Eine Schule, um das Wesentliche zu lernen

Seit Jahren befindet sich Venezuela im Krisen-Modus. Davon ist die Nachhaltigkeitsschule für Nomaden nur am Rande betroffen. Ihre Gründer sehen die Situation als Chance und konzentrieren
sich aufs Wichtigste: Nahrung, gute Beziehungen und Innere Ruhe.  

Als am Dienstag in Caracas die Panzerwagen auffuhren, sass Mari mit geschlossenen Augen auf einer dünnen Kunststoffmatte und reckte ihre Arme gen Himmel. Zusammen mit einer Handvoll Gleichgesinnter hatte sie sich zum Yoga im Wald getroffen, nur wenige Meter von dort, wo sie wohnt. Mérida heisst der Ort und liegt weit weg vom Chaos in der Hauptstadt, genauer gesagt im Westen von Venezuela, kurz bevor sich die Anden im karibischen Meer verlieren. Seit einem Monat trifft sich die Gruppe zur Yoga-Klasse. „Damit unterstützen wir uns gegenseitig und fördern sowohl Spiritualität als auch körperliche Gesundheit“, heisst es auf der Facebook-Seite.
Wir haben über Wochen versucht, Kontakt zu Mari aufzubauen; vor zehn Tagen hats dann endlich geklappt. Sie und ihr Partner William, die beiden Initiatoren der Escuela Nomada Sostenible (Nachhaltigkeitsschule für Nomaden) hatten Elektrizität und Internetverbindung, konnten also wieder einmal mit der Aussenwelt kommunizieren. Durch die Stromausfälle der vergangenen Wochen war das zwischenzeitlich nicht möglich gewesen. In der Gegend gebe es keine Festnetz-Kommunikation, erzählt Mari, deshalb hätten sie auch keinen Breitbandanschluss. Die Antenne, die sie mit der Aussenwelt verbinde, stehe auf einem Berg in der Nähe und sei ziemlich teuer. Unser Gespräch fand über WhatsApp statt – derzeit die einzige mehr oder weniger stabile Form der Kommunikation mit Venezuela.

Früher eine Müllhalde, heute eine Oase
Der venezolanische Staat befindet sich am Abgrund, und das schon seit einiger Zeit. Lebensmittel sind knapp, genauso wie Medizin und Transportmittel. Es gibt zwar Arbeit, aber der Monatslohn reicht meistens nicht weiter, als den Bedarf eines einzigen Tages zu decken. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Land eine Inflationsrate von über einer Million Prozent. Wer keine Freunde oder Verwandte im Ausland hat, die Dollar-Scheine nach Venezuela schicken, hofft auf das Lebensmittelpaket der Regierung, wühlt im Müll, hungert, flüchtet oder stirbt.

Oder er beginnt sich selber zu versorgen und zu tauschen.

Für diesen Weg haben sich Mari und William entschieden, und zwar bereits 2010. Nach einem Jahrzehnt in Europa sind sie in ihre Heimat zurückgekehrt, zuerst nach Maracaibo, dann nach Mérida. Sie suchten nach einem Ort, wo sie sich niederlassen konnten, und stiessen auf eine Müllhalde im Wald. Über Jahre hatte sich hier Dreck, Schrott und Abfall angesammelt, und das junge Paar fand: ideal. Ideal, weil sie im Wiederaufbau Erfahrung hatten. Sie begannen aufzuräumen und zu putzen, zu recyclen und wieder zu verwenden, sie schaufelten, säten, pflanzten, kompostierten und begannen schliesslich ihr eigenes Haus zu bauen – teilweise mit Abfall von der Müllhalde, mit Glasflaschen zum Beispiel.
Sie taten es wie viele junge Menschen in Lateinamerika, die die Städte nicht mehr ertragen, und suchten Ratschläge und Vorbilder in der Permakultur-Bewegung. Die Theorie kam aus dem Internet, die Praxis aus Workshops und dem geduldigen Pendeln zwischen Versuch und Irrtum. „Wir betreiben nun zwar diese Schule“, sagen beide unisono, „aber wir sind weiterhin Schüler und werden es auch das ganze Leben lang sein.“ (…)

Hauptbild: Eine Familie, eine Mission: Mari, William, Tochter Maia und ein Teil ihrer Hunde der Nachhaltigkeitsschule für Nomaden ausserhalb von Mérida (von der Schule zur Verfügung gestellt).