Tagebuch 2020, Woche 15: Rave – Alarm – Bildschirm – Passsammlung

Über Geschmack lässt sich streiten, über Geschäftsideen ebenfalls: maskierte Puppen in einem Schuhladen im Stadtteil La Floresta, Quito. Kaum hatte die ecuadorianische Regierung die Maskenpflicht verhängt – übrigens bereits im März 2020 – schossen MaskenproduzentInnen und -verkäuferInnen wie Pilze aus dem Boden. – BILD: mutantia.ch

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16. August – Rave

 

Ende der 1990er Jahre, als meine Hormone verrückt spielten und damit auch mein Musikgehör, war ich dem Rave verfallen. Stundenlanges Bumbum tat meiner Seele gut. Zugegeben, sie muss in einem traurigen Zustand gewesen sein. Und klar könnte ich auch heute noch eine Nacht lang durchtanzen, nur dass die Erholungszeit danach wesentlich länger wäre. Seis drum: Ich habe Verständnis für diese Form von Musik und bin mir bewusst, dass sie nur zur Geltung kommt, wenn man sie laut hört.

Nun haben sich aber seit ein paar Wochen auf der gegenüberliegenden Talseite von unserer Wohnung Rave-Parties installiert, die abends um neun losgehen und zwölf Stunden später immer noch nicht zu Ende sind. Dass die Raves trotz Ausgangssperre stattfinden, finde ich sympathisch. Sollen die Jungs und Mädels ruhig das Eingesperrtsein der vergangenen Monate aus ihren Körpern tanzen. Und wenn sie sich mit Alkohol und anderen Substanzen zudröhnen, dann sollen sie auch das tun. Es geht nichts über eine drogenreiche Jugend, vorausgesetzt derjenige, der sie lebt, gewinnt dadurch Bewusstsein und erlangt früher oder später jenes Freiheitsgefühl, das es ihr oder ihm erlaubt, besagte Substanzen suchtfrei einnehmen zu können.

All das finde ich ok, ja sogar gut. Was ich weniger gut finde, ist die Tatsache, dass andere Leute, die eigentlich Ruhe haben wollen, durch den Sound in Mitleidenschaft gezogen werden. Noch bin ich mir nicht hundert Prozent sicher, woher das Bumbum genau kommt, aber es deutet alles auf eine Bar auf dem Kamm des Auquis hin, also unserem Hausberg, den ich im Juli ständig durchstreifte. Der Ort liegt geschätzte fünfzig Höhenmeter über unserer Wohnung und die Scheinwerfer der Lichtanlage sind bestens zu erkennen. Von dort beschallen die fünfzig oder sechzig Nasen – mehr passen nicht in diese Bar – das gesamte Guapulo-Tal, immerhin mit mehreren tausend Einwohnern. Und als ich heute Morgen meine Oropax rausnahm, nachdem ich mich mitten in der Nacht ins Hinterzimmer auf meine aufblasbare Matratze verkrochen hatte, und der Rave noch immer im Gange war, da frage ich mich, ob sich die Partyveranstalter bewusst sind, wie viele Menschen sie seit Wochen jeweils samstags (teilweise auch schon am Freitag) um ihren Schlaf bringen.

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18. August – Alarm

 

Am Wochenende haben wir die Schlüssel bekommen, um ein Haus in unserem Quartier zu hüten, nur gerade drei Blocks von dort, wo wir wohnen. Tanja* und Mauro* wollten nach Monaten des Eingesperrtseins und der Geburt ihrer Tochter im April endlich wieder einmal in die Natur, weg von der Grossstadt, um endlich frische Luft zu atmen. Wir wissen von früher, dass in dieses Haus schon mehrfach eingebrochen worden war. Nicht dass Tanja und Mauro sehr reich wären, aber die beiden schätzen es, gut zu wohnen und haben deshalb ein Haus gemietet, in dem durchaus zwei Familien leben könnten. Ja, eigentlich war dies zu Beginn auch der Plan, denn Tanjas Familie lebt in Venezuela und spielte zwischenzeitlich mit dem Gedanken nach Ecuador zu flüchten, einem mehr oder weniger sicheren Hafen. Sicherer jedenfalls als Caracas, eine der gefährlichsten Städte weltweit.

Marizu und ich sind am Sonntagnachmittag an dem Haus vorbeigelaufen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist – und um Präsenz zu markieren. Denn während Armut und Verzweiflung zunehmen, sinkt die Hemmschwelle für Einbrüche, Diebstahl oder Überfälle. Doch an diesem Tag sahen wir nichts und gingen wieder nach Hause. Doch kaum hatten wir die Tür hinter uns zugezogen, rief uns Tanja an. Ihre Nachbarin habe soeben angerufen und gemeint, die Alarmanlage sei ausgefallen …

Pandemie-Massnahmen oder Staatsterrorismus? Die Grenzen zwischen Schutz und Bevormundung haben sich längstens vermischt, und manche bringen ihren Unmut darüber – wie in diesem Falle der Bio-Bauer Ägidius Wellenzohn aus Südtirol – auf ihrer Facebook-Seite zum Ausdruck, August 2020. – BILD: Facebook Ägidius Wellenzohn/Screenshot

Also gingen wir zurück und betraten das Gelände, im Wissen, dass sich die Alarmanlage eventuell doch aktivieren könnte. Das tat sie dann auch, nachdem ich die Türfalle des Hintereingangs runtergedrückt hatte. Nach unendlichen zwei Minuten des Dröhnens zogen wir die schwere Metalltüre am Eingang wieder zu und gaben Tanja von zuhause aus via Sprachnachricht Entwarnung. Soweit so gut.

