Gastbeitrag

Auswege für eine im Sterben liegende Zivilisation

Unser Vertrauen in lieb gewonnene Gewissheiten der Moderne wie „Fortschritt“, „Wissen“ oder Weltgewandheit“ sowie unser Glaube, die Komplexität des Lebens begriffen zu haben, wird durch die aktuelle Krise aufgewühlt. Das schreiben die Autoren des Buches „Pluriversum, ein Post-Wachstums-Wörterbuch“ in ihrem Gastbeitrag. Ihre Forderung: eine Demokratie, die auch nicht-menschliches Leben berücksichtigt. 

24. April 2020, Quito. – Das neuartige Coronavirus, das die Covid-19 Pandemie ausgelöst hat, betrifft uns alle, jedoch insbesonders diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich in häusliche Quarantäne zu begeben bis das Schlimmste vorüber ist: entweder weil sie kein Heim haben oder aufgrund der täglichen Einnahmen, auf die sie angewiesen sind. Die Krise bietet jedoch die Möglichkeit, historische Fehler zu korrigieren. Der Missbrauch von Mutter Erde und marginalisierter Menschen, also denjenigen, die am meisten unter der Pandemie leiden werden. Dieses Virus führt uns vor Augen, dass die herrschende Kultur der Globalisierung, die mit der systematischen Ausbeutung der Natur einhergeht, die lebenserhaltende Kapazität des Planeten erodiert hat. Mikroorganismen, die sich von ihrem Wirt loslösen, müssen für ihr Überleben einen anderen Körper suchen. Wir Menschen sind Teil der Natur; alles steht mit allem in Verbindung.

Die jetzige Pandemie ist lediglich ein Aspekt der globalen Krise unter vielen, die der Mensch im Zeitalter des Anthropozäns provoziert hat. Die Beschleunigung des Klimawandels – besser: Klimakollaps – und der Verlust der Biodiversität sind Teil desselben Grundphänomens. Covid-19 konfrontiert uns derart unmittelbar und tiefgreifend mit unserer zivilisatorischen Krise, dass die einzige realistische Strategie das Reparieren und Regenerieren des natürlichen Netzes des Lebens ist. Der nigerianische Philosoph Bayo Akomolafe merkt an, dass die Komplexität der gegenwärtigen Situation unsere grundlegenden Fähigkeiten herausfordert, angemessene Perspektiven zu denken und zu schaffen. Unser irrgeleitetes Vertrauen in lieb gewonnene Gewissheiten der Moderne wie „Geschichte“, „Fortschritt“, „Menschlichkeit“, aber auch „Wissen“, „Zeit“, „Weltgewandheit“ und unser Glaube, die Komplexität des Lebens bereits begriffen zu haben, wird durch diese Krise aufgewühlt.

 

Männliche Macht, lebensgebendes Prinzip der Weiblichkeit 

Die Corona-Krise beleuchtet eine im Sterben liegende Zivilisation und zeigt zeitgleich ein „Pluriversum“ möglicher, im Entstehen begriffener Welten auf. Denn wie die Doppelbedeutung jeder Krise im Chinesischen immer zugleich Wagnis als auch Chance ist, liegt die Schlüsselfrage der Erneuerung unserer Ökonomie und Politik in den planetarischen Grenzen, die für die gesamte Menschheit gelten. Verwaltungsbürokratische und technokratische Patentlösungen werden weichen müssen – zugunsten tiefgreifender, systemischer Wandlungsprozesse, die die strukturelle Ungerechtigkeit und die Nicht-Nachhaltigkeit hinter sich lassen und eine Zukunft für alles menschliche und nicht-menschliche Leben ermöglichen. Wir brauchen eine dramatische Transformation, hin zu einer echten Demokratie, im Vertrauen in jahrhundertealte, bewährte Weisheiten lokaler Gemeinschaften.

Ein Wörterbuch für die
Post-Wachstums-Ära

Das Buch Pluriverse – A post-development dictionary vereint eine Vielzahl tranformierender Alternativen. Es finden sich indigene Konzepte der Harmonie mit der Erde wie das Buen Vivir oder Ubuntu, neue Begrifflichkeiten wie Ökofeminismus und „degrowth“. Betrachtet werden auch handlungsorienterte Netzwerke zu Agrarökologie, freier Software und viele andere, die die Abgrenzung zur Ökonomie der industriellen Zerstörung eint.

Das Buch, das zurzeit auf englisch und spanisch erhältlich ist, grenzt echten, strukturellen Wandel von reformistischen Lösungsansätzen ab, die, scheinbar unverrückbar, der klassischen, westlich globalisierten Wachstumslogik folgen. Dergestalt entfalten sich der Reichtum und die Vielfalt von Wissen und Praktiken der Völker in Einklang mit dem planetarischen Wohl. Das Kompendium der fünf Autoren sucht ein „Gewebe der Alternativen“ und einen Raum der Begegnung für AktivistInnen zu schaffen, die sich auf den Weg gemacht haben, Initiativen für einen globalen Wandel voranzubringen, neue Pfade zu gehen und Dinge anders zu machen.

Wir hinterfragen somit das alte, eurozentristische Modell der Spaltung zwischen Mensch und anderen Lebewesen: Wir gegen sie, Geist gegen Körper, das Weltliche gegen das Spirituelle. Diese Negierung der grundlegenden dualen Wechselseitigkeit allen Seins diente der Absicherung der Hegemonie männlicher Macht über das lebensgebende Prinzip der Weiblichkeit. Dies wiederum ebnete den Weg für die folgenschwerste Wirtschaftsordnung, die die Menschheit je erleben musste, nämlich die viel gefeierte kapitalistische, neoliberale und militarisierte Welt(un)ordnung. Und nun ist diese perverserweise eben jene Option, für die sich zahlreiche Länder entschieden haben, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, was nichts Gutes erahnen lässt für die Zeit nach dem Virus.

