Gehen bis zum geht nicht mehr

Den Dschungel überlebt, von Drogenbanden verfolgt oder krank geworden in einem der unterkühlten Migrationsgefängnisse der USA: Die MigrantInnen zwischen Tijuana und
San Diego haben alles erlebt und nichts mehr zu verlieren. Teil zwei unserer Reportage
aus dem Grenzgebiet, aufgeschrieben in vier Kapiteln. 

 

Prolog

22. Juli 2019, Tijuana, Mexiko. – Der Fahrer der Stretchlimousine, rotblau-gestreifte Krawatte auf weissem Hemd, wartet auf seine Gäste. Sie kommen von der anderen Seite der Grenze und werden in einem der Lokale absteigen, für welche die Limousine wirbt: Las Chavelas, Hotel Cascadas oder Hongkong Gentlemans Club. Orte mit teurem Champagner und halbnackten Frauen. Unmittelbar hinter dem langen Fahrzeug stossen sich ein paar PendlerInnen durch die Metalldrehtür. Eben noch waren sie in den USA, jetzt stehen sie in Tijuana, Mexiko. Es ist Feierabend und die Grenzgänger kommen nach Hause. Viele von ihnen sind MexikanerInnen, aber auch US-AmerikanerInnen haben sich hier eingerichtet. Sie können sich die Wohnungsmieten in den USA nicht mehr leisten.

An der Ecke stehen ein paar Taxifahrer, ein Verkäufer versucht, seine chinesischen Handyschutzschalen aus Plastik loszuwerden und der Mann vom Tourismusbüro erklärt ein paar Touristinnen auf englisch, wie sie sicher ins Zentrum gelangen. Vorne, dort wo es Richtung San Diego geht, stauen sich wie immer die Autos. Der Gotthardtunnel zu Ostern wirkt im Vergleich dazu wie ein Strandbad bei Regenwetter. Tijuana gilt als eine der meist frequentierten Grenzübergänge weltweit. Stundenlang wird angestanden, bis die US-Behörden Papiere kontrolliert, Gesichter gefilmt und Wagen durchsucht haben, oft mit Hunden.

Während die einen also reinwollen, werden die anderen rausgeworfen. Fast täglich parkt vor den Toren Tijuanas ein Bus mit Auszuschaffenden. An der Grenze werden den Männern Handschellen und Fussfesseln abgezogen und dann spazieren sie durch die Drehtüre in die neue, alte Freiheit: Bye bye United States of America, Bienvenido México! Deportierte müssen zehn Jahre warten, ehe sie wieder auf legalem Weg in die USA einreisen können. Aber da sich viele von ihnen längst in Nordamerika eingerichtet haben, machen sie es wie die verzweifelten Flüchtlinge aus Mittelamerika oder Afrika: Sie gehen über die Grüne Grenze. 

* * * 

 

Kapitel 1 –  Die Liste an der Linie

Es ist kurz nach sieben Uhr morgens und noch ist es ruhig bei la linea. Die ersten MigrantInnen haben sich auf das Trottoir unterhalb der Autobahnbrücke gesetzt, sie schweigen und beobachten. Auf dem Areal der mexikanischen Grenzschutzbehörde direkt gegenüber richten sich ein paar Frauen und Männer unter einem Sonnenschirm ein – angeblich alles selbst MigrantInnen –, und legen eine Liste auf den Tisch: ein dickes Buch mit Namen und Nummern, teilweise nur mit Bleistift hingekritzelt. Unter der Autobahnbrücke macht das Gerücht die Runde, dass heute endlich wieder ein paar von ihnen durchgelassen werden.
Das war die vergangenen Tage nämlich nicht der Fall. „An fünf von zehn Tagen“, erzählt uns Greg* aus den USA, der täglich vorbeikommt, um kostenlos Haferbrei zu verteilen, „wurde keine einzige Person durchgelassen. Deshalb werden die Leute auch langsam nervös.“ So wie gestern, als ein junger Afrikaner unter Tränen schrie, er sei von den Leuten unter dem Sonnenschirm betrogen worden und er wolle sein Geld zurück. Mehrere seiner Weggefährten versuchten ihn zu beruhigen. Die Mexikaner schickten umgehend zusätzliche Polizisten zum Areal.

