“Wir können nicht darauf warten, dass Leute wie ich erwachsen werden
und die Verantwortung für alles übernehmen. Wir müssen jetzt handeln“.
Greta Thunberg
Aktivistin
Die durch Covid-19 ausgelöste Krise ist für Alberto Acosta lediglich eine von vielen Pandemien.
In seinem Gastbeitrag erklärt der Ökonom aus Ecuador wie Gesundheit und Wohlbefinden von wirtschaftlichen Interessen abhängen und warum er die Annahme der Konzernverantwortungs- initiative in der Schweiz als Pflicht von BürgerInnen sieht, die in einer verantwortungsbewussten Zivilgesellschaft leben.
18. November 2020, Quito – Januar vor knapp zwei Jahren in Brasilien: Im Bergwerk Corrego de Feijão, einem der weltweit grössten Eisenerzbergwerke, bricht ein Staudamm. Das giftige Abwasser zerstört unzählige Häuser, kontaminiert die Umwelt und fordert über 250 Menschenleben. Was sich damals in Brasiliens Südosten abspielte, war nicht einfach ein Unfall. Es war die unübersehbare Verletzung von Natur- und Menschenrechten. Denn die Bewilligung von Grossprojekten wie diesen bedeutet auch das Inkaufnehmen solcher Risiken – insbesondere wenn die notwendigen Schutzvorkehrungen ignoriert werden.
Wie immer in solchen Fällen ist die Liste der Verantwortlichen lang. Primär geht es um die brasilianische Bergbaufirma Vale, die weltweit grösste Eisenerzproduzentin und -Exporteurin, die auch vom Genfersee aus Handel betreibt. Der Konzern, der für dieses Desaster bereits verurteilt worden ist und in den kommenden Jahren Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe leisten muss, ist auch mitschuldig am Dammbruch von Samarco Mineração, fünf Jahre zuvor. Doch oft werden die Firmen, die ihren Sitz meist im globalen Norden haben, nicht zur Verantwortung gezogen. Das war übrigens auch der Fall der deutschen TÜV Süd, die wenige Monate vor dem Dammbruch das Bergwerk Corrego de Feijão als sicher zertifiziert hatte. Das Unternehmen mit Sitz in München wurde zwar Anfang dieses Jahres angeklagt, doch ein Gerichtsverfahren fand bisher nicht statt.
Die Geschichte aus Brasilien ist längst kein Einzelfall. Es gibt Firmen, die Projekte administrieren, die enorme Umweltzerstörung mit sich bringen und schwerwiegende soziale Folgen haben. Erwähnt sei an dieser Stelle der Fall Chevron-Texaco, der in Ecuadors Amazonasbecken sowohl die Natur als auch die Gemeinschaften Indigener zerstört hat. Der US-amerikanische Konzern fiel vor allem durch die aggressive und systematische Weigerung auf, Verantwortung zu übernehmen. Ebenfalls emblematisch ist der Rohstoffkonzern Glencore mit Sitz in der Schweiz. Als Teil eines internationalen Konsortiums fördert er den Kohleabbau im Nordosten Kolumbiens. El Cerrejón, einer der grössten Tagebaue der Welt, verursacht sowohl bei Menschen als auch bei Tieren grosse Schäden und verseucht jenen Fluss, der die Gegend ernährt: den Rio Ranchería. Es ist zwar bekannt, doch es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Glencore auf Grund seiner Bergbau-Aktivitäten sowohl in Lateinamerika als auch in Afrika einen äusserst schlechten Ruf hat.
Die Wirtschaftsbeziehungen neu dimensionieren
Unmittelbar beteiligt an solchen Projekten ist selbstverständlich auch die Finanzwelt. So überrascht es nicht, dass in der Liste fragwürdiger Firmen Banken und multilaterale Finanzinstitute auftauchen, die beim Kredit-Tanz um gigantische Rohstoff-Projekte mitmachen und sich sogar am Verkauf veralteter Technologien beteiligen. Es gibt internationale Firmen, die jeden Wahnsinn mitmachen, lediglich um ihre Produkte verkaufen zu können. Für die „begünstigten“ Länder wächst danach vor allem eins: der Schuldenberg.
Als Beispiel dient der Bau eines Atomkraftwerks auf den Philippinen. Es entstand in den 1970er Jahren, allerdings wurde es in einem Erdbebengebiet gebaut, gefährlich nahe an einem Vulkan. Das 2,5 Milliarden Dollar teure AKW, das längst Risse hat und bröckelt, hat bis heute keine einzige Glühbirne gespiesen… Nicht vergessen sollten wir ausserdem die Unternehmer, die aus moderner Sklaverei, Kinderarbeit oder dem Einsatz von verbotenen Pestiziden Profit schlagen.
Im Zeitalter des globalisierten Kapitals müsste es selbstverständlich sein, dass die Händler und Gläubiger, die Bauherren, Verwalter und Aktionäre dieser Grosskonzerne Verantwortung übernehmen, insbesondere weil viele dieser Aktivitäten oft durch Korruption und diverse Formen der Gewalt geprägt sind. In der Praxis gibt es jedoch kaum Möglichkeiten, entsprechende Ansprüche geltend machen zu können. Doch nicht nur das: Steueroasen, die sowohl die Anonymität als auch die Straflosigkeit der Kapitalgeber wahren, sind an der Zerstörung von Mensch und Natur beteiligt.
