Tagebuch 2020, Woche 5: Räubergeschichten – Tunnelblick

Morgenwäsche der lokalen Fauna, auch bei Nebel: Auf einem Kabel sitzend putzt sich dieser Vogel sein Federkleid. Für die Tierwelt galt auch in Ecuador keine Quarantäne. Selbst auf den Hauptverkehrsachsen war plötzlich wieder Vogelgezwitscher zu hören. – FOTO: mutantia.ch

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8. Juni – Räubergeschichten

Seit vergangenem Mittwoch steht die Ampel in Quito auf orange, will heissen, dass diverse Geschäfte unter strikten Auflagen wieder öffnen dürfen, dass Busse wieder fahren (alle müssen sitzen und nur jeder zweite Sitzplatz ist besetzt, zumindest theoretisch) und – und das ist die grosse Erleichterung für den Moment – dass die Ausgangssperre nur noch von 21 bis 5 Uhr morgens gilt und nicht schon ab 14 Uhr. Seit März wurde gebüsst, wer nachmittags aus dem Hause ging. Diese Restriktionen waren mit die grösste Belastung der vergangenen Wochen.

Am vergangenen Samstag nun war ich erstmals seit dem 17. März nach Sonnenuntergang wieder einmal draussen. Doch richtig angenehm war diese Erfahrung nicht. Da war zum Beispiel die Polizei, die unermüdlich ihre Runden durchs Quartier drehte. Das mag zwischenzeitlich eine abschreckende Wirkung auf Gauner haben, aber es ist allgemein bekannt, dass die Uniformierten hier oft eng mit Dieben und Banden zusammenarbeiten. Dann war da dieser maskierte Mann (naja, maskiert sind sie ja hier im Moment alle), der in Jeans und Jacke von einem Ort zum anderen joggte, ohne dass ersichtlich gewesen wäre, welches seine Absichten waren. Es sah jedenfalls nicht nach trainieren aus. Eher roch es nach einem „Abchecken des Quartiers“, um zu sehen, was sich wo und wann mit wie vielen Leuten abspielt. Schlaumeier!

Und dann waren da natürlich noch all die Räubergeschichten der vergangenen zwei Jahre, die einem beim Quartierspaziergang in den Sinn kommen. Lustig sind diese nicht, zumal sich die Einbrecher oft mit Messern und Pistolen in Szene setzen und die AnwohnerInnen, einmal beim Eingang abgefangen, dazu zwingen, sie ins Haus zu lassen. Aber nun gut: Sich deswegen verrückt machen zu lassen, bringt genauso wenig wie Trump oder Bolsonaro auf ein Gespräch über Umweltschutz einzuladen – Zeitverschwendung.

So oder so ist es ein Problem, wenn man sich langfristig abends oder nachts nicht mehr frei bewegen kann. Alt werden möchte man in solch einem Umfeld jedenfalls nicht. Und auch jung zu sein, ist nicht einfach. Man gewöhnt sich jedenfalls nicht an alles …

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Der Konsum hat während den Monaten der Quarantäne zwar abgenommen, dennoch zählte die Müllabfuhr in Ecuadors Hauptstadt, ähnlich wie anderswo, zum “systemrelevanten Sektor”: Arbeiter in Quito, die den Abfall zur Müllhalde fahren.  – BILD: mutantia.ch  

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11. Juni – Tunnelblick

Am Wochenende waren wir das erste Mal seit drei Monaten wieder einmal in einem Café. Es war ziemlich leer und die improvisierten Plastikabsperrungen zwischen den Tischen erinnerten daran, in welcher Zeit wir leben. Die Servierdamen bedienten uns mit Mundschutz, und darüber trugen sie die in einem früheren Beitrag angesprochenen Schweisser-Masken aus Plastik. Wir assen Frühstück, tranken Kaffee und dann taten Marizu und ich, was wir bei solchen Gelegenheiten gerne tun: Wir schmiedeten Pläne. Naja, zumindest versuchten wir es. Planen ist eine Art Ritual und bei ArgentinierInnen (Marizu kommt aus Mar del Plata) äusserst beliebt. Man lässt seinen Gedanken, Visionen und Phantasien Freien Lauf und schaut dann, ob sie sich mit der Realität vereinbaren lassen – was oft nicht der Falle ist. Nichtsdestotrotz ist es ein schönes Ritual, um dem Alltag zu entkommen. Und das hatten wir dringend nötig.

Allerdings standen unsere Gedankenkonstrukte an diesem Tag auf erschreckend wackligen Beinen. Marizu sagte zwar, dass sie nach ihrem Studium einen Monat nach Kuba wolle, aber mehr kam da nicht. Sie überlegt sich zwar, irgendwann noch einen Doktor zu machen, in Spanien vielleicht, doch irgendwie schwang in ihrer Stimme wenig Zuversicht mit. Wozu ein Doktortitel, wenn sich nicht einmal einigermassen abschätzen lässt, was nächste Woche geschieht?

Mir selber, eigentlich stets voller Pläne und Ideen, ging es ähnlich. Ich kam nicht einmal so weit, an die Zeit nach Ecuador zu denken. Das kommt selten vor, denn wie gesagt, ans Pläne schmieden habe auch ich mich gewöhnt. Und plötzlich kommt da nichts! Ich fühlte mich jedenfalls ähnlich leer wie die ecuadorianische Staatskasse. Nicht einmal der Maisfladen mit Konfitüre und Kaffe vermochte mich aufzuheitern. Mag sein, dass in zehn oder zwanzig Jahren alles ein bisschen besser aussieht, aber für die nächsten Jahre sehe ich ziemlich viel Dunkel. Die Fahrt in den Tunnel ohne Licht am Ende geht weiter. Und vielleicht sollte ich an dieser Stelle aufhören zu schreiben, bis sich die dunkeln Wolken über meinem Kopf wieder verzogen haben.

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PS: Noch schulde ich der Leserschaft eine Antwort in Bezug auf die abgemagerten Hunde von Elvias Nachbar. Diese hielten sich an besagtem Tag vergangene Woche offenbar in ihrer kleinen Hundehütte beim Hang versteckt und hatten meinen Besuch nicht mitbekommen. Als ich nun diese Woche wieder da war, raschelte ich präventiv mit dem Plastiksack, in dem ich das Futter mitgebracht hatte. Und siehe da: Schwanz wedelnd und Speichel leckend traten sie aus ihrem kleinen, ausgewaschenen Hüttchen und warteten geduldig, bis ich ihnen das Futter runterwarf. Gut zu wissen, dass sie am leben sind.