Schmieren unter dem Sonnenschirm
Seit etwa zwei Jahren besteht das Listen-System an der mexikanischen Grenze in Tijuana. Alle neu Ankommenden erhalten eine vierstellige Zahl, werden notiert und müssen dann warten – und zwar so lange, bis ihre Nummer aufgerufen wird. Ziel der Übung: eine Art Puffer-Zone zwischen MigrantInnen und eigentlicher Grenze zu schaffen – gemäss Hilfsorganisationen ohne rechtliche Grundlage.
Anfangs dauerte der Prozess ein paar Tage, dann ein paar Wochen, doch inzwischen warten die MigrantInnen Monate lang, bis sie bei der Migrationsbehörde der USA vorsprechen können. Bis vor kurzem, erzählt uns ein Venezolaner, der seit Ende Mai in Tijuana gestrandet ist, sei die Liste öffentlich zugänglich gewesen. Jeder habe mit eigenen Augen sehen können, wann er ungefähr aufgerufen wird. „Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Es herrscht Willkür und die Leute, die die Liste verwalten, werden geschmiert.“  
Diese Beobachtung bestätigen Augenzeugen. Eine Freiwillige aus San Diego erzählt uns, dass sie gesehen habe, wie erst gestern eine schwangere Frau einem Mann unter dem Sonnenschirm vierhundert Dollar gab und darauf durchgelassen wurde.

Dass sich an der Grenze zwischen Mexiko und den USA seit Jahren ein humanitäres Drama abspielt, ist bekannt. Für Donald Trump ist das jedoch kein Problem, sondern ein Wahlkampfthema. Was die Abschottungspolitik des US-Amerikanischen Präsidenten bewirkt, spiegelt sich im Tod jener MigrantInnen, die es nicht übers Meer, durch den Fluss oder die Wüste geschafft haben. „Es wird alles unternommen, um Migrierende abzuschrecken oder aufzureiben“, sagt Greg und schöpft Haferbrei in den Pappbecher eines Obdachlosen. Man sei sich in den USA gar nicht bewusst, welche Strapazen diese Menschen auf sich genommen hätten und welchen Gefahren sie ausgesetzt gewesen seien. „Jetzt sind sie hier, und können den langen Weg nicht einfach zurückgehen.“

Greg glaubt, dass die Verzögerungspolitik Tumps einzig und allein darauf ziele, an der mexikanischen Grenze eine Eskalation zu provozieren. „Dann“, so ist er überzeugt, „hat die USA einen Grund, ihre Grenzen ganz dicht zu machen.“ 

2681, 2682, 2683
Plötzlich leert sich der Tisch unter dem Sonnenschirm und zwei Frauen postieren sich hinter den Absperrungen: die eine mit der Liste in der Hand, die andere mit einem Megaphon. Dahinter ein paar stämmige Männer, die mehrmals darauf bestehen, nicht fotografiert zu werden. Inzwischen haben sich rund 150 Migrantinnen vor dem Areal versammelt, die meisten von ihnen aus Afrika, Mittel- und Südamerika sowie aus Haiti. Dann werden die Nummern aufgerufen: 2681, 2682, 2683. Die Aufgerufenen gehen an den beiden Frauen vorbei, und unterschreiben auf dem Weg Richtung USA noch das eine oder andere Papier. 
Später erzählt uns Guerline Josef von der Haitian Bridge Alliance, eine der vielen Hilfsorganisationen vor Ort, dass früher täglich bis zu siebzig Personen durchgelassen wurden. Heute seien es zehn bis zwanzig, „manchmal weniger“. 

