Eingesperrt – doch das Bedürfnis zu teilen wächst

Ecuador befindet sich seit einem halben Jahr in Quarantäne. Es sind Monate voller Anspannung, Unsicherheit und Gewalt. Auch aus diesem Grund haben sich im Norden Quitos ein paar Nachbarn zusammengetan. Bei ihren Treffen teilen sie Lebensmittel und Weisheiten. Und sie kultivieren, was immer mehr verloren zu gehen scheint: die Menschlichkeit.

19. August 2020, Quito – Nimm, was du brauchst: So steht es in weisser Kreide auf einem Plakat beim Eingang. Daneben hängen und stehen Blusen, Hemden, Jacken und Schuhe, alles secondhand. Dejamos el consu-mismo, adaptamos el consu-otro. Frei übersetzt: Lassen wir den Konsum hinter uns und nehmen wir uns dem Anderen an. So will es „Mi Jardinerita“, eine Mischung aus Kulturzentrum, Tauschbörse und Herberge im Norden von Quito. Das Haus ähnelt den anderen in der Strasse: Metalltor, Betonterrasse und Balkone mit Pflanzen, die vom Trottoir aus zu sehen sind. Doch nur wer sich in das Gebäude hineinwagt, weiss, dass hier die Welt des Konsums aufhört und sich Türen öffnen für Gedanken und Praktiken, die nichts mit der aktuellen Marktlogik zu tun haben. Wir brauchen einander, steht auf einer anderen Tafel, und: Si, tenemos comida para compartirWir haben Lebensmittel zum Teilen. Und das ist in Ecuadors Hauptstadt angesichts der Covid-19-Pandemie alles andere als selbstverständlich.

Andrea, die Tochter der Gründerin von „Mi Jardinerita“, empfängt die BesucherInnen mit einer Umarmung, einem Kuss, einem Händedruck oder einem Ellbogengruss, je nach Bedürfnis der Person. Sie respektiert das Tragen von Gesichtsmasken auch innerhalb des Hauses. Selber hingegen stülpt sie sich den Stoff nur über Mund und Nase, um die 100-Dollar-Busse bei Nichtbefolgung zu verhindern. „Ich glaube, die Angst, die sie uns wegen der Pandemie einflössen, ist wesentlich schädlicher als das Virus selbst“, sagt Andrea und serviert den BesucherInnen Tee oder Kaffee. „Ich weiss ehrlich gesagt nach wie vor nicht, was ich von Covid-19 halten soll. Aber was ich weiss, ist, dass unsere Probleme in Sachen Ernährung und Emotionen unseren Körper schwächen und anfällig für jegliche Krankheiten machen.“

Diese Einschätzung wird von den meisten der heute Anwesenden geteilt. Einige haben ihre Masken inzwischen abgelegt, andere setzen sie beim Sprechen wieder auf. Die Gruppe trifft sich hier jeden Freitag zur Meditation und zum gemeinsamen Mittagessen. Manchmal kommen die Leute auch an anderen Tagen. Es sind FreundInnen, NachbarInnen oder BewohnerInnen von „Mi Jardinerita“. Einzelne haben sich der Initiative erst vor kurzem angeschlossen.

Rundgang auf der Terrasse con „Mi Jardinerita“: Andrea (vorne) begutachtet zusammen mit Nachbarn die dutzenden von Pflanzen und Setzlingen, die sie zusammen mit Mutter Lucia (ganz hinten) ausgesät hat. 

Das Haus gehört Lucia, Andrea’s Mutter. Während die Tochter kommt und geht, lebt Lucia seit mehr als fünfunddreisig Jahren an dieser Ecke im Quartier Cotocollao, auf der Höhe des alten Flughafens. Sie kennt die Nachbarschaft gut und die Nachbarschaft kennt sie. Deshalb wird Tochter Andrea inzwischen auch nicht mehr schräg angeschaut, wenn sie in den lokalen Länden Lebensmittel einsammeln geht. Die 33-Jährige rettet zusammen mit anderen KollegInnen jene Früchte, Gemüse, Brot und Glacees im Quartier, die sonst im Müll landen würden. Andrea gibt jedenfalls nur sehr wenig Geld für Lebensmittel aus – eines der Prinzipien von „Mi Jardinerita“: Nicht nur über andere Welten nachdenken, sondern durch konkrete Handlungen dafür eintreten. Das Suppenzmittag zum Beispiel, das sie in diesen Monaten der Pandemie organisiert und mit den Nachbarn teilt, wird ebenfalls mit geretteten Lebensmitteln zubereitet.

