Tagebuch 2020, Woche 6: Wanderung

Wohnen am Hang, wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft: Auch unser Daheim findet sich auf diesem Bild. Kleiner Hinweis: das Gebäude ist weiss gestrichen und trägt eine Satellitenschüssel zur Dekoration. – FOTO: mutantia.ch

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15. Juni – Wanderung

 

Gegenüber unserer Wohnung steigen am Wochenende jeweils die Gleitschirmflieger in die Luft. Der Hügel erreicht an seinem höchsten Punkt über dreitausend Höhenmeter und wird Auqui genannt, in Kichwa so etwas wie eine noble Person oder eine Göttlichkeit. Getragen von der Luft kreisen die Fallschirme teils weit über dem Hügel, unmittelbar neben den Raubvögeln, die sich das Guapulo-Tal für ihre Späh-Flüge ausgesucht haben.

Ich war am Samstag selber vor Ort – nicht zum Fliegen, sondern um aus der Stadt zu kommen. Der Weg zum Startplatz führt am Garten von Elvia vorbei, und weiter oben, wo alles noch ein bisschen ländlicher ist, und ich mich schliesslich verlaufen sollte, stand ich plötzlich auf einer Wiese mit meterhohem Gras, den Tau an den nackten Beinen und die Morgenkälte in den völlig durchnässten Füssen. Ich ging der Nase nach und landete irgendwann am Fusse eines Bauernhofes, dessen Dach seit wenigen Minuten von den ersten Sonnenstrahlen getrocknet worden sein muss. Auf einem Holzstrunk sass ein Mann und starrte ins Leere. Er war einer der wenigen mir fremden Menschen der vergangenen Monate, die ich ohne Gesichtsmaske gesehen habe. Als er mich endlich wahrnahm, zuckte er mit den Schultern, quasi um zu fragen: Und jetzt? Wo gehts weiter auf diesem Weg? Ich wusste von einer früheren Wanderung, dass ich nur wenige Meter unterhalb des Gleitschirmstartplatzes stand, und irgendwie über das Gelände dieses Bauernhofes kommen musste. Ich fragte den Alten, ob er mich durchlässt (die Frage war überflüssig, aber aus Anstand stellte ich sie trotzdem), und der Mann liess mich mit einem freundlichen Knurren gewähren.

Ich stieg über den Steinweg hoch zum eingezäunten Gelände der Gleitschirmflieger, und legte, einmal am Absprungort angekommen und die pralle Sonne im Gesicht, meine Socken zum Trocknen auf den Rucksack.  Die Aussicht war fabelhaft! Man konnte den Cayambe-Vulkan (5.790 Meter über Meer) auf Grund des Dunstes zwar kaum erkennen, doch man sah den Ilaló, den Flughafen weiter hinten bei Puembo und auch sah man die Bergkette, die die Anden vom Amazonasbecken trennten. Einer der Gleitschirmflieger meinte auf Grund der tiefstehenden Wolken dahinter zu erkennen, dass es im Amazonas im Moment wohl weiter regnen müsse.

Das Urbane und das Bäuerliche in unmittelbarer Nachbarschaft: Quitos Finanzzentrum mit seinen Hochhäusern (hinten) sowie die kleinbäuerliche Produktion (vorne) im Guapulo-Tal. Auch Nachbarin Elvia kultiviert hier ihr Gemüse. – BILD: mutantia.ch  

Ich nahm den Herrn Tolstoi aus dem Rucksack und begann ein paar Seiten zum Tod von Ivan Illich zu lesen. Dann legte ich mich ins Gras und genoss es, einfach mal wieder nur mit meinem Körper in Kontakt zur Erde zu sein. Die Gleitschirmflieger sprangen je nach Wind im Minutentakt in Richtung Tal, manchmal schaute ich ihnen nach, manchmal war ich beim Leiden des Ivan Illich, manchmal bei mir selber. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages während einer tiefgreifenden Menschheitskrise in einer Grosstadt festsitze und mich über diesen seltenen Augenblick des Kontaktes zur Natur derart freuen würde?