Doch gestern Abend, nachdem die junge Familie nach zwei Tagen Abwesenheit wieder zurück war, musste sie feststellen, dass nachmittags um 14 Uhr jemand versucht hatte, einzubrechen. Tanja konnte diese Angaben deshalb so genau machen, weil das Alarmsystem eine Meldung an die Sicherheitsfirma abgegeben hatte, welche daraufhin ausgerückt war. Am Abend dann stand die Polizei vor dem Haus. Später schickte Tanja uns eine Sprachnachricht. Wenn keine Pandemie herrschte, sagte sie, würde sie sofort etwas anderes suchen. Verständlich, wenn jemand erst vor kurzem Mutter geworden ist. Da braucht es ein sicheres Zuhause und nicht einen Ort, der offenbar von Leuten aus der Nachbarschaft als mögliches Einbruchziel auserkoren worden ist.

Spät abends schickte sie folgende Nachricht, die offenbar in der Nachbarschaft via WhatsApp und Facebook zirkulierte. „Guten Abend, liebe Nachbarn, ich weiss, dass mich viele von euch nicht kennen, aber ich lebe von klein auf in diesem Quartier, und es wäre mir recht, wenn alle vorsichtig wären. Es gibt einen Avelo azul, der durchs Quartier streift, und beinahe hätten sie mich vor meiner Haustüre mit Pistolen überfallen (…). Zwei waren zu Fuss unterwegs, zwei in besagtem Auto. In meinem ganzen Leben habe ich nie eine solche Situation erlebt. Das Quartier war für mich stets sehr sicher (…). Sollte euch etwas Ähnliches passieren, bitte ich euch dies zu veröffentlichen, um uns so in Alarmbereitschaft zu halten und gegenseitig zu schützen.“

*Namen geändert

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20. August – Bildschirm

 

Marizu hat gerade ein Treffen – nicht etwa mit einem Menschen aus Haut und Knochen, sondern mit einer Maschine aus Metallen und Plastik. Eigentlich trifft sie sich mit ihrem Bildschirm. Hübsch, nicht?

 

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„No hay paso al Corona“ – „Corona kommt hier nicht durch“: KünstlerInnen aus dem Stadtteil Guapulo haben bei einer Einfahrt nach Quito kurzerhand eine Verkehrstafel umgestaltet, April 2020. – BILD: mutantia.ch 

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23. August – Passsammlung

 

Mariluz (nicht Marizu!), Nachbarin und Freundin, wollte eigentlich im Oktober nach Paris reisen, um dort ihren Bruder und dessen Familie zu besuchen. Naja, und auch um zu schauen, ob sich in Sachen Liebe und Leben wieder mal etwas tut. Bis vor ein paar Wochen rechnete sie damit, dass Frankreich seine Tore wieder öffnet. Doch seit dieser Woche ist alles wieder anders. Freunde aus la France hatten ihr mitgeteilt, dass sie voraussichtlich nicht einreisen kann. Das wäre eigentlich halb so schlimm, zumal eine solche Reise ein Luxus ist und sich auch zu einem späteren Zeitpunkt realisieren liesse. Nur ist die Sache die, dass Mariluz Ende September aus ihrer Wohnung in Quito ausziehen muss. Denn dann kommen die Besitzer nach einem zweijährigen Aufenthalt in Buenos Aires zurück – stets vorausgesetzt, dass Argentinien seinen Flughafen wieder öffnet …

Die Pandemie, beziehungsweise der Umgang mit derselben, lässt vieles im Ungewissen. Mariluz ist mit ihrer Passsammlung (Venezuela, Ecuador und Chile) zwar relativ gut aufgestellt, doch ohne Papiere aus dem EU-Raum ist alles etwas komplizierter. Solange die Grenzen dicht sind beziehungsweise nur für gewisse Leute offen gehalten werden, wird Mariluz in Quito festsitzen und ihr Vermieter vermutlich in Buenos Aires. Beide müssen derzeit von Tag zu Tag schauen, wie es weitergeht. Das ist zwar ohnehin Alltag in Lateinamerika, aber es wird durch die Pandemie nochmals potenziert. Das Gute ist, sagte Mariluz gestern beim Frühstück mit venezolanischen Arepas (köstlich) und dünnem Kaffee (weniger köstlich), dass sie sich bereits diverser Dinge entledigt habe, allen voran Kleider und Utensilien, die sie nicht mehr braucht. Den Umzug, wohin auch immer, wird sie auf jeden Fall mit weniger Gewicht antreten.

 

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