Tagebuch 2020, Woche 11: Maskenlos – Ungewissheit – Territorium
Von oben verordnete Angst: Der Schriftzug “Salva tu vida. Usa mascarilla.” auf einem der Busse in Quito bedeutet auf Deutsch nicht weniger als: Rette dein Leben. Benutze Gesichtsmasken. – BILD: mutantia.ch
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21. Juli – Maskenlos
An diesem Wochenende bin ich zum ersten Mal wirklich mit Covid-19 in Kontakt gekommen. Und das nach immerhin vier Monaten Pandemie. Zwei KollegInnen unseres TCM-Studiengangs erzählten von ihren Erfahrungen. Die eine von ihnen arbeitet in einer Privatklinik, die andere in einem staatlichen Gesundheitszentrum im Süden Quitos. Beide haben Menschen an Covid-19 sterben sehen, erstgenannte auch ArztkollegInnen.
Es sind Geschichten, die ich bisher fast ausschliesslich aus den Medien gehört und gesehen habe. Sie waren weit weg und, wie vieles während der vergangenen Wochen und Monate, schwer fassbar. Wer keine Verwandte oder Bekannte hatte, die an Covid-19 gestorben sind (oder MIT Covid-19), für die oder den war die Krankheit kaum greifbar, auch für mich. Sie wirkte wie ein Gespenst.
Dennoch: Diese zweifellos traurigen Geschichten werden an meinem Alltagsverhalten nicht viel ändern. Auf dem Velo werde ich die Maske weiterhin nicht tragen, und auch nicht, wenn ich alleine in der Strasse unterwegs bin – ganz einfach, weil es da keinen Sinn macht. Wenn es immer irgendwie geht, versuche ich, mein Gesicht unter freiem Himmel nicht zu bedecken. Denn das verlangen die ecuadorianischen Behörden, und zwar ohne Ausnahme. Und wenn ich es doch tue, etwa wenn die Polizei in der Nähe ist, dann bleibt mein Zinken an der frischen Luft.
Maske falsch angezogen? Korrekt! Denn stundenlang den eigenen Atem einschnaufen, kann langfristig nicht gesund sein – auch nicht für die Krankenschwestern, FabrikarbeiterInnen und Büroangestellten, die sich, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollen, an diese Regel halten müssen. Wer möchte, kann dieses Verhalten nun als unsolidarisch brandmarken. Gleichzeitig sei dann aber der Hinweis auf unser sonstiges Zusammenleben gemacht, jenes vor der Pandemie. Dieses war durch vieles geprägt, nur nicht durch Solidarität. Ob das trotzig ist? Nun, ich betrachte es eher als einen stillen Protest gegen Massnahmen, deren langfristige Konsequenzen bei der Beurteilung gar nicht berücksichtigt werden.
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In dunklen Zeiten ein Licht aufgegangen: Wer die Maske so trägt, umgeht in Ecuador eine Busse und kann gleichzeitig das wieder einatmen des eigenen Co2 vermeiden. “No puedo respirar” bedeutet auf Deutsch “Ich kann nicht atmen”. – BILD: mutantia.ch
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23. Juli – Ungewissheit
Alberto Acosta sagte gestern am Telefon, dass Ecuador die schlimmste Krise seit Republiksgründung vor zweihundert Jahren durchlebt: schlimmer als vor zwanzig Jahren, als die Währung vom Sucre auf den Dollar umgestellt wurde und auch schlimmer als in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das auch von Bürgerkriegen heimgesucht wurde.
Es sind die Einschätzungen eines Wirtschaftsfachmanns, eines langjährigen Politikers und Beobachters des ecuadorianischen Lebens und der ecuadorianischen Geschichte. Als Aussenstehender, der ich bin, erhält die aktuelle Situation durch besagte Lektüre eine neue Dimension.
Klar, man sieht die Menschen in der Strasse, und klar, man bekommt von jenen mit, die wenig oder nichts zu essen haben. Man weiss von den Hunderttausenden von Arbeitslosen, und das weltweit von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren die Rede ist. Aber wie es in einem einzelnen Land tatsächlich aussieht, wie die Geschichte hier oder dort gespielt hat, wie sich die Menschen vor Ort verhalten, und vor allem, was uns alle erst noch erwartet, das können Leute wie Alberto besser abschätzen.
Was das für mich als Journalist, Bürger und Weltenbummler heisst? Ganz einfach: Ich weiss es nicht.
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25. Juli – Territorium
Letztlich beschränkt sich mein Einflussbereich auf meinen eigenen Körper. Er ist das einzige Territorium, über das ich alleine entscheiden kann. Niemand schreibt mir vor, welche Substanzen ich ihm zuführen, welche Strapazen ich ihm aussetzen und mit welchen Menschen ich ihn paaren möchte. Deshalb trage ich Verantwortung, mich um ihn zu kümmern und ihn so lange am Leben zu halten, bis mein Spirit einen Wohnungswechsel beantragt.
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