* * *
 

Kapitel 2 – Das Massengrab im Dschungel   

Nach wenigen Minuten ziehen sich die Frauen mit der Liste und dem Megaphon zurück unter den Sonnenschirm und die Menge löst sich langsam auf. Jeremy Mulah* aus Liberia hingegen hat gesehen, wie wir die Szenen von vorhin fotografiert haben und bleibt stehen. Bist du Journalist, fragt er auf Englisch und sagt dann: „Es gibt einiges zu erzählen.“ Und ohne grosse Umschweife zieht Jeremy die Ärmel seines dünnen Pullovers hoch und zeigt seine beiden Ellbogen. Narben von Stichverletzungen, dazu ein gebrochenes Schlüsselbein.

Die, die ihm das angetan haben, verlangten von Jeremy, dass er frisches Blut trinkt. In Liberia, wie in anderen afrikanischen Staaten, kommt es nach wie vor zu sogenannten Ritual-Morden. Dabei werden dem Getöteten Ohren abgeschnitten, sowie Augen und Organe aus dem Körper geholt. Durch das Trinken des Blutes erhofft man sich ausserordentliche Kräfte.   

„Ich bin Christ“, sagt Jeremy während des Gesprächs mehrmals, „ich kann an solchen Ritualen unmöglich teilnehmen.“ Doch genau dazu sollen sie ihn gezwungen haben. Seinen Widerstand bezahlte der 39-Jährige mit Folter. Und während aus seinem Umfeld immer wieder Leute spurlos verschwanden, realisierte Jeremy Mulah eines Tages: Der einzige Weg, weiterzuleben, ist die Flucht.

Acht Meter hoch und über tausend Kilometer lang: Mit dem Bau des Grenzzauns zwischen Mexiko und den USA – hier am Strand von Tijuana – wurde 1994 unter der Regierung Bill Clintons begonnen.

Wie viele MigrantInnen aus Afrika kaufte auch er ein Flugticket nach Quito. Im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Einreise nach Ecuador sehr einfach. Es war der Beginn einer mehrwöchigen Odyssee, zu Fuss und im Bus. Zwischen Quito und Tijuana liegen mehrere tausend Kilometer.

Jeremy schmierte – wie ihm geraten wurde – die Grenzbeamten in Kolumbien und zahlte auch seine Schlepper für den schwierigsten Teil der Reise: der fünftägige Marsch durch den Dschungel im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Panama. Mit weit über tausend anderen Frauen und Männern sei er unterwegs gewesen, durch Sümpfe gewatet und durch Flüsse geschwommen. Nachts versuchte er, so gut und sicher wie möglich ein paar Stunden zu schlafen. Wer kein Wasser und nichts mehr zu Essen hatte, trank aus dem Fluss und ass, von dem was er fand – oder aber er wurde Teil des Massengrabs. „Ich habe weit über hundert Tote gesehen“, berichtet Jeremy. Liegengeblieben am Wegesrand.

Vor anderthalb Monaten kam er in Tijuana an und erhielt dort eine Nummer: etwas über 3.800. Heute schläft er in einem Apartment und teilt Küche und Bad mit anderen Männern aus Afrika. Geld schicken ihm Freunde und Familie, die schon länger in den USA lebten. „Anders könnte ich hier gar nicht überleben. Ich habe schliesslich keine Arbeitsbewilligung.“ Und auch der Gang über die Grüne Grenze kommt für ihn nicht in Frage. „Ich möchte die Gesetze hier einhalten.“

 


„Es herrscht wenig Bereitschaft, den Migranten ihre Grundrechte zuzugestehen, etwa in Sachen Bildung. Eher wird ignoriert oder diskriminiert.“ 

