. Das hatte sie bereits im Oktober 2019 vor, worauf der zwölftägige Landesstreik folgte, bei dem tausende Menschen verletzt und mindestens neun durch Polizei oder Militär getötet worden waren. Nun nützen Lenin Moreno&Co. das Eingesperrtsein der Menschen aus, und pauken Dinge durch, bei denen sie normalerweise auf Widerstand gestossen wäre. Die Willkür wird zum Alltag und das heisst nichts Gutes.

 

* * *

15. Mai – Versammlungsfreiheit

 

Als Journalist – das sei an dieser Stelle einmal erwähnt – ist es unerträglich, eingesperrt zu sein. Zur Erinnerungen: Seit dem 17. März herrscht hier Ausnahmezustand mit einer Ausgangssperre zwischen 14 Uhr nachmittags und 5 Uhr morgens. Würde dies in dieser Form dort geschehen, wo ich geboren wurde – in der Schweiz – wäre ich jeden Tag auf der Strasse. Ich würde das Zuhause sein noch viel weniger aushalten, weil ich weiss, dass meine Vorfahren dort Rechte erkämpft haben, die meine Generation weiterverteidigen muss. Ob meine Proteste in der Schweiz auf fruchtbaren Boden stossen würden, weiss ich nicht, aber versuchen würde ich es trotzdem. Mit einem Schild in der Hand, oder nein, ein solches bräuchte es gar nicht. Mein Körper würde reichen – mein Körper, mein Territorium. Dieses hat zwei Beine und kann sich also bewegen. Nix da mit Computerarbeit während andere draussen verrecken!

Ich kann die hiesige Stille bis heute nicht nachvollziehen. Sie macht mich unruhig. Schliesslich sind diverse meiner Rechte, unserer Rechte, seit zwei Monaten arg eingeschränkt, allen voran die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. Und die Basis für diese Eingriffe sind letztlich Annahmen. Nein, ich sage nicht, dass es Covid-19 nicht gibt. Aber hat uns je jemand erklärt, wie genau das Virus Sars-Cov-2 in den Umlauf gekommen ist? Hat eine demokratisch organisierte Gesellschaft nicht das Recht zu erfahren, wie es möglich war, dass ein Virus innerhalb weniger Wochen den halben Planeten lahm legen konnte? Müssten wir nicht zusätzliche Informationen haben, um urteilen zu können, also auch, ob der Umgang mit diesem Virus gerechtfertigt ist? Warum wurden andere Meinungen während den vergangenen Wochen grosszügig umgangen oder in den Dreck gezogen? Warum die Videos von kritischen Ärzten aus dem Internet gelöscht? War das etwa Zensur? Und inwiefern stehen wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel, die es den Staaten nicht erlauben, Fragen wie diesen nachzugehen?

Mir bleibt im Moment nichts anderes übrig, als dieses Tagebuch zu schreiben und Fragen zu stellen – im Wissen, dass ich als Ignorant oder Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden könnte. Doch wie las ich kürzlich: Dass jede anders lautende Meinung derzeit gleich eine Verschwörungstheorie ist, ist die eigentliche Verschwörung. Fragen zu stellen ist kein Recht. Es ist eine Pflicht.

Verlassen und verwaist: ein Spielplatz im Quartier “La Floresta” im Norden von Quito. Der Rasen wurde sowohl hier als auch in vielen anderen Parks der Stadt während Wochen nicht  geschnitten, Mai 2020. – BILD: mutantia.ch 

* * *

16. Mai – Normalität

Seit gestern ist Sommer: stahlblauer Himmel, am Mittag warm und trocken und nachts ziehen wie so oft die vom Amazonas kommenden Wolken den Machangara hinauf, der Machangara, eine Kloake von Fluss, der von der Stadtverwaltung Quito bereits vor Jahren auf Grund seiner Verschmutzung durch Industrie und menschliche Fäkalien für tot erklärt wurde. Also alles relativ normal, wenn man Zerstörung als Normalität betrachtet. Vorgestern war es übrigens noch nass und kalt, und wir mussten zum Schlafen zusätzliche Decken über uns legen.