Nach einer Stunde oder zwei, Uhr hatte keine dabei, machte ich mir ein Sandwich mit Avocado, Käse und Tomaten, packte schliesslich meine Sachen Zusammen, und ging auf dem Rücken des Auqui in Richtung Süden. Ich wollte wissen, wie das Leben weiter vorne aussieht, also vorbei an jener Antenne, die wir von unserem Stubenfenster aus sehen können. Und als ich hundert Meter runtergelaufen war, wurde mir wieder klar, wo ich eigentlich bin. Die Gleitschirmflieger mit ihren Walkie-Talkies, den Sportschuhen und anderem Equipment – vermutlich irgendwo im Globalen Norden entstanden – sind nicht der Alltag in Quito. Sie sprechen sich mit dem englischen Bro an (vom englischen „Brother“) und haben ihre Ausbildung möglicherweise an einer der Privatuniversitäten erhalten, wo die monatlichen Mitgliederbeiträge so hoch sind, wie das Drei-Monatsbudget einer vierköpfigen Familie im Süden der Stadt.

 

Ich strich meine Hand über das Fell der Katze, doch das Einzige was ich spürte,
waren ihre Knochen. Meine Finger verloren sich in ihrer Wirbelsäule. Als das Tier das Rascheln
des Plastiksacks hörte, den ich aus meinem Rucksack gezogen hatte, wurde es ganz aufgeregt.

 

Das barrio unweit von den Gleitschirmfliegern zeichnet sich durch unverputzte Hauswände aus, durch mit Paletten abgesperrte Tierställen sowie einsam angekettete Kälber und abgemagerte Hunde. Ich nahm den Waldweg, der an dieses Quartier angrenzt, um zu schauen, wohin er mich führt. Links von mir standen in Reih- und Glied gepflanzte Eukalyptusbäume, rechts der improvisierte Zaun, bestehend aus ausrangierten Paletten. Dazwischen hörte man das gelegentliche Grunzen eines Schweines. Gleich dahinter ein kleiner Blätze Mais, dazwischen Kürbisse, die noch auf ihre Reife warten. Angebaut vermutlich für den Eigenkonsum. In einem der Ställe lag ein Kalb in der Fötusstellung, traurig wie es schien, darauf wartend, bis auch dieser Tag vorüber sein sollte. Ich zog eine Karotte aus dem Rucksack, biss sie in Stücke, und schmiss sie dem Tier vor die Nase. Doch das Kalb wollte nicht. Anders die Reaktion ein paar Meter weiter drüben, als ich einem verfilzten Wollknäuel ein paar Fetzen Brot zuwarf. Es stellte sich herauf, dass es ein Hund war. Er sah zwar kaum etwas, aber er roch das Brot und fand es schliesslich auch.

Doch dem weitaus dünnste Tier auf meiner Wanderung sollte ich auf dem Nachhauseweg begegnen: einer Katze. Sie lag mitten auf der Strasse und kam, als sie mich erblickt hatte, miauend auf mich zu. Ich strich meine Hand über ihr Fell, doch das Einzige was ich spürte, waren ihre Knochen. Meine Finger verloren sich in ihrer Wirbelsäule. Als das Tier das Rascheln des Plastiksacks hörte, den ich aus meinem Rucksack gezogen hatte, wurde es ganz aufgeregt. Es muss seit Tagen, vielleicht sogar Wochen nichts oder nur sehr wenig gegessen haben. Ich riss das letzte Stück Brot in kleine Stücke, und legte es auf die Strasse. Da ging plötzlich die Türe auf, und eine junge Frau mit Schürze stellte einen Teller mit Katzenfutter auf den Tritt. Wir grüssten uns, und mir wurde klar: Ich wurde von Innen beobachtet. Und als ein paar Minuten später aus dem zweiten Stock desselben Hauses ein Kessel Wasser auf die Strasse geleert wurde, war mir klar, dass der Zeitpunkt gekommen war, den Ort zu verlassen.

 

Aussicht auf den Ilaló, den Hausberg von Tumbaco, einer Vorstadt con Quito, die im Laufe der vergangenen Jahre mit der Hauptstadt zusammengewachsen ist: Von hier aus setzen die Gleitschirmflieger zu ihrem Flug an. Die Aufnahme stammt von 2019. – BILD: mutantia.ch