Paulina Olvera Cáñez,
Präsidentin der Non-Profit-Organisation Espacio Migrante


Die AfrikanerInnen, die in Tijuana auf Einlass warten, kommen aus Eritrea, aus dem Südsudan, aus Senegal, Liberia oder dem Kongo. Die grösste Community stammt allerdings aus Kamerun. Gemäss dem Onlineportal heraldodemexico.com.mx (auf Spanisch) sind Mitte Juli hundert weitere MigrantInnen aus dem ostafrikanischen Staat in Tijuana eingetroffen. Viele von ihnen haben weder Geld für Essen noch ein Dach über dem Kopf. Aber in Kamerun bleiben war keine Option. Denn dort wurden sie als englischsprachige Minderheit von der französischsprachigen Mehrheit über Monate hinweg verfolgt, unterdrückt oder gefoltert. Inzwischen herrscht Bürgerkrieg, die Rede ist von über einer halben Million Vertriebener.

„Geht nach Kanada!“

Zu ihnen gehören auch jene KamerunerInnen, die sich auf der anderen Seite des Rio Tijuana – einer beispielslosen Kloake – in einem abgehalfterten Haus eingerichtet haben, nur wenige Meter von dort, wo der „Sicherheitskorridor“ für TouristInnen vorbeiführt. Auch Jeff*, Anfang fünzig, steht vor dem Haus. Er stammt ursprünglich ebenfalls aus Kamerun, lebt aber seit über zwanzig Jahren in San Diego. Heute hat er la linea überschritten, um zu sehen, was er für seine geflüchteten Landsleuten tun kann, wie er sagt.

Offenbar hat er sich dazu etwas Mut antrinken müssen, sein Atem riecht streng nach Alkohol. „Ich sage euch“, beginnt Jeff und gestikuliert wie Christoph Blocher zu seinen besten Zeiten, „es bringt nichts, wenn ihr in die USA wollt. Dort wartet nur der Tod auf euch. Besser ist Kanada, dort ist die Einreise viel einfacher.“

Die Männer, die ihm zuhören, verschränken die Arme und mustern ihn von oben bis unten. Er mag einer von ihnen sein, doch weder wurde er in den letzten Monaten bedroht oder gefoltert, noch musste er durch den Dschungel. Inwischen sind ein paar Frauen dazugekommen und wollen wissen, woher Jeff das alles wisse, schliesslich lebe er in den USA. Da holt der leicht untersetzte Mann nochmals aus, fuchtelt mit den Armen und atmet schwer. 
 
Die tote Schwester im Arm
Etwas abseits der Menschentraube fragen wir einen der Zuhörer, kaum älter als fünfundzwanzig und die Baseball-Mütze tief im Gesicht, ob die Geschichten aus dem panamesischen Dschungel stimmen. Er holt sein Handy aus der Hosentasche und lässt zwei Videos laufen. In einem watet rund ein Dutzend Afrikaner durch einen Fluss. Einigen von ihnen steht das Wasser bis zur Brust, anderen bis zum Hals. Ihr Hab und Gut tragen sie auf dem Kopf.
     Das zweite Video zeigt einen jungen Mann, der ebenfalls im Wasser steht. Doch statt seinen Sachen hält er den Körper einer Frau in den Händen. „Das ist seine Schwester“, sagt der Kameruner mit der Baseball-Mütze und wartet noch ein paar Sekunden, bis er das Video wegdrückt. Der Mann auf dem Bildschirm schreit und weint in die Kamera und versucht den durchnässten BH seiner Schwester zurechtzurücken. Sie soll wenigstens jetzt, da sie nicht mehr ist, ihre Würde wieder erhalten. 
 

