“Die Menschheit wird nicht in Zoos enden”

Eine halbe Million Menschen besucht jährlich den Zoo von Cali, und macht ihn so zu einem der wichtigsten Treffpunkte der Stadt. Igino Mercuri ist Direktionsmitglied – und gleichzeitig Umweltaktivist. Im Gespräch erklärt der Sozialwissenschaftler, warum der Zoo als Institution ein Verfallsdatum hat, was er unter Umwelterziehung versteht und weshalb er es vorzieht, den Tieren keine eigene Rechte zuzusprechen.    

2. März 2020, Cali (Kolumbien) und Quito (Ecuador) – Seit 2001 arbeitet Igino Mercuri im Zoo von Cali und die zentrale Frage, die sich ihm und seinem Team damals stellte, war folgende: Welche Rolle spielt Bildung innerhalb eines Zoos? Neunzehn Jahre später sei es genau umgekehrt, sagt der 49-Jährige im Gespräch. Welche Rolle spielt der Zoo in der Bildung? „Wir sind derzeit daran zu definieren, welche Bedeutung die Cuenca de Cali für seine BewohnerInnen hat“, sagt Mercuri, „denn die wenigstens sind sich bewusst, dass hier, wo der Zoo in Cali steht, die Grenze zwischen Stadt und Land verläuft“. Mercuri und sein Team machen das in Form von Workshops oder Besuchen in den Territorien. „Die Menschen sollen sich bewusst sein, wo und mit wem sie leben.“ 

Cuenca de Cali ist jenes Tal im Süden Kolumbiens, wo sich sowohl die Hauptstadt des Departements Valle del Cauca als auch der Zoo befindet. Jährlich wird der Zoo von über 500.000 Personen besucht und Mercuri schmunzelt, wenn er sich an das Gespräch mit einem Aktivisten der Anti-Zoo-Bewegung erinnert. Auf die Frage, warum er nicht eine Menschenkette rund um den Zoo bilde, um diesen in eine Krise zu stürzen, soll dieser geantwortet haben: Sich heute mit dem Zoo von Cali anzulegen würde bedeuten, sich mit den Caleños anzulegen.  

Tatsächlich geniesst die Institution in der drittgrössten Stadt Kolumbiens viel Rückhalt in der Bevölkerung. Gebaut wurde er 1969, nachdem Cali als Austragungsort der Juegos Panamericano bestimmt worden war, der grössten multidisziplinären Sportveranstaltung beider Amerikas. Strassen wurden aufgezogen, ein Stadion sowie eine Universität aus dem Boden gestampft – und eben der Zoo. „Es war ein Prestige-Objekt, um sich dem Resten Amerikas als Grossstadt präsentieren zu können“, sagt Mercuri. Dabei habe der Zoo anfangs zu den schlimmsten Einrichtungen des gesamten Kontinents gezählt. Erst seit ein paar Jahren habe sich dies gebessert, sowohl in Bezug auf die Tierhaltung, als auch im Umgang mit MitarbeiterInnen und Freiwilligen. „Der Zoo Cali“, sagt Mercuri, „hat Werte etabliert, die für die lokale Bevölkerung wichtig sind.“

Auch deshalb wird Igino Mercuri immer wieder zu Veranstaltungen und Konferenzen eingeladen. Ende Januar war er in Quito zu Besuch und hat unter anderem an der Universität Andina Simon Bolivar über die Zukunft des Zoos gesprochen. Damals hatte er keine Zeit für ein Gespräch, zu dicht war sein Terminplan. Ein paar Tage später sprachen wir mit ihm schliesslich via Skype. 

 

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Der Zoo und die Menschen

Warum ist der Zoo bis heute so populär?

Welche Rolle spielt der Zoo im 21. Jahrhundert?

Wie lässt sich eine Institution wie der Zoo transformieren? 

