13. September 2021, Quito/Bern. – Vergangene Woche hat die Tageszeitung „Der Bund“ seine Preise für den Essay-Schreibwettbewerb 2021 verliehen. Das Thema lautete: „Wird uns Corona nachhaltig verändern – hier und überhaupt in allen Ländern?“. Gewonnen wurde die Kompetenz durch Annemarie Lanker mit ihrem Essay „Möglichst lange selbstständig bleiben“. Platz zwei ging an Dragica Rajčić Holzner („Ausflug über die Grenze, eine wahre Geschichte“), Rang drei an Daniel Schläppi („Am Anfang war die Angst“).
Die restlichen 173 TeilnehmerInnen gingen leer aus. Zu ihnen zählt auch der Journalist und Betreiber von mutantia.ch Romano Paganini, der seit 2009 in Lateinamerika lebt; zuerst in Argentinien, seit 2017 in Ecuador. Damit die LeserInnen erfahren, wie so ein Verlierertext aussieht, geben wir ihn an dieser Stelle in ungekürzter Form wieder. Geschrieben wurde der Essay „Endlich eine Sicherheitslücke!“ übrigens im Dezember 2020.
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Endliche eine Sicherheitslücke!
Corona wird uns nicht verändern, die Krankheit hat uns bereits verändert. Und zwar innerhalb von sehr kurzer Zeit. 365 Tage bevor dieser Text entstanden ist, befand sich Covid-19 noch in China, und niemand hätte daran gedacht, dass wenige Monate später weltweit Schulen und Universitäten geschlossen würden, Restaurants hochgestuhlt, Töchter ihre Väter durch Plastikvorhänge umarmen und Leichen auf Grund fehlender Infrastruktur auf offener Strasse verbrannt würden. Wer zu Jahresbeginn 2020 einen Gedanken daran verschwendet hätte, dass Kinder und Jugendliche nur wenige Wochen später über Computer – und nur über Computer! – Mathematik und Turnen beigebracht wird und ganze Staaten von der Aussenwelt abgeriegelt würden, wäre für verrückt erklärt worden. Niemand, der dies öffentlich gesagt hätte, hatte die grösste Krise seit den 1930er Jahren auf der Rechnung.
Es ging und geht schnell mit Sars-Cov-2, dem Virus, an dessen Ursprung ein Fischmarkt in Wuhan stehen soll. Angesichts unseres Lebensstils überrascht es allerdings nicht, mit welcher Geschwindigkeit sich dieses ausgebreitet hat. Wenn es so ist, wie allgemein erzählt wird, dann reiste das Virus in unseren Körpern und Waren von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent. Es wurde in chinesischen Supermärkten verbreitet, wo Früchte aus Ecuador und Gemüse aus Vietnam auflagen, oder in australischen Elektrogeschäften mit Handys made in den USA, die wiederum ihre Rohstoffe aus Bolivien, Chile oder dem Kongo beziehen. Es gelang in die Körper von Indigenen, die ihre Territorien an die Erdöl- und Bergbau-Industrie verloren hatten, genauso wie in jene von europäischen Touristen, die auf enormen Schiffen in die Karibik schwebten. Ahoi Globalisierung!
Da war sie nun also, die Lücke im System, der „Schwarze Schwan“, von dem Sicherheitsexperten warnten und das Räderwerk unseres Schaffens praktisch zum Stillstand brachte – und damit auch unseren künstlich geschaffenen Sicherheitsapparat; dazu kommen wir gleich.
All das war keineswegs nur schlecht. So liess sich kurz innehalten und die wildgewordene Produktions- und Konsumindustrie auf unserem Planeten von aussen betrachten: dieses enorme, abstrakte Ding, bestehend aus Millionen von Maschinen und Sklaven, administriert von hockenden Bürogummis und bleichgewordenen Bürokraten, dieses Monster, dessen Gesicht sich in den Tränen der Vertriebenen widerspiegelt, die ihre Territorien der Rohstoffindustrie überlassen mussten und nun am Rande irgendeiner Megacity Handyzubehör aus Asien verkaufen. In den Flüssen, wo sie sich einst ernährt und gewaschen hatten, fliesst heute orange-gelber Schlamm. Es ist der Kot des Monsters, das die Erblindeten mit Dingen füttert, die sie nicht brauchen.