* * *

 

Kapitel 3 – Die HelferInnen mit dem Rücken zur Wand

Wer ins Kulturzentrum Espacio Migrante möchte, muss zuerst an einem Türsteher vorbei. Dieser verlangt Name, Ausweis und Grund des Besuchs und vergewissert sich dann bei seinen Vorgesetzten, ob er die schwere Metalltür öffnen soll oder nicht. Rund um das Gebäude, wenige Meter von la lineaentfernt, wurde ein hoher Zaun gebaut. Er soll die MigrantInnen schützen, die sich hier juristisch beraten lassen, an Einzel- oder Gruppentherapien teilnehmen, Englisch- oder Spanischkurse besuchen oder in der Herberge übernachten. Denn seit kurzem patroulliert die mexikanische Migrationsbehörde durch Tijuana – und zwar in Begleitung des Militärs. Sie kontrolliert Pässe und Papiere und sperrt jene Menschen ein, die die Auflagen nicht erfüllen.
Es sind die Vorboten dessen, was sämtliche Grenzstädte des Landes in den nächsten Wochen erwarten wird. Denn die Regierung in Mexiko-City hat dem Druck Washingtons inzwischen nachgegeben und 15.000 Streitkräfte der Guardia Nacional beauftragt, bei MigrantInnen härter durchzugreifen.   
 
Der Rassismus in Tijuana
Nach ein paar Minuten empfängt uns Paulina Olvera Cáñez, Gründerin und Präsidentin der Non-Profit-Organisation Espacio Migrante. Sie bittet uns auf der Polstergruppe im grossen Eingangssaal Platz zu nehmen. Rechts stehen Plastikkübel mit Wasser für den Fall eines Zufuhr-Unterbruchs, weiter hinten hat ein einheimischer Fotograf seine Bilder rund um das Thema Migration ausgestellt. Erst am Freitag, erzählt Paulina, sei ein Pickup der Migrationsbehörde vorgefahren, im Schlepptau ein Militärfahrzeug. „Über vierzig Minuten haben sie beobachtet, was rund ums Kulturzentrum passiert.“ Tags darauf sei dann eine Bewohnerin von Espacio Migrante auf offener Strasse verhaftet worden; gestern wiederholte sich das Ganze mit einem Mann aus Haiti. Beide wurden dank der Intervention von Anwälten wieder freigelassen.


“Die Menschen sind irgendwann derart verzweifelt,
dass sie in eine Depression fallen, Alkohol und Drogen
konsumieren und schliesslich in der Gosse landen.“
 

José María García Lara,
Direktor der Bürgerinitiative Juventud2000


„Natürlich hat das bei unseren Bewohnern grosse Angst ausgelöst“, sagt die 31-Jährige. Einzelne verlassen die Herberge kaum noch und hoffen darauf, dass an la linea bald ihre Nummer aufgerufen wird. Andere wiederum stellen sich darauf ein, länger in Tijuana zu bleiben. „Die Stadt ist längst nicht mehr nur ein Durchgangsort“, gibt Paulina zu bedenken. „Tijuana ist das Auffangbecken jener, die es nicht in die USA geschafft haben, für die aber eine Rückkehr in die Heimat keine Option ist.“ Die hiesigen Behörden würden sich schwer tun mit dieser neuen Situation. „Es herrscht wenig Bereitschaft, den Migranten ihre Grundrechte zuzugestehen, etwa in Sachen Bildung“, sagt die Mexikanerin. „Eher wird ignoriert oder diskriminiert.“ 
 
„Drecksarbeit der USA“
Im Süden Mexikos, an der Grenze zu Guatemala, sind die Kontrollen bereits im Juni massiv verschärft worden – teilweise durch staatliche Sicherheitskräfte, die im Umgang mit MigrantInnen kaum ausgebildet sind. Deshalb stehen die lokalen Hilfsorganisationen in Alarmbereitschaft und versuchen  jeden Verstoss gegen die Menschenrechte schriftlich festzuhalten. 
Auch an der Nordgrenze würde nun genauer hingeschaut und die MigrantInnen besser über ihre Rechte aufgeklärt, sagt Paulina Olvera Cáñez. „In Mexiko ist Migrieren kein Delikt. Unser Land erledigt einfach die Drecksarbeit der USA. Doch die Verantwortung für die aktuelle Situation liegt in Washington.” Schliesslich sei es die US-Regierung gewesen, die etwa den Putsch in Honduras 2009 unterstützt habe und diversen Präsidenten Mittelamerikas bis heute die Stange halte – obwohl deren Länder in Armut und Gewalt versinken. „Die USA will nicht wahrhaben“, sagt die Spezialistin in Lateinamerika-Fragen, „dass ein Grossteil der Migration durch ihre aggressive Aussenpolitik ausgelöst wird.“

