Die Suche der Industrialisierten geht weiter

Vor zehn Jahren hat Ecuador die Naturrechte in seine Verfassung aufgenommen. Was ist seither passiert? Stimmen von Indigenen, Wissenschaftlern und Umweltaktivisten aus der ganzen Welt. Quito. – Die Gegenwart widerspiegelte sich im letzten Akt des zweitägigen Symposiums zu den Internationalen Naturrechten in Quito: Während die Repräsentanten indigener Gemeinschaften aus verschiedenen Teilen des Planeten die Schlusszeremonie feierten und dazu ihre traditionellen Lieder anstimmten, hielten die restlichen TeilnehmerInnen – die meisten Mestizen oder Weisse – mit der Kamera oder ihren Handys drauf. Die Message war klar: Nach stundenlangen Diskussionen, Gesprächen und Stellungnahmen an der Universidad Andina brauchten die Industrialisierten eine Erinnerung an jene Menschen, die weiterhin in Kontakt mit der Natur stehen. Eine Erinnerung, die sie mit ihrer eigenen Vergangenheit in Kontakt bringt, damals, als sie ebenfalls noch in Beziehung zur Erde und ihren Geistern standen, im Bewusstsein, dass ihr Überleben davon abhing. Heute nun also, nachdem die Industrialisierten über Jahrhunderte Naturausbeutung zu einem Teil ihres gesellschaftlichen und politischen Systems geformt haben, wollen sie zurück zu ihren Wurzeln, zurück zur Natur. Ein Foto oder Video kann da durchaus ein Anfang sein. Eine junge Architekturstudentin brachte es mit einem Kommentar an die anwesenden Indigenen auf den Punkt: „Ich möchte von euch lernen, denn ich muss wissen, was die Essenz dessen ist, was ich mache.“

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Zehn Jahre nachdem Ecuador als erster Staat weltweit die Naturrechte in seine Verfassung aufgenommen hat, dominieren weiterhin die Rechte der Industrie und des Handels. Es dominieren spirituelle Leere bei den jungen Städtern, multiple Frustrationen bei den Erwachsenen und Widerstand bei den Indigenen. Und es dominiert weiterhin eine wilde, unregulierte Ausbeutung der Natur. Naturrechte? Bitte weitersuchen! Es scheint beinahe zynisch, wenn man die Präambel der im Jahr 2008 aus der Taufe gehobenen Verfassung liest und sie dann den Megaminen-Projekten, den Monokulturen von Bananen und Garnelen sowie der anhaltenden Verschmuztung durch die Erdöl-Industrie in Ecuador gegenüberstellt: Wir, das souveräne Volk Ecuadors, das die Natur und Pachamama feiert, zu der wir gehören und die für unsere Existenz lebenswichtig ist. Und dennoch: Die Konzepte von Sumak Kawsay, des Buen Vivir (gut leben), haben Teile des Planeten bewegt. Sie haben eine unterdrückte Kosmovision sichtbar gemacht, die Kosmovision der Indigenen. Daraus ist eine Bewegung entstanden. Buen Vivir hat tausende StudentInnen, Intellektuelle, PolitikerInnen und AktivistInnen rund um den Globus dazu veranlasst, etwas in ihrem Denken und in ihrer Wahrnehmung zu ändern. Mann und Frau begannen über Buen Vivir zu sprechen und Alberto Acosta, der Präsident der verfassungsgebenden Versammlung von damals, hält bis heute Ansprachen dazu. Er war selbst überrascht, wie viele Reaktionen die neue ecuadorianische Verfassung ausgelöst hat.

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Man kann nun dafür oder dagegen sein, Naturrechte in einem schriftlichen Dokument festzuhalten. Wir Industrialisierten scheinen das jedenfalls zu brauchen. Dabei sollte angesichts unserer Abhängigkeit von der Natur nicht vergessen werden, was von verschiedenen Exponenten am Symposium hervorgehoben wurde: Wir sind alle Indigene. Diese Vision erlaubt es nicht nur, uns als Menschen näher zu kommen, sondern auch, aus unserer Rolle als Zuschauer auszubrechen. Sie erlaubt uns, Handys und Kameras wegzulegen und uns das Hemd der kollektiven Konstrukteure anzuziehen. So beginnen die Industrialisierten endlich Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und hören auf, blind auf Fotos und Videos von jenen Menschen zurückzugreifen, von denen sie glauben, sie alleine seien für den Schutz der Natur und den Paradigmenwechseln in der Gesellschaft zuständig.

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War dabei, als über die Ausarbeitung der ecuadorianischen Verfassung diskutiert wurde: Patricia Gualinga (links) von der Nation Sarayaku, Ecuador.                                                  BILD: Hugo Pavón/Universidad Andina Simon Bolivar

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“Als wir mit der Ausarbeitung der Naturrechte begannen, fragten wir uns, ob es Sinn macht, dies auf juristischer Ebene zu tun. Und wir kamen zum Schluss: Ja, es macht Sinn – für Euch macht es Sinn! Denn bei uns hatte die Natur immer schon Rechte. Aber wenn die westliche Gesellschaft dies nur über Gesetz und Verfassung versteht, dann ist es wichtig, eine entsprechende Basis dafür zu schaffen.“ Patricia Gualinga, Sarayaku, Früher zuständig für externe Beziehungen des indigenen Volkes der Kichwa aus Sarayaku (Ecuador)
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„Wir brauchen eine Demokratie, in der die Natur nicht einfach externes Objekt, sondern Subjekt ist. Die Natur muss zu einem Hauptdarsteller werden. Das wiederum zwingt uns dazu, unser Demokratieverständnis grundsätzlich zu überdenken.“ Pablo Solón, Bolivien, Umwelt- und Sozialaktivist sowie ehemaliger Botschafter der Vereinten Nationen
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“Wir müssen raus aus der Komfortzone und all das hinter uns lassen, was das System bietet: Bildung, die dich zum Arbeiten in einer Grossfirma konditioniert und dir keine Zeit für anderes lässt. Du gehst morgens aus dem Haus, fährst zur Arbeit, kommst zurück, schaust fern und siehst den Betrug – ohne etwas an dieser Situation zu ändern. Deshalb: Weg von der Arbeit, die dir jedes Monatsende ein fixes Einkommen ermöglicht. Besser ist es zu experimentieren, etwas auszuprobieren, das dir gut tut und damit auch der Menschheit.” Henny Freitas, Brasilien, Journalistin, Fotografin, Ökoaktivistin und Permakultorin

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Hauptbild: Verschiedene Kulturen mit einem gemeinsamen Ziel: Die Rechte der Natur stärken. Shannon Biggs (USA), Casey Camp-Horinek (Nation Ponca, USA), Pella Thiel (Schweden), Pablo Solón (Bolivien) und Henny Feitas (Brasilien) sitzen während des Symposiums zu den Internationalen Rechten der Natur Ende September in Quito in der vordersten Reihe (von links nach rechts). (Hugo Pavón/Universidad Andina Simon Bolivar)

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