 

Säen im Gated Comunity

Im „Saal des Wissens“ stehen ein paar Sofas und weiter hinten Instrumente: ein Elektropiano, eine Gitarre, eine Flöte, ein Verstärker sowie Bücher über Musik und Gemüsegärten. Neben Andrea sitzen Amalia* und Tamara*. Vor einigen Wochen kannten sich die beiden noch nicht, aber was sie letztlich einte, war die Tatsache, dass sie in kurzer Zeit plötzliche Veränderungen erlebt hatten. Amalia verlor die Arbeit, Tamara hatte kein Essen mehr: eine Realität, die seit März Millionen von Menschen in Ecuador und anderen Teilen der Welt heimgesucht hat. „Ich machte lediglich eine Woche Quarantäne“, erinnert sich Amalia, die bereits vor der Pandemie einen Gemüsegarten anlegen wollte. Nach einem Online-Kurs in Urbangardening begann sie eine der Grünflächen in ihrer Gated-Comunity zu bestellen.

Wochen später klopfte sie mit der Ernte in der Hand an die Türen ihrer Nachbarn. Auch gerettete Lebensmittel hatte sie dabei. Doch die Nachbarn wollten nicht öffnen. Und jene, die sich trotzdem trauten, taten dies mit Masken, Handschuhen und der Bedingung, dass Amalia mehrere Meter Abstand halte. Warum machen Sie das, wurde die Künstlerin gefragt, und Amalia antwortete: Warum nicht? „Da habe ich gemerkt“, sagt die 44-jährige Frau, „dass die meisten Menschen viel Zeit allein in ihrem Haus verbringen, ohne jeglichen Kontakt zu anderen. ‚Mi Jardinerita‘ hilft mir, mich von dieser Angst zu befreien und Erfahrungen auszutauschen, wie jene, die ich in meiner Siedlung gemacht habe.“

Gemeinsam essen, gemeinsam Erfahrungen austauschen: Im „Saal des Wissens“ kommen Menschen unterschiedlichen Alters zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen.

Allein war lange Zeit auch Tamara, eine Frau, die bald siebzig wird und wenige Tage nach Beginn der Quarantäne kein Geld mehr hatte, um Lebensmittel zu kaufen. Als schliesslich auch ihre Vorräte aufgebraucht waren, begann der Hunger. Sie erzählt ihre Geschichte mit Tränen in den Augen und einem gewissen Schamgefühl – ein Gefühl, das derzeit viele Menschen erfahren, ohne Geld in den Portemonnaies und nichts in den Kochtöpfen. Tamara ist rückblickend jedoch der Meinung, dass viele Menschen in Quito an Hunger litten, weil sie keine anderen Möglichkeiten sehen wollten. „Es gibt genügend Nahrung, und es gibt auch Möglichkeiten, diese zu finden, etwa durch Tauschhandel oder, wie wir es hier tun, durch Teilen.“

Ganz so einfach wie es die Seniorin beschreibt, ist die Sache freilich nicht. Familien von MigrantInnen zum Beispiel, die in Ecuador gestrandet sind, müssen sich ihre Schlafplätze täglich neu suchen, auch weil sie teilweise von ihren Mietern auf die Strasse gestellt worden waren. Tamara hingegen kennt Leute im Quartier, darunter auch die Familie von Lucia und Andrea. Und von Amalia erhielt sie einen ungenutzten Kühlschrank ausgeliehen, wodurch sie ein kleines Geschäft zum Verkauf von Mittagessen aufbauen konnte.

 

Mehr BettlerInnen in der Strasse, mehr Gewalt in der Familie

Andrea nimmt die Hand der Dame und sagt: “Sie hat diesen Don, kochen zu können. Ich lerne viel von ihr, wir lernen viel von ihr. Und es gibt kein einziges Essen von Tamara, das nicht exquisit schmeckt.“ Alle lachen, und dieses Lachen hat in diesen Zeiten der Quarantäne fast schon etwas Revolutionäres. Wenigstens für ein paar Momente fallen Traurigkeit und Schrecken aus dem Leintuch, das sich während den vergangenen Monaten über Strassen, Häuser und Körper der ecuadorianischen Hauptstadt gelegt hat.

Seit Juni gilt in Quitos Ampelsystem die Farbe orange, doch die meisten sahen nach Wochen des Eingesperrtseins, Ausgangssperre inklusive, nur noch grün. Sie wollten raus aus ihren Wohnungen und Häusern, raus auf die Strasse, um etwas Geld zu verdienen, um abends etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Oder raus, um etwas Zeit auf der plaza zu vertreiben, an der Ecke ein Café zu trinken oder mit Nachbarn zu plaudern. Das Bedürfnis zu teilen ist derweilen grösser als die Angst vor einer möglichen Ansteckung mit Covid-19. Daran hat auch das Alkoholverbot an den Wochenenden und die kürzlich wieder strengere Ausgangssperre nichts verändert. Seit einem halben Jahr sind die BewohnerInnen der Stadt mehr oder weniger eingesperrt, sodass sich im Zuge der Pandemie längstens andere Krisen aufgetan haben.

Eine kleine Oase mitten in der Zementwüste der Millionenstadt Quito: Andrea kultiviert im Vorhof des Hauses nebst Fruchtbäumen und Gemüse auch ihren eigenen Kompost.