 

„Zehn Prozent der Weltbevölkerung geht regelmässig in den Zoo, sprich: Die Einrichtung ist bei den Menschen sehr beliebt. Es ist einer der wenigen Treffpunkte, die den Menschen in ihrem Alltag noch geblieben ist – unabhängig von ihrer Herkunft, Philosophie, Religion oder Hautfarbe. Zudem ist der Zoo weniger elitär als beispielsweise ein Kunstmuseum, wo vor allem Leute hingehen, die sich mit dem Thema auskennen. Dabei wurde die Institution einst von europäischen Monarchien ins Leben gerufen. Sie liessen Fauna, Flora und Kulturgüter anderer Kontinente nach Europa bringen und errichteten damit Museen, botanische Gärten und eben Zoologische Gärten. Eine Machtdemostration, die zeigen wollte, wie der Mensch andere Lebensformen zu dominieren vermag. 

Unsere Herausforderung besteht nun darin, diese Institution soweit zu transformieren, dass sie zum Aufbau von Beziehungsformen beiträgt, die auf gegenseitigem Respekt und Solidarität mit anderen Lebensformen beruht. Der Zoo sollte Identität stiften, sodass sich die Menschen bewusst sind, wo und mit wem sie auf diesem Planeten leben. Ich bin mir im Klaren, dass dies nur begrenzt möglich ist, solange Tiere eingesperrt werden – einer der grossen Widersprüche eines jeden Zoos.

 

“Der Zoo muss sich davon verabschieden,
dass er das Wissensmonopol über Wildtiere
in Gefangenschaft hält. Das ist schlichtweg nicht wahr.”

 

Doch wer dieses Paradigma in Frage stellt, stösst auf gigantischen Widerstand. Denn viele Zoo-Verantwortliche können sich die Institution nur mit Tieren in Gefangenschaft vorstellen. Wenn wir diese Situation in den nächsten zwanzig Jahren nicht ändern, werden die Leute sagen: Danke, aber der Zoo trägt nichts mehr zur Aufgabe bei, die wir als Gesellschaft erfüllen wollen.

Deshalb gibt es drei wesentliche Dinge, die sich in den nächsten Jahren ändern müssen: Erstens, der Zoo muss sich davon verabschieden, dass er das Wissensmonopol über Wildtiere in Gefangenschaft hält. Das ist schlichtweg nicht wahr. Zweitens: Die Zoos müssen ihre Existenzberechtigung neu definieren. Manche denken noch immer, dass Konservierung dadurch bestehe, Wildtiere in Gefangenschaft fortzupflanzen, um sie dann wieder in die Natur zu lassen. Wir sollten aufhören, mit solchen Vorstellungen die Natur zu verärgern und Gott zu spielen. Und drittens muss ein Pakt mit der Zivilgesellschaft geschlossen werden, um die Lebensbedingungen der Tiere, aber auch der Menschen in den Territorien zu garantieren, damit diese in Einklang mit dem Buen Vivir (gut leben) existieren können.

Zoos sind eine kulturelle Einrichtung, und wie jede kulturelle Einrichtung ist sie eine Antwort auf eine bestimmte Epoche. Wir sind jedenfalls überzeugt, dass der Zoo ein Verfallsdatum hat. Die Menschheit wurde nicht in Zoos geboren und wird auch nicht im Zoo enden. Es hängt davon ab, ob und wie wir diese Institution zu verwandeln vermögen. Früher oder später wird die Institution Zoo verschwinden.“

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Workshop mit einer comunidad aus Guadalajara de Buga ausserhalb der südkolumbianischen Stadt Cali: Sie lebt während der Regenzeit von der Fischerei, während der Trockenzeit vom Sand-Abbau sowie der Landwirtschaft, die mit wenig Wasser auskommt.                                                                                                                                   BILD: Igino Mercuri

 

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Die Rechte der Tiere und die menschliche Logik

Wer garantiert die Rechte der Tiere?

Machen Tierrechte überhaupt Sinn?

