Tagebuch 2020, Woche 7: Ritual – Privileg

Ein kurzer Moment der kollektiven Introspektion: Inti Raymi, das Fest zur Sommersonnenwende, hat dieses Jahr im kleinen Rahmen stattgefunden, in diesem Falle im Hinterhof eines kleinen Cafés im Zentrum von Quito. – FOTO: mutantia.ch 

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22. Juni – Ritual

 

Gestern war Inti Raymi, und vorgestern haben wir das Ritual zur Sommersonnenwende gefeiert, immerhin eines der wichtigsten Feste im Jahreskalender der Indigenen. Es war nicht wie in anderen Jahren, als dutzende, wenn nicht hunderte im Kreis tanzend der Sonne gebührten und sich mit Hilfe von Bier, Wein und anderen Getränken in eine Art Trance tanzten. Rund ein Dutzend Personen hatte sich fast ein bisschen heimlich für die kleine Zeremonie im Hinterhof eines kleinen Cafés im Zentrum von Quito zusammengefunden.
Die beiden Frauen, die durch die Zeremonie führten, trugen Gesichtsmasken und baten von Anfang an, die Bio-Sicherheit (wie sie hierzulande genannt wird), einzuhalten, also Abstand halten und Maske tragen. Die Leute hielten sich mehrheitlich daran, obwohl soziale Distanz auf Grund des beschränkten Raumes kaum möglich war, und soziale Nähe für die Feier eigentlich unabdingbar ist.

Das Feuer brannte bereits eine Weile und der Rauch stieg in den bedeckten Vormittagshimmel. Links davon sass eine kleine, alte Dame aus Stein, um sie herum Blumen und Blätter und getrocknete Maiskolben zur Dekoration. Bei Inti Raymi werden als erstes die vier Himmelsrichtungen angerufen sowie die verschiedenen Geister. Die beiden Frauen am Feuer nahmen drei Koka-Blätter in die Hand – sie symbolisieren Mutter, Vater und Kind – hielten sie zuerst an die Stirn, danach an den Mund und warfen sie schliesslich, einmal zwischen ihren Händen zermahlen, ins Feuer. Es folgten andere Essenzen, darunter Zimt, sowie hochprozentiger Alkohol und Wein. Normalerweise wird ein Teil davon ins Feuer gegossen, ein anderer getrunken. Und zwar direkt aus der Flasche. Dieses Mal verzichtete man darauf. Alles war ein bisschen distanzierter, ein bisschen vorsichtiger, zumindest zu Beginn.

Nach ein paar Minuten begannen die Gesänge. Die Lieder vermischten sich mit den Gebeten jedes Einzelnen, der am Feuer vorbeikam und dort still formulierte, was sie oder er verbrennen wollte: das Alleinsein der vergangenen Wochen, der Schmerz, die Trauer, die Isolation.

Weiter hinten hatte sich ein Pärchen in die Arme genommen, die Frau schluchzte leise. Währenddessen wurde beim Feuer gebetet und gesungen. An den Wänden hingen Wünsche und Worte, und das Schluchzen der Frau, die von ihrem Freund fest umarmt wurde, dieses Schluchzen verwandelte sich immer mehr in ein herzhaftes Weinen. Tränen für einen verlorenen Grossvater oder einen Bruder, vielleicht für einen Hund oder eine Katze, vielleicht aber auch einfach nur Tränen für eine Welt, eine Gesellschaft, die einen ratlos zurücklässt. Eine Welt, welche die Kultur und die Rituale von einst längst ausgetrieben und durch kalte Kirchen und kaltblütige Geldinstitute ersetzt hat – und über die sich letztlich nur noch weinen lässt.

Draussen auf der Strasse hingegen brodelt es. Gegen die Sparmassnahmen der Regierung und die Privatisierungspolitik demonstrierten auch Ende Juni wieder hunderte BürgerInnen. Auf dem Bild sind StudentInnen der Zentraluniversität zu sehen, die in Kürze No mas recortes auf den Platz vor dem Finanzministerium in Quito malen werden. – FOTO: mutantia.ch

Obwohl ich den Grund ihrer Emotionen nicht kannte, fühlte ich mich an die Sterblichkeit unseres Daseins erinnert. Der Tod hat in diesen Wochen und Monaten an Protagonismus gewonnen. Praktisch alle in meinem Umfeld kennen inzwischen eine ihr oder ihm lieb gewonnenen Person, die in diesem Jahr ihr Leben gelassen hat – egal, ob wegen Covid-19 oder nicht. Das spielt letztlich keine Rolle. Der Tod hat sich im kollektiven Bewusstsein zu Wort gemeldet und wir sind ihm heute näher als noch im Februar. Rituale wie jenes zur Sommersonnenwende machen einem bewusst, dass da noch etwas anderes ist, etwas, dass sich nur schwer in Worte fassen lässt, jedoch Teil unserer Existenz ist. Unser Dasein auf diesem Planeten hat früher oder später ein Ende. Wir werden das Materielle hinter uns lassen, und vielleicht werden wir erst dann verstehen, wie unwichtig es war, und es letztlich nur dazu gedient hatte, unser irdisches Dasein zu vereinfachen.

