Streik 2019 in Ecuador: Zensur im Spital, Gewalt gegen Ärzte

Aus Angst, ihren Job zu verlieren, haben sie geschwiegen. Heute nun äussern sich Ärztinnen, die beim Landesstreik 2019 in Ecuador an vorderster Front Verletzte behandelten. Sie erheben nicht nur schwere Vorwürfe gegen das Gesundheitsministerium, sondern auch gegen Polizei und Militär, von denen sie auf der Strasse bedroht und teilweise angegriffen worden waren.

2. November 2020, Quito – Wir schreiben den 12. Oktober 2019. Vor gut einer Stunde hat der ecuadorianische Präsident per Dekret eine Ausgangssperre für die ecuadorianische Hauptstadt verhängt. Sie gilt praktisch per sofort. Tausende DemonstrantInnen ziehen sich innert kürzester Zeit in ihre Häuser und Herbergen zurück. Auch die ÄrztInnen verlassen das Gelände beim Park El Arbolito, das Zentrum der Proteste im Zentrum von Quito. Zwischen den DemonstrantInnen und der Polizei, nur etwa hundert Meter von dort, wo das Gesundheitspersonal ein provisorisches Lazarett aufgebaut hatte, steht der ecuadorianische Rechnungshof in Flammen. Wer hinter der Brandstiftung steht, ist bis heute unklar.

Kurz vor der Evakuierung erklärt ein junger Arzt mit Maske im Gesicht und Stethoskop am Hals die Situation: „Die Proteste sind inzwischen derart nahe, dass ein Grossteil der Tränengasbomben in der Nähe des Lazaretts explodieren und sowohl das Leben der Menschen, die betreut werden, als auch derer, die betreuen, in Gefahr ist.“

Der junge Arzt – wir nennen ihn Jorge – ist einer von vielen freiwilligen NotärztInnen, Intensivmedizinern, GynäkologInnen, KinderärztInnen, KrankenpflegerInnen und MedizinstudentInnen, die Anfang Oktober 2019 dafür sorgten, dass bei den Zusammenstössen in Ecuadors Hauptstadt nicht mehr Menschen getötet wurden. Das Gesundheitsministerium schreibt von 1.508 Personen, die in öffentlichen Einrichtungen behandelt worden waren. Allerdings ist diese Zahl mit Vorsicht zu lesen, zumal viele Verletzte es vorzogen, sich privat oder gar nicht behandeln zu lassen – aus Angst vor Repression und Verfolgung durch die Regierung. Jorge berichtet ausserdem, dass er Augenzeuge von mindestens einer von Bleikugeln getroffenen Person wurde. Sie verstarb kurze Zeit darauf.

 

Die Ausreden der Regierung

Die Information mit der Bleikugel – bestätigt durch anderen ÄrztInnen, die während des Landesstreiks auf der Strasse waren – bringt die ohnehin umstrittene Regierungsministerin Maria Paula Romo in Bedrängnis. Sie war verantwortlich für die massive Gewalt seitens der Polizei, weist aber wie vor einem Jahr jegliche Verantwortung in Zusammenhang mit den mindestens neun Toten von sich. „Keiner der bedauerlichen menschlichen Verluste kann auf den Einsatz von Polizeiwaffen zurückgeführt werden“, sagte sie in einem kürzlich veröffentlichten Video. „Ihre Anweisungen waren klar: Trotz der Gewalt und der Provokationen soll der Konflikt nur mit abschreckender Gewalt behandelt werden.“ Und um ihre Entscheidungen von damals zu rechtfertigen, fügt sie an: „Die Polizei ist ihrer Pflicht nachgekommen. Ich bin meiner Pflicht nachgekommen.“

Es sind die Worte einer Regierungsvertreterin, die sich wegen Pflichtverletzung – etwa der Einsatz von abgelaufenem Tränengas oder dem Angriff auf Lazarette – in einem politischen Prozess zu verantworten hat.