Was können wir Menschen von den Tieren lernen?
 

„Ich habe einen inneren Konflikt, wenn es darum geht, den Tieren Rechte zuzusprechen. Denn wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Und ich glaube nicht, dass die Natur innerhalb der Logik für menschliches Zusammenleben betrachtet werden kann. Letztlich haben sämtliche Lebewesen eine Existenzberechtigung, unabhängig davon, ob wir ihnen innerhalb unserer Organisation als Menschen Rechte zusprechen oder nicht. Wenn wir nämlich Rechte für Tiere konstruieren, wie wir es mit den Rechten für Kinder, für Frauen oder den allgemeinen Menschenrechten getan haben, machen wir dies aus einer anthropozentrischen Perspektive heraus, also aus einer Perspektive, in deren Zentrum der Mensch steht. Genau das steht uns nicht zu. 

Kürzlich sagte jemand, dass die Natur weder eine Postkarte sei noch ein Ort, den wir besuchen und fotografieren. Die Natur sei jener Ort, an den wir hingehörten, an dem wir uns bildeten und den wir uns nicht untertan machen könnten, will heissen: Zur Natur können keine Gesetze erlassen werden. Wir müssen begreifen, dass das, was wir mit der Natur machen, Auswirkungen auf uns hat, dass wir keine Aussenstehenden sind. Wir sind ein Teil der Natur. Diese Auffassung basiert auf einer anderen Ethik als jene, die uns vorgelebt wurde.

 

“Ich glaube nicht, dass wir von den Tieren lernen müssen.
Viel wichtiger scheint mir, dass wir in erster Linie VERlernen sollten,
was uns in Schule und Familie beigebracht wurde.”

 

Statt auf Rechte zu beharren, stütze ich mich lieber auf den Respekt anderen gegenüber. In Kolumbien zum Beispiel leben derzeit viele VenezolanerInnen. Gemäss kolumbischem Gesetz sind sie illegal hier, haben also keine Rechte: weder auf Gesundheitsversorgung und Bildung, noch auf würdevolle Arbeit. Doch nur weil unser Gesetz diesen Menschen keine Rechte zuspricht, heisst das noch lange nicht, dass sie kein Recht auf respektvollen Umgang haben und wir ihre Situation als Migranten respektieren. Es geht um eine Ethik, die auf Biophilie basiert und nicht auf dem römischen Recht, dem Anderen einen bestimmten Platz zuzuweisen. Ähnlich verhält es sich mit den Tieren. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand zurückbleibt.  

Insofern glaube ich nicht, dass wir von den Tieren lernen müssen. Viel wichtiger scheint mir, dass wir in erster Linie VERlernen sollten, was uns in Schule und Familie beigebracht wurde: das Dominieren anderer und das In-Besitz-Nehmen. Den Gesellschaften in Lateinamerika fehlt es diesbezüglich an kritischem und kreativem Denken, sowie an der Fähigkeit des Achtgebens.  Ein Beispiel: In der Natur gibt es das Konzept Abfall nicht. Alles, was von Bäumen, Sträuchern oder Tieren kommt, zersetzt sich im Laufe der Zeit und geht zurück zur Natur. Es waren die Menschen, die das Konzept des Abfalls auf der Grundlage permanenter Anhäufung und der sofortigen Nutzung von Dingen aufgebaut haben, ohne dabei eine längere Planung berücksichtigt zu haben. Es ist absurd, dass wir bis heute einem Wirtschaftsmodell folgen, das die Zerstörung jenes Planeten mit sich bringt, auf dem wir leben. Das passt in den Kopf von niemandem, der sich seiner selbst ein bisschen bewusst ist. Keine andere Spezies zerstört ihr Territorium dauerhaft auf Grund ihrer Nutzung – der Mensch schon.“ 


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Hundert Familien als Mediatoren zwischen dem Zoo Cali und einem benachbarten Quartier: Nach dreissig Jahren Konflikt haben die beiden Parteien gelernt, zusammenzuarbeiten, etwa wenn es um das Löschen von Waldbränden geht.                                                                                                                                                                                  BILD: Igino Mercuri

 

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Umwelterziehung und die Aufgaben der BürgerInnen

Was bedeutet Umwelterziehung?

