Tagebuch 2020, Woche 10: Feuchter Traum – Gemüsegarten

Wo sich Paare “ewige Treue” schwören und diese mit einem Schloss besiegeln: der Aussichtspunkt Guapulo, von wo aus man ins Tumbaco-Tal sieht. Es ist einer der Orte in Quito, wohin die Sonne früh morgens als erstes hinfällt. – FOTO: mutantia.ch

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15. Juli – Feuchter Traum

 

Gestern Abend nach 21 Uhr: Marizu und ich waren gerade in eine Partie Schach vertieft, als uns eine Nachricht via WhatsApp erreichte. Normalerweise schaue ich um diese Zeit nicht mehr aufs Handy: zum Schutz meiner Augen und meines Verstandes. Schliesslich sitze ich täglich sechs, manchmal mehr Stunden vor dem Computer, was gegen jegliches meiner Prinzipien des Guten Lebens verstösst. Gestern aber war ich etwas auf Nadeln, denn erstmals seit Monaten hatte eine Kollegin wieder einmal die spanisch sprachige Produktion von mutantia.ch übernommen, und ich wollte bei Fragen zur Verfügung stehen. Ausserdem handelte es sich um einen heiklen Artikel (es ging wieder einmal um Erdöl), bei dem im letzten Moment Anpassungen vorgenommen wurden und ich sicherstellen wollte, dass diese berücksichtigt würden.

Doch die Nachricht auf dem Handy hatte nichts damit zu tun, sondern mit dem Ausnahmezustand wegen Covid-19 und den angeblich überfüllten Spitälern in Quito. Eine Studienkollegin der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) hatte eine Nachricht des lokalen Krisenstabes weitergeleitet, wonach neuerdings härtere Massnahmen im Umgang mit der Pandemie beschlossen worden waren. Konkret: Verbot von Alkoholausschank an den Wochenenden, die Ausgangssperre sollte neu ab 19 Uhr gelten und nicht ab 21 Uhr, keine weiteren Sondergenehmigungen in Bezug auf Individualverkehr sowie – und diese Massnahme sollte uns kurzzeitig amüsieren und gleichzeitig den Abend verderben – das Verbot von Treffen mit Freunden und Familie im eigenen Zuhause. Que!? Klar, dass dieser letzte Punkt nicht eingehalten würde, nicht eingehalten werden kann. Die Menschen sind hier seit Mitte März eingesperrt, haben kein oder nur ein sehr geringes Einkommen. Und nun will ihnen die Regierung auch noch verbieten, sich zuhause zu treffen.

Theoretisch mögen diese Massnahmen Sinn machen – theoretisch und in den Köpfen von ein paar Technokraten, die am liebsten hätten, wenn keiner mehr auf die Strasse gehen und sich das Leben vollautomatisch vor dem Computer abspielen würde. Doch praktisch lassen sich solche Hirngespinste nicht umsetzen. Und wenn doch – dies eine meiner Befürchtungen, – dann nur im Verbund mit BürgerInnen, die es sich zur Aufgabe machen, Nachbarn anzuzeigen, sie zu denunzieren und dadurch den feuchten Traum der chinesischen Führungsriege (und wohl auch ein paar Geheimdienstlern im Westen) in die Tat umzusetzen.

Marizu und ich haben für Sonntag einen Brunch vorgesehen und werden diesen nicht verschieben. Ausserdem ist für Samstag die erste TCM-Klasse seit Februar angesetzt. Und morgen rollt die nächste Demonstration an. Nix da mit weiter Einsperren, Angst schüren und Rechte beschneiden.

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Die Hoffnung nicht verloren: Andrea und Mariluz, zwei der etwa sechs GemüsegärtnerInnen, die regelmässig zum säen und Wasser geben nach Guapulo kommen. – BILD: Sol Vasconez

Die steil abfallenden Hänge machten Terrassen-Bauten unumgänglich: Auf den vier Ebenen wurden Mais, Bohnen und Gurken gepflanzt. Noch befinden sich die Samen in der Erde, ohne ihre Triebe zu zeigen. – BILD: Sol Vasconez

Die GärtnerInnen hatten nicht nur mit der Trockenheit der Sommermonate zu kämpfen, sondern auch mit Dieben, die diverse Setzlinge ausgegraben und mitgenommen haben. Auch deshalb ist der Garten auf diesen Bildern derart leer. – BILD: Victor Cobo-Medina

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20. Juli – Gemüsegarten

 

In einer halben Stunde gehts zur huerta, dem kleinen Gemüsegarten, den wir zusammen mit anderen Nachbarn bewirtschaften: alles junge Leute aus der Mittelschicht, die genug haben vom Zuhause sitzen und warten. Lieber zwei Mal die Woche raus, um ein paar Beete zu bepflanzen und sich mit Gleichgesinnten zu treffen. Die Werkzeuge lagern wir in einem veganen Restaurant beim Mirador de Guapulo. Den Mais, die Bohnen und die Salate pflanzen wir auf einem Grundstück direkt unter dem Gasthaus. Die Hänge fallen steil ab und es ist alles andere als einfach, hier etwas anzupflanzen.

Die schätzungsweise hundert Quadratmeter Land gehören der Stadt Quito. Allerdings hat sich diese bereit erklärt, das Grundstück kostenlos zur Verfügung zu stellen, vorausgesetzt, wir kümmern uns um den Müll – in erster Linie Bierflaschen, Zigarettenstummel und sonstigen Unrat – den feiernde Menschen an diesem Ort regelmässig liegen lassen. Der Aussichtspunkt wird gerade an den Wochenenden stark frequentiert, und das dort Verbrauchte landet leider oft im Gebüsch. Wir betrachten das Aufräumen als Teil unserer Aufgabe, den Menschen zu zeigen, dass es sich hier eigentlich ziemlich gut leben liesse. Ob die Botschaft ankommt, wissen wir nicht. Vielleicht bei der nächsten Pandemie oder wenn sich das Wasser auf Grund der Verschmutzung gar nicht mehr trinken lässt.

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