Pflegepersonal, MedizinstudentInnen und ÄrztInnen während des Landesstreiks 2019 in Ecuadors Hauptstadt auf der Flucht: Trotz weisser Kittel wurden auch sie Opfer von Angriffen der Polizei, Oktober 2019. – BILD: Carlos Noriega

Es sei daran erinnert, dass weder Maria Paula Romo noch Oswaldo Jarrín, der Verteidigungsminister, vergangenes Jahr auf der Strasse standen, sondern sich aus ihren jeweiligen Verstecken zu rechtfertigen versuchten. Auch Jarrín, einst ausgebildet vom US-Militär, wusch nur wenige Tage nach Ende des Streiks seine Hände in Unschuld und verteidigte die Angriffe auf die Universitäten. Dort nächtigten im Oktober 2019 hunderte DemonstrantInnen, darunter auch Babies und Kinder. Im Chaos von damals wäre beinahe untergegangen, dass Jarrín den Einsatz von Schusswaffen gutgeheissen hatte, sollten Angriffe auf „strategische Einrichtungen“ wie Erdöl-Bohrlöcher oder Antennen der Telekommunikation stattfinden. Solche Anlagen wurden zwar tatsächlich besetzt, zu Schussabgaben soll es aber nicht gekommen sein.

Was der Verteidigungsminister damals nicht erwähnt hatte, ist die Tatsache, dass sich Waffen wie Tränengas- oder Schrotbomben je nach Gebrauch zur tödlichen Waffe verwandeln können – nämlich dann, wenn sie direkt auf die Körper der DemonstrantInnen gerichtet werden. Dieses Detail hatte auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission in ihrem Bericht Anfang dieses Jahres festgehalten. Die unzähligen Verletzten und mindestens neun Toten reichten Präsident Moreno allerdings nicht, um Romo und Jarrín ihrer Ämter zu entheben, wie es diverse Sektoren der Zivilgesellschaft gefordert hatten.

 

Der fragwürdige Angriff aufs Rote Kreuz

„Einzelne von uns kannten Notsituationen wie diese und wussten, wie damit umgehen“, erinnert sich Francisco, ein anderer Arzt, der ebenfalls vor Ort war. „Aber einen Grossteil organisierten wir spontan.“ Francisco pendelte zwischen seinem Arbeitsplatz im öffentlichen Gesundheitswesen und dem Schlachtfeld, stets darauf bedacht, dass niemand in seinem Team etwas mitbekommt. Wie andere fürchtete auch er, dass er sonst seinen Job verlieren könnte. Gleichzeitig konnte Francisco aber nicht untätig Zuhause sitzen. „Wenn wir nicht gehandelt hätten, was wäre dann passiert? Vielleicht hätte es ein noch viel schlimmeres Gemetzel gegeben.“

Francisco, der seit über zehn Jahren als Arzt tätig ist, ist schwierige Situationen gewöhnt, auch aus dem Ausland. „Aber eine solche Situation im eigenen Land zu erleben, wo der Staat sein Volk im Stich lässt und dich das eigene Gesundheitsministerium und andere Institutionen nicht verteidigen, ist nur schwer verständlich.“ Im Gespräch erwähnt er das Rote Kreuz, das sich auf Grund fehlender Sicherheit zwischenzeitlich zurückgezogen hatte. „In Syrien und im Irak, also an Orten mit schwerwiegenden Problemen, arbeitet das Rote Kreuz jeweils weiter. Doch hier in Ecuador ist es zur Seite getreten. Und ich frage mich warum.“

Gemäss Regierung und Angaben des Roten Kreuzes sind die Fahrzeuge der internationalen Hilfsorganisation damals von DemonstrantInnen mit Steinen beworfen worden; das ist auf Videos belegt. Einer, der diese Situation vor Ort miterlebt hatte, ist Alfonso. Der freiwillige Arzt erinnert sich an „dieses zweifelhafte Ereignis“ im Stadtteil San Blas. „Ich sah“, sagt Alfonso, „dass keine DemonstrantInnen in Sicht waren, jedoch plötzlich fünfzehn bis zwanzig Personen hervortraten und den Wagen des Roten Kreuzes mit Steinen bewarfen. Und all das gerade mal fünfzig Meter von der Polizei entfernt. Die Polizei schaute zu, was mir ehrlich gesagt verdächtig erschien. Letztlich schloss sich dann der wütende Mob den Angriffen auf den Krankenwagen an, und die Polizei, die zuvor nichts unternommen hatte, griff nun mit ihrer Kavallerie ein.“

Die freiwilligen Ärzte standen während zwölf Tagen praktisch ununterbrochen im Einsatz, und setzten dabei auch ihr eigenes Lebens aufs Spiel: Rettung eines verletzten Demonstranten in Quito, Oktober 2019.  – BILD: Carlos Noriega

Dass der Landesstreik durch Infiltrationen geprägt war, ist unumstritten. Doch wer dahintersteckt und die Gewaltausschreitungen angeheizt hatte – mit welchen Interessen auch immer – wird sich vielleicht erst in ein paar Jahren weisen.