Wo liegt die Verantwortung der BügerInnen?

Kann innerhalb der aktuellen Gesellschaft Nachhaltigkeit geschaffen werden? 

 

„Als erstes müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es bei Umwelterziehung nicht alleine um die Umwelt geht, also um Wasser, Luft, Wälder oder Wildtiere. Es handelt sich um eine Ausbildung, die den Zweck im Fokus hat und nicht die Bedingungen. Das ist etwas, was wir in Lateinamerika lange verwechselt haben. Aus dieser Perspektive betrachtet gilt es drei Dinge zu berücksichtigen: die Bildung von BürgerInnen, die Transformation von konkreten kulturellen Praktiken sowie das Schaffen von Identität. 

Bildung von BürgerInnen: Heute haben wir StaatsbürgerInnen, die vom Markt dominiert werden. Der Markt schafft Probleme und Bedürfnisse und löst sie durch ein Produkt oder eine Dienstleistung. Uns wurde die Idee verkauft, die Verantwortung als StaatsbürgerInnen an andere delegieren zu können, weshalb wir stets darauf warten, dass die Lösungen von aussen kommen. BürgerIn eines lateinamerikanischen Staates zu sein bedeutet heute, am Wahlsonntag zur Urne zu gehen, rechtzeitig die Steuern zu zahlen und sein Geld von der Bank verwalten zu lassen. Wenn ich mich an diese drei Dinge halte, werde ich als guteR BürgerIn wahrgenommen. Doch dadurch wurde der eigentliche Zweck der Staatsbürgerschaft ausgehöhlt: nämlich sein Territorium sowie die sozialen, kulturellen und Natur bezogenen Dynamiken anzuerkennen, auf Grundlage dieses Verständnisses Entscheide zu fällen und dementsprechend zu handeln. EinE BürgerIn trifft ständig Entscheidungen – und zwar nicht solche, die einem zu mehr individuellem Komfort verhelfen, sondern die für alle Betroffenen Vorteile bringt. Die Umwelt ist grundsätzlich Sache des Kollektivs. Ich kann weder das Wasser noch die Biodiversität für mich alleine beanspruchen. Wenn ich diese also erhalte, erhalte ich sie für alle. Deshalb sprechen wir bei der Umwelterziehung auch von Bürgerbildung.

Transformation von konkreten kulturellen Praktiken: Es gibt kein einziges Umweltproblem, das nicht in irgendeiner Form mit unserer Konsum- oder Produktionspraxis zusammenhängt. Deshalb ist alles, was irgendwie mit Nachhaltigkeit zu tun hat, unbequem. Wenn ich zum Beispiel auf den Zoobesuch verzichte, ist das unbequem. Oder wenn ich für den Einkauf von Kartoffeln nicht mein eigenes Auto nehme, sondern mich mit meinen Nachbarn abspreche, um gemeinsam eine Lastwagen-Ladung Kartoffeln zu bestellen, dann ist das unbequem. Zwar muss ich so nicht extra zum Supermarkt fahren, aber es setzt eine geplante Organisation mit den Nachbarn voraus. Zudem braucht es Zeit, um das Geld einzutreiben, die Kartoffeln zu waschen und hinterher aufzuteilen. Nichts, was irgendwie mit Nachhaltigkeit zu tun hat, basiert auf Komfort. 