Andrea und ihre compañeros von „Mi Jardinerita“ kennen die Situation aus den vielen Geschichten, die ihnen zugetragen werden und eigenen Beobachtungen in der Strasse: fehlende Ressourcen für den Online-Unterricht, die steigende Zahl an BettlerInnen, Gewalt in der Familie, Kinder, die vor den Einkaufszentren irgendwelche Dinge verkaufen – und auch den Hunger.

Deshalb organisieren sie Workshops, etwa zum Bau von Instrumenten aus Bambus, oder zur Reparation von Fahrrädern, dem neuen Transportmittel in Ecuadors Hauptstadt. Tamara teilt ihr Wissen über das Kochen, Amalia ihre Fähigkeiten in der Kunst, Andrea bei der Herstellung von Kunsthandwerk aus „Abfall“ und Lucia beim säen, sei es im Garten oder auf dem Balkon. Selber hat sie dutzende wenn nicht hunderte von Zierpflanzen und Gemüsesetzlingen aufgezogen. Sie stehen dort, wo die sechs Hunde des Hauses nicht hinkommen. Doch selbst diese Tiere tragen zum Zyklus in „Mi Jardinerita“ bei: mit ihrem Kot. Dieser wird über Monate zusammen mit Sägemehl in einem Plastikbehälter getrocknet, sodass er Wasser und Geruch verliert. Nach etwa acht Monaten landet er dann in Form von Humus wieder in den Pflanzentöpfen.

 

„Wir gönnen uns die Freiheit, etwas anderes zu tun, etwas,
das möglichst nichts mit dem Finanzsystem zu tun hat.“

Fausto, „Mi Jardinerita“

 

Kompostieren, recyceln und wiederverwenden sind Teil des Programms. Ein compañero aus der Nachbarschaft stellt gerade aus alten Erdölfässern Behälter zur Abfalltrennung her: für Glas, Karton und Plastik. Denn die Trennung des Mülls funktioniert in Quito mehr schlecht als recht, und man erhofft sich durch Initiativen wie diese, dass die Wichtigkeit dieses Prozesses langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung tröpfelt. „Und auch hoffen wir“, sagt Andrea, „dass wir eines Tages in einer Gesellschaft leben, wo die Menschen nicht mehr vom Müll anderer abhängig sind. Im Moment sieht die Realität jedoch anders aus. Wenn wir als Verbraucher den Abfall aber bereits in unserem Daheim trennen, wird es für die SammlerInnen auf der Strasse einfacher. Und vor allem verletzen sie sich weniger, etwa durch eine zerbrochenen Flasche.“

 

Zeit für die wirklich wichtigen Dinge

Im vorderen Teil des Hauses geht es rechts weg zum eigentlichen Jardinerita, dem Garten. Andrea hat dort ein paar Plastikbehälter für den Kompost aufgestellt, Würmer inklusive. Sie sind es, die die Bananen-, Papaya- und Ananasschalen in Humus verwandeln. Andrea selber hat ihr Wissen in etlichen Workshops erworben, insbesondere bei jenen des „Red de semillas“ (Saatgut-Netzwerk). Die Organisation, die seit 2002 die Prinzipien der Permakultur anwendet nutzte die Quarantäne – ähnliche wie viele andere –, um Online-Workshops zu organisieren. Über 800 Personen aus verschiedenen Teilen der Welt hatten im Mai und Juni jeweils an den kostenlosen Veranstaltungen teilgenommen. „Ideal wäre es“, sagt Andrea, „wenn man ein Jahr lernt, ein Jahr das Gelernte anwendet und dann während eines Jahres sein Wissen weitergibt. Dies sind die Zyklen der Permakultur.“

Sie selber wendet diese sowohl bei sich Zuhause an, als auch in anderen Gemüsegärten der Stadt. Zusammen mit Fausto, der jahrelang bei Foodsharing-Projekten in Deutschland mitgewirkt hatte und heute Teil von „Mi Jardinerita“ ist, fahren sie die Setzlinge von Brennnesseln, Rettich, Salat, Brokkoli oder Himbeeren in andere Quartiere – und zwar mit dem Velo. Dort wirken lokale Nachbarn, die sich langsam aber sicher aus ihren Wohnungen und Häusern trauen, um in ihrer Nähe etwas kleines anzupflanzen. „Wir gönnen uns die Freiheit, etwas anderes zu tun, etwas, das möglichst nichts mit dem Finanzsystem zu tun hat“, sagt Fausto. „Denn dieses offeriert Dinge, die wir ohnehin nie erreichen werden. Durchs Anpflanzen haben wir deshalb Zeit für jene Dinge, die uns wirklich wichtig sind.“

*Die Namen haben wir aus Sicherheitsgründen geändert.

 

Text: Romano Paganini

Korrektur: Katharina Hohenstein

Hauptbild: Beim Projekt „Mi Jardinerita“ leistet jedeR seinen Beitrag. Der Kot der sechs Hunde des Hauses zum Beispiel wird mit Sägemehl getrocknet und landet ein paar Monate später in Form von Humus in den Blumentöpfen. Sämtliche Bilder dieser Reportage stammen von Carlos Noriega, Fotograf in Quito.