Aufbereitungsbecken für verschmutztes Wasser: Wegen des Baus der Kupfer-Mine Mirador im Süden Ecuadors sind dutzende Menschen von ihren Feldern vertrieben worden, Tundayme im Mai 2019. – BILD: Romano Paganini
Es ist deshalb an der Zeit, den internationalen Wirtschaftsbeziehungen ihre Platz zuzuweisen, will heissen: die Beziehungen neu zu dimensionieren, der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der Gemeinschaften und Gesellschaften – sowohl auf nationaler als auch lokaler Ebene – Vorrang einzuräumen und nur in gewissen Fällen, etwa um die regionale Autonomie zu stärken, den Import spezifischer Produkte zuzulassen, zum Beispiel Lebensmittel oder Medizin aus dem nahen Ausland. So wie es der britische Ökonome John Maynard Keynes (1883-1946) Anfang 1930er Jahre formuliert hatte. „Ich sympathisiere daher mit denjenigen, die die wirtschaftliche Verwicklung der Nationen minimieren, nicht mit denen, die sie maximieren. Ideen, Wissen, Gastfreundschaft, Reisen – das sind die Dinge, die von Natur aus international sein sollten. Aber lasst uns die Güter weiterhin lokal produzieren, solange dies vernünftig und möglich ist und lassen wir die Finanzen hauptsächlich national bleiben.“
Die aktuelle Produktions- und Konsumlogik demontieren
Angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate, der durch den Lockdown verursachten Blockaden sowie der zunehmenden Pandemien – Covid-19 ist nur eine von vielen, die durch den Kapitalismus verursacht werden – ist es unerlässlich, die globalen Wirtschaftsbeziehungen neu zu überdenken. Die Wirtschaft muss sich sowohl den Mandaten des Planeten als auch den Bedürfnissen der menschlichen Gesellschaften als Teil der Natur unterordnen. Und wenn es darum geht, die Ausbeutung der Natur zur Anhäufung von Kapital hinter uns zu lassen, dann gilt dies umso mehr für die Ausbeutung der Menschen.
Diese Herausforderung bedingt sozio-ökologische Vernunft sowie die Fähigkeit, die gegenwärtige Produktions- und Konsumlogik zu demontieren. Es ist notwendig, sich von den perversen Mechanismen und Zahnrädern des Weltmarktes zu lösen – allen voran von der Spekulation – und gleichzeitig den Umbruch zu fördern: freilich keine einfache Aufgabe. Wenn wir allerdings nichts dagegen tun, werden sich die Pandemien vervielfachen und selbst jene treffen, die glauben, der durch das Kapital verursachten Sintflut entkommen zu können.
Im Bestreben, die Weltwirtschaft neu zu überdenken, taucht die Forderung nach einem internationalen Rechtssystem auf, bei dem sowohl Menschen als auch Tiere, Pflanzen und ganze Ökosysteme Berücksichtigung finden. Es ist ein System, das Anforderungen an die ökologische und soziale Sorgfaltspflicht für sämtliche Organisationen festlegt – sowohl staatliche als auch private –, die kommerziell, finanziell und technologisch ohnehin eng miteinander verwoben sind; ein System, das im Rahmen der Vereinten Nationen jene Tribunale miteinbezieht, die die Anfechtung jeglicher Kontroversen ermöglichen, die in internationalen Wirtschaftsbeziehungen entstehen können, und wo Verantwortung eingefordert werden kann.
Eine Annahme der Initiative könnte selbst auf wirtschaftlicher Basis von Bedeutung sein. Denn so könnte sich die Schweiz als jenes Land präsentieren, dessen Produkte verantwortungsbewusst fabriziert worden sind. Sowohl in Bezug auf die Menschheit als auch auf Mutter Natur.
Doch so dringlich dieses Anliegen auch ist: Es dürfte nicht aus den gegenwärtigen Machtstrukturen hervorgehen. Vielmehr muss das Anliegen von jedem einzelnen Land angegangen werden. In der Pflicht stehen vor allem jene Staaten, deren transnationale Wirtschaftskapazitäten unbestritten sind und die über eine verantwortungsbewusste Zivilgesellschaft verfügen, die sich für die Durchsetzung von Natur- und Menschenrechten stark macht.
Die Schweiz ist ein solches Land. Und bei der Volksabstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative haben die BewohnerInnen die Chance, einen wirkungsvollen Präzedenzfall zu schaffen und dadurch anderen Initiativen – etwa dem Lieferkettengesetz in Deutschland – Aufwind zu verleihen. Eine Annahme der Initiative könnte selbst auf wirtschaftlicher Basis von Bedeutung sein. Denn so könnte sich die Schweiz als jenes Land präsentieren, dessen Produkte verantwortungsbewusst fabriziert worden sind. Sowohl in Bezug auf die Menschheit als auch auf Mutter Natur.
Der Autor ist Ökonom und gilt als Vater der ecuadorianischen Verfassung von 2008, die erste weltweit, bei der die Natur als Rechtssubjekt berücksichtigt wird. Der 72-Jährige hatte während der 1970er Jahre in Deutschland studiert. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und hat 2017 den Nachhaltigkeitspreis Hans-Carl von Carlowitz erhalten.
Übersetzung aus dem Spanischen: Romano Paganini
Korrektur: Katharina Hohenstein
Hauptbild: Eines der Probleme der Privatindustrie ist die fehlende Transparenz in Sachen Umwelt- und Sozialstandards: der Eingang zum Gelände einer Bergbaufirma, die nördlich von Quito Kupfer und andere Metalle abbauen will, Intag-Tal im Februar 2019 (Romano Paganini).