Schaffung von Identität: Umwelterziehung sollte sich um lokale Identität kümmern und nicht um das, was von aussen kommt. In Kolumbien werden in Zusammenhang mit dem Klimawandel jeweils Fotos von Eisbären am Nordpol gezeigt, denen der Lebensraum wegschmilzt. Doch die Auswirkungen des Klimawandels hier sind völlig andere als jene am Nordpol. Dessen müssen wir uns bewusst werden, damit sich Ereignisse wie 1985 in Armero nicht wiederholen. Damals ist durch die Eruption des Vulkans Nevado del Ruiz ein Teil des Gletschers geschmolzen. Das hat die Flüsse ansteigen und einen Damm brechen lassen, wodurch Armero überschwemmt wurde und 20.000 der knapp 30.000 BewohnerInnen ertrunken sind. Das mag hart klingen, aber hier handelt es sich um Umwelterziehung, bei der keine lokale Identität geschaffen worden war. Die Bildung half den Menschen nicht, ihr eigenes Territorium zu bewohnen. Sie waren sich nicht bewusst, dass sie in einem Flussbett lebten und bei einem Dammbruch Gefahr liefen, überschwemmt zu werden.

In Lateinamerika haben wir einige Staaten, die ihrem Volk den Rücken gedreht haben. Umso wichtiger scheint mir der Aufbau gemeinschaftlicher  Regierungsformen, um uns gegen die vom Markt auferlegten Regeln verteidigen zu können. Sowas lernen wir im Moment nirgends: weder in der Schule, noch in der Familie, weder im Zoo noch in den Museen. Niemandem kümmert sich darum, den BürgerInnen Werkzeuge in die Hand zu geben, um die zur Verfügung stehenden Ressourcen besser verteidigen zu können. Damit meine ich sowohl zeitliche als auch emotionale Ressourcen genauso wie Nahrungsmittel. Deshalb ist kritisches und kreatives Denken gefragt, deshalb müssen in Lateinamerika neue BürgerInnen gebildet werden.“ 


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+ + + Igino Mercuri beantwortet Kinderfragen + + +  

 

Was bedeutet Zukunft?*

In der Zukunft werden Deine Träume Realität. 

 

Wer ist Besitzer der Welt?

Besitzer der Welt ist die Natur selber. 

 

Wozu dient lernen?

Heute dient lernen nur noch wenig, denn es ist zu einem Element der Unterweisung verkommen. Die Kinder lernen zwar lesen, schreiben, addieren und subtrahieren, sie erhalten also eine Menge Information. Doch letztlich wissen sie nicht, wie sie sie nutzen können, um einE bessereR BürgerIn zu werden. Es handelt sich nicht um angewandtes Wissen, im Gegenteil: Es schränkt ihre Fähigkeiten ein, sich selber zu organisieren, um die herrschenden Strukturen zu verändern.


*Fragen, die Igino Mercuri und seinem Team
innerhalb von Workshops mit Kindern gestellt wurden.

“Umwelterziehung, bei der keine lokale Identität geschaffen wurde”: Bei der Katastrophe in Armero 1985 sind nach einem Dammbruch über 20’000 Menschen ums Leben gekommen.                                                      BILD: colombia.com

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Die Widersprüche unserer Zeit und die Nachhaltigkeit

Hat das Entwicklungsmodell des Westens ausgedient?

Sind Städte angesichts des Klimawandels noch zeitgemäss?

In unserer Wirtschaft verliert entweder der Mensch oder die Natur – Warum? 
 

„Wenn ich einen Ameisenhaufen betrachte, erkenne ich: Er besteht aus Steinen, Holz und Erde – also aus denselben Materialien wie eine Stadt. Nur, dass aus den Steinen Metall gegossen und aus Erde Ziegelsteine gebrannt wurde. Deshalb betrachte ich Städte nicht als ein Problem. 