Über Jahrhunderte hat es Kriege angezettelt, Profit geschlagen und dabei unzählige Völker und Ökosysteme ausradiert. Nun steht es also still, oder zumindest bewegt es sich langsamer. Und zwar nicht, weil die Erde gegen einen anderen Planeten geknallt und es deswegen aus dem Gleichgewicht geraten wäre, sondern weil sich etwas unsichtbares Zugang zu unseren Körpern verschaffen hat und damit auch in jenen des Monsters.
„Es zirkulierten Videos von Menschen, die weinend von Hunger erzählten oder davon, ihre Kinder nur noch mit Brot und Bananen ernähren zu können.“
In Ländern wie Ecuador haben des Monsters Komplizen sofort die Notbremse gezogen und über das gesamte Staatsgebiet eine beispiellose Ausgangssperre verhängt. Drei Monate lang durften die Menschen nur zwischen 5 und 14 Uhr aus dem Haus. Die, die es sich leisten konnten, blieben zuhause. Andere, wie etwa die Indigenen, zogen zurück zu ihren Familien aufs Land und begannen dieses wieder zu bewirtschaften. Und nochmals andere, etwa Flüchtlinge aus Venezuela oder Kolumbien, die nach den ersten dreissig Tagen die Miete nicht mehr bezahlen konnten, landeten auf der Strasse. Was vorher Elend war, verwandelte sich nun in eine humanitäre Krise. Es zirkulierten Videos von Menschen, die weinend von Hunger erzählten oder davon, ihre Kinder nur noch mit Brot und Bananen ernähren zu können.
Ein Spaziergang durch Quito genügt, um sich ein Bild von der Misere zu machen. Da sitzen Mütter mit abgelatschten Schuhen am Strassenrand und stillen ihre Babies. Ganze Familien schlagen ihr Nachtquartier an einer stillgelegten Bushaltestelle auf und Kinder, kaum älter als fünf Jahre, stehen verzweifelt an Fussgängerstreifen und hoffen, dass eineR der AutofahrerInnen Verständnis hat, und ihnen einen Schokoriegel abkauft.
Dem Monster dürfte all dies egal sein, sowohl heute als auch im März 2020 oder im September 1939. Kollateralschäden wie hungernde Kinder sind Teil des Programms.
Während man sich im Globalen Süden an die Misere gewöhnt hat, zwingt die Covid-19-Pandemie im Globalen Norden nun Millionen von Menschen aus privilegierten Situationen, in den bitteren Apfel der Realität zu beissen, die da lautet: Unsicherheiten und Ungewissheiten aushalten. Und das ist in einem hochkomplexen und durchprogrammierten Alltag von Wohlstandsgesellschaften wie jener der Schweiz gar nicht so einfach. Schliesslich hatte man sich während Jahrzehnten auf sehr vieles blind verlassen können. Mann und Frau fuhren in pünktlichen Zügen, besuchten funktionierende Ämter und hatten sich an eine Form von Recht und Ordnung gewöhnt, an die sich gefälligst auch ein Virus zu halten hatte.
Über Dekaden hinweg hat man sich auf einer Wohlstandsinsel gewähnt, eine Art „Gated Community“ im Herzen Europas, stark und unversehrbar. Der Alpenstaat hat das produzierende Monster Schritt für Schritt in andere Teile der Welt auslagern lassen und dadurch seine eigenen Menschen, Berge, Äcker und Gewässer relativ gut vor Umwelt- und anderen Schäden schützen können. Ausserhalb der Schweiz schwärmte so manch einer über diese paradiesischen Zustände. Allerdings war dies nur die Schoggiseite eines vermeintlichen Vorzeigestaates. Denn auch er befand sich in den Klauen des Monsters.
Dies äusserte sich dadurch, dass die Schweizer Komplizen über Jahrzehnte glaubwürdig auftraten und es fertigbrachten über eine raffinierte Wirtschafts- und Währungspolitik einen Sozialstaat zu etablieren, der Vertrauen stiftete und dadurch Stabilität. Die neokoloniale Grundhaltung blieb praktisch unbemerkt, genauso wie die lokal verursachten Schäden. Ist schliesslich alles weit weg. In der Schweiz litt nach dem 2. Weltkrieg kaum jemand Hunger, und noch weniger fielen durch das dichte Gewebe von Sozialämtern und etlicher weiterer Institutionen. Wem dieses Kunststück dennoch gelang, landete im Gefängnis oder in der Klapse. Das Experiment des sicheren Super-Staates liess keine Abweichler zu.