Ein paar hundert Meter westlich von Espacio Migrante steht eine weitere der knapp zwanzig Herbergen in Tijuana. Die Trottoirs hier sind abgewetzt und die Pfützen am Strassenrand aus Motorenöl. Einer der vielen Garagisten verpasst seinem Hund einen kräftigen Tritt in die Rippen, weil dieser nicht folgen wollte, und weiter vorne, kurz vor dem Eingang zur Unterkunft, spaziert eine junge Familie aus El Salvador an einem Mann vorbei, der sich gerade eine Spritze in die Kniekehle setzt.
Eine Journalistin und ein Fotograf aus den USA verlassen das Büro von José María García Lara, kurz Chema, der auf Grund seiner Erfahrung und Offenheit ein beliebter Gesprächspartner ist. Der 52-Jährige ist Direktor von Juventud2000, einer Bürgerinitiative, die in ihren Zelten rund 140 Personen beherbergt. Viele der BewohnerInnen stammen aus Honduras und El Salvador, bis vor kurzem lebten sie auf der anderen Seite von la linea. Sie sind vor ein paar Stunden oder Tagen deportiert worden und stehen vor dem Nichts.
Chema ist besorgt über die Ankündigungen der US-Regierung, bald massiv mexikanische Sans-Papiers ausschaffen zu wollen. Zunächst hiess es, dass gegen rund 2.000 Personen in zwölf US-Städten gezielt vorgegangen werden soll. „Wir sind gar nicht vorbereitet, so viele Menschen auf einmal aufzunehmen“, gibt Chema zu bedenken und verweist auf die hohe Belegung der Herbergen Tijuanas. Er selber könne höchstens noch zehn Personen aufnehmen.
Derzeit macht in der Stadt das Gerücht die Runde, die Zentralregierung wolle bald mit dem Bau einer riesigen Unterkunft beginnen. Wann und wo ist allerdings nicht bekannt.

Kleider waschen in der Kloake
Den Ankommenden und Deportierten, die niemanden haben, der ihnen regelmässig Geld schickt, bleibt letztlich nur eine Option: die Strasse. Am Rio Tijuana beispielsweise haben sich ein paar MigrantInnen bei einem Schacht eingerichtet, trotz des unerträglichen Gestanks. Einzelne waschen ihre Kleider in der Kloake, Andere haben längst aufgegeben, möglicherweise schon vor Jahren. Sie schlafen auf Parkbänken, essen aus Mülltonnen und haben begonnen, Selbstgespräche zu führen.
„Das ist die andere Seite der aktuellen Migrationspolitik“, kommentiert Chema: „und zwar jene, die niemand hören und über die niemand sprechen will. Die Menschen sind irgendwann derart verzweifelt, dass sie in eine Depression fallen, Alkohol und Drogen konsumieren und schliesslich in der Gosse landen.“
Jene, die es vorher wegschaffen aus Tijuana, aus der Zermürbungstaktik bei la linea, tun dies meist still und leise. „Es ist höchst selten“, sagt der Direktor der Bürgerinitiative, „dass die Migranten sagen, wohin sie als nächstes gehen.“ 