Aus umweltökonomischer Sicht haben sie sogar einen Vorteil. Denn die Nachfrage nach Umweltdienstleistungen beschränkt sich auf ein relativ kleines Gebiet. In diesem Sinne wirken sich die Städte wesentlich weniger auf die Umwelt aus, als wenn wir dieselbe Lebensformen in einem grösseren Territorium verstreut hätten. Das hat langfristig weniger Auswirkungen auf die Natur. Das Problem besteht darin, dass wir nicht wissen, wie wir die Städte bewohnen sollen. Wenn Ingenieure und Architekten Städte bauen, dann denken sie nicht an die Stadt, in der sie leben, sondern an jene, die sie verkaufen werden. Was wir heute in den Städten sehen, ist absolut unwirtschaftlich. Die Leute leben zum Beispiel weit von ihren Arbeitsplätzen entfernt. Danach beklagen wir uns über den starken Verkehr in den Städten, doch er ist lediglich ein Symptom. Das Problem besteht darin, dass wir Städte gebaut haben, die auf einer Wirtschaft der Ausbeutung basiert – der Ausbeutung von Mensch und Natur. 

Wenn die Wirtschaft in Kolumbien läuft, dann erweitern wir die Agrargenze, roden Wälder und schaden der Natur. Und wenn sie nicht läuft, dann sind es weder die Banken, noch die Industrie oder der Staat, der darunter leidet. Jene, die darunter leiden sind die Zivilgesellschaft oder die Bauern, die ein Ökotourismus-Programm aufgebaut haben und denen auf Grund fehlender Einnahmen das Geschäft zusammenbricht. Paradoxerweise hat der Krieg zwischen Nationalstaat und der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) in Kolumbien zur Konservierung der Wälder beigetragen. Diverse Akteure des Konflikts brauchten die Wälder, damit sie von den Helikoptern nicht ausfindig gemacht werden konnten – eigentlich ein furchtbarer Kriegsmechanismus. Doch seit dem Friedensabkommen 2016 mit der FARC* hat der Druck auf Kolumbiens Nationalparks enorm zugenommen.

Igino Mercuri (ganz links) zusammen mit seinem Team: Politologe Carlos Collante, Geographin Isabel Muñoz, Psychologe Daniel Cárdenas und Biologe Roberto Arango.                                                                                     BILD:  Zoo Cali

Wenn wir solche Widersprüche aufzeigen, scheinen wir stets in einer Sackgasse zu enden: Immer gibt es einen, der verliert – entweder die Gesellschaft, die comunidades oder die Natur. Wer hingegen nie verliert sind die Besitzer des Kapitals, des Landes und der Industrie.  

Noch immer wirkt der Markt als zentraler Motor für die gesellschaftliche Entwicklung. Dabei glaube ich, dass wir in Zusammenhang mit der sogenannten nachhaltigen Entwicklung in eine Falle getappt sind. Es gab eine Entwicklung, die auf Kosten der Natur und zahlreicher comunidades auf der gesamten Welt stattgefunden hat. Währenddessen ist die Nachhaltigkeit auf der Strecke geblieben. Vor einiger Zeit hatten wir mit indigenen Gemeinschaften ausserhalb Calis Kontakt. Unter anderem haben wir dort das Konzept der Entwicklung diskutiert. Dabei zeigte sich, dass das Wort Entwicklung in ihrem Wortschatz nicht existiert, also keinen Wert hat. „Wir wollen uns nicht entwicklen“, sagten sie. „Unsere Zukunft besteht nicht aus mehr haben, mehr sein oder uneingeschränktem Wachstum. Das ist nicht unsere Lebensform“. Deshalb müssen wir erkennen, dass nachhaltige Entwicklung nur für gewisse Leute gilt. 

 

*Dieses Abkommen wurde zwar offizielle abgeschlossen, doch der Konflikt wurde deshalb nicht beigelegt.  
 

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Interview und Zusammenstellung: Romano Paganini

Hauptbild: Vom Aussterben bedroht: ein Andenkondor im Zoo von Cali. Das Verbreitungsgebiet des Raubvogels erstreckt sich von Venezuela bis nach Feuerland, Chile. (Susan Posada)