„Denn wer das Leben zwischen Laax und Lausanne ausprobierte, tat dies stets mit einer Versicherung im Rücken: sei es beim Snowboarden oder Bungeejumping, beim Jetskiefahren auf dem See oder beim Biken in den Bergen.“
Doch hinter den Kulissen der sogenannten Willensnation, an dem sich auch das Monster laben sollte, entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Mentalität, die den BewohnerInnen ein enges Korsett aufzwang. Aus kreativen Freigeistern wurden engstirnige Funktionäre, aus den Möglichkeiten des Lebens eine nichts dem Zufall überlassen wollende Organisation. Das Bedürfnis nach Sicherheit spielte dabei eine zentrale Rolle. Denn wer das Leben zwischen Laax und Lausanne ausprobierte, tat dies stets mit einer Versicherung im Rücken: sei es beim Snowboarden oder Bungeejumping, beim Jetskiefahren auf dem See oder beim Biken in den Bergen. „Versichert sein“ gehört in der Schweiz zum guten Ton und ist teilweise sogar Pflicht, etwa bei Krankenkassen. Doch auch anderes wird versichert: Zähne, Lippen, Brüste, Beine, Baustellen, Wohnungen, Häuser, Autos, Computer, Handys, Reisen, Bankkonti oder gleich das gesamte Leben. Ja sogar für die Versicherung selbst gibt es eine Versicherung – sicher ist sicher.
Diese Haltung, eine Art Versicherungswahn, hat jedoch nicht für mehr Sicherheit gesorgt, sondern für zusätzliche Verunsicherung. Losgelöst von den eigenen Instinkten haben die Abgesicherten verlernt, wie leben geht. Stattdessen suchen sie Hilfe bei irgendwelchen Coachs, die sich angeblich besser damit auskennen und in völlig überteuerten Workshops erklären, wie man korrekt gebärt, stillt, isst, verdaut, sich bewegt, spielt und schläft. Auf dass man ja nichts falsch mache!
Damit wir uns richtig verstehen: Es geht nicht darum, Weiterbildungen schlecht zu schreiben. Sie sind Teil des Lebens und haben dieses bereichert – nicht zuletzt auch dank der Globalisierung. Wenn die Menschen sich allerdings nur noch auf Ratschläge und Programme Dritter verlassen, verkümmert nicht nur ihre Intuition, sie machen sich auch enorm abhängig. Und diese Abhängigkeit hat durch die Digitalisierung unseres Alltages nochmals einen Schub erhalten. Heute lassen sich die Menschen ihre Schritte zählen, wissen immer ganz genau wo auf dem Planeten die Sonne scheint, scannen vor dem Einkaufen die Produkte, um deren Nährwerte zu erfahren und erlauben Monster und Komplizen im Zuge der Covid-19-Pandemie offiziell via Handy ihre Bewegungsdaten zu erfassen, kurz: Sie sind daran, sämtliche Verantwortung für ihr Leben auszulagern und Institutionen und Maschinen jene Rechte einzuräumen, vor deren Missbrauch Georg Orwell (1903-1950) schon vor Jahrzehnten gewarnt hatte.
Die Landung auf dem Boden der Realität kann schmerzhaft sein. Doch manchmal, wenn alles aus dem Ruder zu laufen droht, wirken Tatsachen wie Balsam – vor allem dann, wenn sie einfach und zeitlos sind. Eine davon lautet: Das Leben ist ein einzig grosses Risiko und sicher ist nur der Tod. In Ecuador ist man sich dessen bewusst (was nicht heisst, dass es weniger weh tut). Hier hat das Monster über Jahrhunderte derart aggressiv gewütet, das Covid-19 lediglich als Episode in die Geschichte eingehen dürfte. Sicherheit ist zwar auch hier wichtig, aber sie wird nicht von Institutionen geschaffen, sondern vom Volk: Nachbarn, Freunde, Kommunen. Das mag Nachteile mit sich bringen, aber es hat einen grossen Vorteil: Es wird einem nichts vorgegaukelt. Der Sicherheitsapparat setzt sich aus Menschen zusammen und nicht aus leeren Versprechungen von Industrie und Staaten, die auf teure Technologie setzen und mit der Angst anderer auch noch Geld verdienen.
In Ländern wie der Schweiz drohen nun jene Gräben aufzugehen, die durch die Illusion von Sicherheit zugeschüttet schienen. Covid-19 hat Risse ins System getrieben und plötzlich tauchen wieder existenzielle Fragen auf, zum Beispiel: Warum werden wir eigentlich krank? Wie gesund ist eine Gesellschaft, die für alles eine Versicherung braucht? Und warum werden die Gesunden dazu gezwungen, sich innerhalb eines kranken Systems versichern zu lassen?