 

Wirtschaft mit Blick auf die Gesundheit 

Die Pandemie lehrt uns Neues. Die globalisierte Ökonomie, Komplizin der globalen Waren-, Finanz- und Personenströme, hat keinen Wohlstand für alle geschaffen, sondern ökologische Verwüstungen, soziale Verwerfungen und kolossale Ungleichheit. Daher sehen wir heute Intellektuelle und AktivistInnen auf allen Kontinenten, die dieses kapitalistische System ersetzen wollen. Die Vorschläge dafür sind Wieder-Vergemeinschaftung, ein „Buen vivir“ (Gutes Leben) in seinen vielgestaltigen Varianten; mit seinen Kämpfen um Autonomie, Genügsamkeit – inklusiv und solidarisch mit geflüchteten Menschen und mit anderen in Not. Im Widerstand gegen die Deutungshoheit von Begriffen, wie sie multinationale Konzerne oder die Welthandelsorganisation WTO vorgeben, sucht diese Bewegung eine Produktion nach menschlichem Maß, stets mit Blick auf den Schutz der Um- und Mitwelt und der Gesundheit aller Gemeinschaften.

Diese Neuorientierung geht soweit, dass sie die scheinbar unaufhaltsamen Migrationsbewegungen vom Land in die Städte umzukehren vermag, wo die hohe Bevölkerungsdichte Krankheiten wie dem Coronavirus Vorschub leistet. Ist all dies nur ein unerreichbarer Traum? Nein. Richten wir den Blick auf zahllose Orte weltweit, sehen wir tausende von Initiativen mit gemeinschaftlich organisierter Produktion von Nahrungsmitteln, Energie oder Wasser, kulturell divers, souverän und basisorientiert. Diese lokalen und praktischen Lösungen geben denjenigen Personen und Gemeinschaften Sinn, Identität, Würde und Suffizienz (Genügsamkeit), die sich von einem Jahrhundert vermeindlichen Fortschritts unter zentralistischen, unternehmerischen und staatlichen Machtstrukturen losgelöst haben.

 

In Opposition zur neoliberalen Privatisierung
steht eine Wertschätzung der Erde, des Wassers sowie
ein Verständnis über die Gemeingüter wie etwa die
Allmende im Zentrum der Wahrnehmung.

 

Eine derartige Revolution der Basis markiert einen Wandel, weg von der prekären Ökonomie der Finanzderivate und Aktienmärkte, hin zu einer Wirtschaft, die sich an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert und „Dienstleistungen“* zu geben und zu teilen versteht. Diese Vision von autonomen Regionen, die sich über soziale und ökologische Bindungen definieren, lässt die Idee wahr werden, dass gegenseitige Hilfe und der vor Ort organisierte Schutz von Ökosystemen effektiver sind als zentralistisch gesteuerte Strategien eines Staates zur Bekämpfung von Krisen und Pandemien. In Opposition zur neoliberalen Privatisierung steht eine Wertschätzung der Erde, des Wassers sowie ein Verständnis über die Gemeingüter wie etwa die Allmende im Zentrum der Wahrnehmung. Eine so gedachte Zukunft bedeutet: Abkehr vom Wachstum („degrowth“), Respektieren der planetarischen Grenzen, globales Reduzieren und gerechtes Neuverteilen von Gütern und Energie. 

Weltweit sehen wir eine Renaissance radikaler Demokratien, zumeist initiiert von Frauen und jungen Menschen, deren Handlungspraktiken sich mit den Belangen sozialer Bewegungen für die Gerechtigkeit der Geschlechter, der Kasten, unterdrückter Bevölkerungsgruppen und der nicht-menschlichen Arten vereinen. Die Pandemie des Coronavirus wird mit einem Universum falscher Verprechungen enden und uns mit Bedrohungsszenarien konfrontieren. Dieses Zeugnis eines sterbenden Regimes bringt jedoch eine neue Zivilisation hervor, die Begebenheiten neu denkt. Das „Pluriversum“ ist somit auch Hoffnungsträger für eine tiefgreifende, eine radikale Demokratie, die das Leben als Ganzes denkt: Eine Welt, in der alle möglichen Welten Platz haben und in der menschliche und nicht-menschliche Wesen in Würde leben können.

*Der Zugang zu Wasser beispielsweise sollte keine Dienstleistung sein sondern ein Recht. 

 

Zu den Autoren

Ashish Kothari stammt aus Indien und ist Mitherausgeber von Alternative Futures: India Unshackled.
Alberto Acosta ist Ökonom und Aktivist aus Ecuador, Ex-Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und Autor von Buen Vivir. Vom Recht auf ein Gutes Leben, oekom-Verlag, 2015.
Ariel Salleh ist australische Aktivistin und Intellektuelle, Autorin von Ecofeminism as Politics und Herausgeberin von Eco-Sufficiency and Global Justice.
Arturo Escobar ist kolumbianischer Forscher und Aktivist, Autor von La invención del Desarrollo und von Autonomía y Diseño: la Realización de lo Comunal.
Federico Demaria ist Forscher in ökologischer Ökonomie und politischer Ökologie an der Autonomen Universität Barcelona, Mitherausgeber von Degrowth: A Vocabulary for a New Era.


Aus dem Englischen: Christian Cray

Hauptbild: Eine Kung-Fu-Vorführung in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, April 2017. (Marizu Robledo)