* * *

Kapitel 4 – Die Schwangeren aus dem Eisfach

María ist auf der anderen Seite. Nach mehrwöchiger Flucht zusammen mit ihrem Mann hat sie die drei Nächte in einer der sogenannten „Ice-Boxes“ am Stadtrand von San Diego überlebt. Sie hatte kaum eine andere Wahl, als ihr Dorf an der Pazifikküste Mexikos zu verlassen. Denn dort, in der Provinz Michoacán, liefern sich Drogenbanden, Bürgerwehren und staatliche Sicherheitskräfte seit Jahren blutige Kämpfe und das Landhaus ihrer Familie steht mitten in der Schusslinie. Sie habe sich während den Schiessereien immer wieder unter ihrem Bett verstecken müssen. Auch hätten sie die einzelnen Parteien aufgefordert, die Gegenseite auszuspionieren und dann Rapport abzulegen.
Irgendwann sei die Situation nicht mehr tragbar gewesen, und sie habe sich mit ehemaligen Nachbarn in Verbindung gesetzt. Diese leben bereits seit Jahren in Kalifornien. Auch Familienmitglieder seien dort, „ja fast das halbe Dorf“. Da packten María und ihr Mann ihre Sachen und brachen in Richtung Norden auf.

Über zwei Monate warteten sie in Tijuana, bis ihre Nummer aufgerufen wurde. Dann wurden die beiden getrennt: der Mann wurde in eine Zelle mit Männern gebracht, María in eine mit Kindern und Frauen, viele von ihnen schwanger. Dort sei rund um die Uhr die Klimaanlage angeschalten gewesen, daher die Bezeichnung „Ice-Box“. Das Licht an der Decke brannte ebenfalls ohne Unterbruch. „Man wusste nicht, ob Tag oder Nacht war“, erinnert sich María, „die Zelle hatte keine Fenster.“
Den Raum teilte sie sich mit acht anderen Personen, genauso wie die Toilette. Diese befand sich ebenfalls in der rund zwanzig Quadratmeter grossen Zelle und war lediglich durch eine hüfthohe Mauer ohne Tür abgetrennt. Mit Decken aus Aluminum-Papier habe man sich notdürftig zugedeckt, doch die Kälte sei unerträglich gewesen. „Und unsere Bitten, die Klimaanlage auszuschalten, wurden ignoriert.“ Eine der Frauen sei  über zehn Tage in der Zelle gewesen und habe schwere Atemprobleme bekommen. Doch der Arzt, den sie verlangte, sei nie aufgetaucht.

Mann weiterhin im Gefängnis
Es wird alles unternommen, um Migrierende abzuschrecken oder aufzureiben, hatte Greg gesagt, der junge Aktivist mit dem Haferbrei. María wurde abgeschreckt und aufgerieben. Doch nach drei Tagen wurde sie plötzlich frei gelassen und in einen Bus nach Los Angeles gesetzt. Selbst das Ticket für die Weiterfahrt war bezahlt, offenbar von einem Verwandten aus den USA. Ausser ihrem Koffer, dem Handy und den Kleidern, die sie trägt, hat sie alles in Michoacán gelassen.   
All dies erzählt die Mittdreissigerin frühmorgens bei „Dennys“, einer US-amerikanischen Restaurantkette. Nun wartet sie auf die nächste Busverbindung. Kaum ist die Sonne an diesem 4. Juli aufgegangen, dem Unabhängigkeitstag der USA, strömen Eltern mit ihren Kindern ins Lokal und bestellen riesige Frühstückssteller.
María nippt an ihrer Tasse Kaffee, mag die Pancakes eigentlich nicht zu Ende essen. In den „Ice-Boxes“ habe sie jeden Tag Tacos mit Bohnen und Hamburger serviert bekommen. Ihr Magen sei durcheinander und sie sorge sich um ihren Mann. Denn er wurde nicht freigelassen. Ob er die Geburt seines ersten Kindes miterleben wird, ist ungewiss. María ist im siebten Monat schwanger.

*Namen geändert

Text und Bilder: Romano Paganini

Mitarbeit: Alejandro Ramírez Anderson