„Wir müssen Begriffe wie Solidarität, Nächstenliebe und
gesunden Menschenverstand wieder mit Inhalt füllen –
und zwar nicht, in dem wir klatschend auf Balkonen stehen
oder dem betagten Nachbarn ab und zu die Einkäufe erledigen.“
Wir – und damit fühle auch ich mich angesprochen – stehen vor einem Scherbenhaufen, wie ihn unsere Generation bisher nicht gekannt hat. Was vor 365 Tagen noch undenkbar war, hat heute Millionen Menschen in Isolation und Ruin, in Depression und Suizid geführt. Soziale Unruhen sind programmiert, an einzelnen Orten sind sie bereits ausgebrochen. Die Komplizen des Monsters tun deshalb gut daran, den BürgerInnen reinen Wein einzuschenken und sie nicht im Glauben zu lassen, dass bald wieder alles unter Kontrolle sei.
Wir hingegen, also du und ich, tun gut daran, uns wieder zusammenzutun und uns nicht durch irgendwelche Parteibüchlein oder sonstige Ideologien trennen zu lassen. Wir müssen Begriffe wie Solidarität, Nächstenliebe und gesunden Menschenverstand wieder mit Inhalt füllen – und zwar nicht, in dem wir klatschend auf Balkonen stehen oder dem betagten Nachbarn ab und zu die Einkäufe erledigen. Klar, auch das ist schön und tut dem Ego gut. Aber individuelle Aktionen werden verpuffen.
Was wirkungsvoller scheint, ist eine Dekonstruktion dessen, was wir bis vor einem Jahr noch für normal gehalten hatten. Erwähnt sei der Kurzurlaub auf Gran Canaria, der hippe Soja-Käse aus Argentinien oder der jährliche Kauf des neuesten I-Phones. Wir haben in den vergangenen Monaten erfahren, was Verzicht bedeutet, wenn auch auf hohem Niveau. Warum also aus dieser vermeintlichen Not nicht eine Tugend machen? Das heisst nicht, dass es uns dabei schlechter gehen muss. Verzicht bedeutet auch Rücksichtnahme, in diesem Falle auf die Menschen im Globalen Süden. Schliesslich sind es ihre Berge und Felder, ihre Wälder und Flüsse, die den hohen Lebensstandard in der Schweiz erst ermöglichen. Ohne ihre Arbeitskraft und Rohstoffe wäre die Schweiz möglicherweise arm wie Mitte des 19. Jahrhunderts.
Nun, Schuldzuweisungen sind nicht an der Zeit, Schuldeingeständnisse und Schuldenerlass hingegen schon. Auch die Ernährungssouveränität und andere Themen, die uns als BürgerInnen bröckelnder Nationalstaaten verbinden, gehören wieder in die politische Agenda. Das Grundeinkommen zum Beispiel. Oder Generationen übergreifendes Wohnen. Oder alternative Pflegesysteme. Es sind Themen, die dem Individuum die Bedeutung nehmen und das Kollektiv ins Zentrum rücken. Nein, nicht um nationalistisches Gedankengut zu stärken, sondern um lokale Initiativen zu fördern und der Globalisierung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Wissen und Weisheiten für diesen Umbau sind vorhanden – auch wenn uns Monster und Komplizen etwas anderes verkaufen wollen, zum Beispiel eine Impfung. Schliesslich ist es nicht in ihrem Sinne, wenn sich Menschen zusammenraufen und selber organisieren. Freiheit und Autonomie ist für sie wie Weihwasser für den Teufel: ein No-Go! Nichts bedroht ihre Existenz mehr als eigenständiges Denken und Handeln derer, die sie unter ihrer Knute und die das Angst-Narrativ in ihre Körper gelassen haben. Denn durch die Angst gestehen wir Monster und Komplizen jene Macht zu, die sie so stark hat werden lassen. Erst wenn diese Angst als Illusion anerkannt und also abgelegt werden kann, können Themen wie die obergenannten gedeihen. Gesät wurden diese schon vor Jahren, einzelne sind noch älter. Nun liegt es an unserer Generation, ob diese Saat auf fruchtbaren Boden stösst oder sich der Leidensdruck zuerst noch erhöhen muss.
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Zeichnung: Einsamkeit in Zeiten der Digitalisierung: Die Zeichnung stammt vom polnischen Künstler Pawel Kuczynski.