Irgendwann hörte die Frau auf zu weinen. Der Schmerz und die Trauer hatten sich ausgewaschen, und nun war sie bereit, vor das Feuer zu treten und ihre Emotionen zu verbrennen. Eine der Zeremonienleiterinnen hielt schützend die Hände über ihren Nacken und Rücken, ohne sie dabei zu berühren. Es dauerte eine Weile und ich, der unmittelbar hinter ihr in der Hocke sass, spürte, wie mich ihre Tränen erreichten, wie ich an meinen 95-jährigen Grossvater dachte, er, der seit Jahren darauf wartet, gehen zu können, um dann, so hofft er, wieder mit seiner Jugendliebe zusammenzusein, sie, die damals in den 1950er Jahren nach der Geburt ihres zweiten Sohnes gestorben war.

Endlich umarmten sich die Zeremonienleiterinnen und die ausgeweinte Frau. Das Aus- und Aufatmen im Hinterhof des Cafés war spürbar. Der  anschliessende Tanz, dieses stampfende-sich-mit-der-Erde-Verbinden, hatte etwas zu tiefst irdisches. Es erlaubt uns, als Kollektiv aufzuwachen und das Toxische aus unseren Körpern zu lassen. Es bereitet uns darauf vor, sich den neuen Etappen des Lebens hinzugeben: die Etappe nach der Sommersonnenwende. Wir brauchen diese Kraft, denn stürmische Zeiten stehen bevor.

 

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25. Juni – Privileg

 

Gestern haben die StundentInnen der Zentraluniversität – notabene die älteste Uni in ganz Lateinamerika – ein weiteres Mal zu Demonstrationen aufgerufen. Es waren nicht wahnsinnig viele Leute zugegen, zwei- bis dreihundert vielleicht; auch MitarbeiterInnen öffentlicher Firmen waren da, etwa jene der staatlichen Fluggesellschaft Tame, die seit März kein Gehalt mehr bezogen haben und nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Doch die wenigen, die da waren, waren wütender als noch im Mai – und mutiger. So malten sie an zentralen Orten der Stadt meterhohe Buchstaben auf die Strasse. No mas recortes, stand da in roten Lettern; keine weiteren Kürzungen. Sie meinten die Budgetkürzungen im Bildungsbereich.

Doch ihr Slogan gilt längst für alle öffentlichen Sektoren, mal abgesehen von Polizei und Militär. Immer wieder fiel das Wort dignidad – Würde. „Wir sind nicht nur als Studenten hier, sondern auch als Kinder von präkarisierten Bauarbeitern und Strassenverkäufern, von Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz schlecht behandelt und ausgebeutet werden“, rief einer der Studenten ins Megaphone. Die Menge hatte sich vor dem Bildungsministerium aufgestellte (übrigens unmittelbar neben der Schweizer Botschaft) und machte klar, dass die Präkarisierung längst breite Teile der Gesellschaft erfasst hat und ein Leben in Würde immer schwieriger wird.

Wo demonstriert wird, lassen die Robocops der Regierung nicht lange auf sich warten: Aus kurzer Distanz sprüht ein Polizist Pfefferspray auf die Demonstrierenden vor dem Finanzministerium. Diese schmeissen darauf ihre Farbkessel in Richtung Polizei.  – FOTO: mutantia.ch

Am Abend dann, als wir mit Marizu eine Zigi rauchten, sprachen wir über die Situation. Marizu ist seit März auf Kurzarbeit. Allerdings kann man dies nicht mit der Kurzarbeit in der Schweiz vergleichen, denn hier geht es wirklich nur darum, irgendwie zu ein paar Dollarscheinen für Miete und Essen zu kommen. „Ich verstehe die Menschen, die auf die Strasse gehen, und gleichzeitig weiss ich, dass ich selber nach wie vor in einer privilegierten Situation bin“, sagte Marizu, nachdem sie die Zigarette am Terrassenrand ausgedrückt hatte. „Aber es ist schon tragisch: Wenn ich daran denke, unter welchen Umständen ich arbeite, und damit bereits zu den Privilegierten gehöre …“

Ich selber weiss nicht, ob „tragisch“ das richtig Wort ist. Für mich ist es eher besorgniserregend, denn durch die aktuelle Situation werden Realitäten geschaffen, die höchst explosiv sind und früher oder später in irgendeiner Form kompensiert werden müssen. Marizu ist längst nicht alleine mit diesem Gefühl. Sie ist eine von hunderttausenden in Ecuaodor und Millionen weltweit, und es bedarf keiner besonderer Analyse, um sich klarzumachen, dass dies mittel- bis langfristig nicht gutgehen kann.

Wenig überraschend kam es gestern auch noch zu Zusammenstössen zwischen der Polizei und den Demonstrierenden. Diese hatten begonnen, den Platz vor dem Finanzministerium zu bemalen. Ihre Transparente hielten sie so positioniert, dass zwischen Polizei und Demonstration eine Art Sichtschutz geschaffen wurde. Die Staatsgewalt sah nicht, was dahinter passierte. Als sie aber Wind von der Sache bekommen hatten, formierten sich die Robocops und drangen die Kinder der ausgebeuteten ArbeiterInnen zurück: mit Pfefferspray und Schlagstöcken. Am Ende standen nicht alle Buchstaben auf dem Platz, aber die meisten: No mas cortes.

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