Tatsache ist, dass sowohl die Regierung als auch die Massenmedien die Gewalt zum Anlass nahmen, um von „Vandalen“ und „Terroristen“ zu sprechen und das Narrativ zu den „gewalttätigen Indios“ prägten und damit die polizeiliche und militärische Repression rechtfertigten. Weder differenzierten Moreno und seine MinisterInnen, noch zeigten sie politischen Willen – etwa das Dekret zur Streichung der Treibstoff-Subventionen wieder aufzuheben –, um der Gewalt auf der Strasse ein Ende zu setzen. Das Gegenteil war der Fall: Polizei und Militär richteten ihre Waffen auf die Körper der DemonstrantInnen, als ob sie in einem Krieg stünden. Dieses Verhalten führte letztlich zur Eskalation auf der Strasse und einem Klima der Angst in breiten Teilen der Bevölkerung. Es klingt deshalb zynisch, wenn Maria Paula Romo ihre Entscheidungen im Namen der Demokratie zu rechtfertigen versucht.

 

Ärzte zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit der Polizei

In Bezug auf die Gewalt warten die behandelnden ÄrztInnen mit einer erschreckenden Erklärung auf: nämlich dass die staatlichen Sicherheitskräfte unter Einfluss von Substanzen gestanden hätten. Francisco zum Beispiel erinnert sich an eine Gruppe PolizistInnen, die in eines der Lazarette eingedrungen waren, wo ÄrztInnen Verletzte behandelten. Und obwohl er und seine KollegInnen, alle im weissen Kittel, die Hände hoch hielten, richtete der Polizist seine Waffe auf die Brust Franciscos. „Das war nicht die Reaktion einer Person, die sich zu hundert Prozent sicher war, was sie tat.“

Aus Kriegen ist bekannt, dass den SoldatInnen Substanzen verabreicht werden, um die Aggressivität zu steigern und weniger Schmerz zu fühlen. Die Droge des 21. Jahrhunderts, die diese Parameter par excellence erfüllt, ist Kokain. In Chile zum Beispiel, wo sich das Volk wenige Tage nach dem Streik in Ecuador erhoben hatte, ist der Konsum des weissen Pulvers dokumentiert. Und in Ecuador? „Das ist eine jener Fragen, die mich als Arzt am meisten beschäftigt haben“, sagt Alfonso. Er schaute beim Retten der Verletzten den Sicherheitskräften in die Augen. Er sah deren Körperhaltung und Gesichtsausdruck und sagt heute: „Ich gehe davon aus, dass in jedem Polizisten eine gewisse Menschlichkeit schlummert, aber ich habe medizinisch gesehen grosse Zweifel daran, dass sie nicht unter Einfluss irgendeiner Substanz gestanden haben.“

Alfonso war damals Zeuge, wie Polizisten auf den Kopf eines jungen Mannes eingeprügelt hatten, der bereits auf der Strasse lag. Die Uniformierten hörten selbst dann nicht auf, als ihre eigenen KollegInnen versuchten, sie davon abzuhalten. „Ein Mensch ist in der Wut zu gewissen Handlungen fähig“, stellt Alfonso klar. „Aber ein Mann, der bereits bewusstlos am Boden liegt, und auf dessen Kopf weiterhin mit Schlagstöcken eingeschlagen wird, das ist nicht normal.“ Wie Francisco und andere ÄrztInnen vermutet auch Alfonso, dass die Polizei während des Streiks unter dem Einfluss von Kokain gestanden hatte.

Operieren in Extremis: Leichte Verletzungen wurden noch vor Ort behandelt, wie hier im Park El Arbolito. Die Schwerverletzten wurden via private Kontakte in die öffentlichen Spitäler überwiesen. – BILD: A. Ramirez Anderson

Das undifferenzierte Agieren der Polizei führte letztlich dazu, dass Dutzende von Tränengasbomben in der Nähe von Rückzugsgebieten wie Universitäten und Krankenhäusern gezündet wurden, auch in der Nähe von Neugeborenen und Spitälern wie dem Hospital Eugenio Espejo. „Der Parkplatz war voller Tränengas, was auch unsere Patienten eingeatmet haben, einige von ihnen schwer krank“, sagt Elena, eine der etwa 500 ÄrztInnen im Eugenio Espejo.

Sie erinnert sich, wie die Polizei in das Krankenhaus eingedrungen war, um DemonstrantInnen herauszuzerren. Und da die Spielleitung auf Seiten der Sicherheitskräfte stand, „hatten sie quasi einen Freipass“. Die Verantwortlichen hätten sich der Polizei gegenüber unterwürfig verhalten. „Und gleichzeitig versuchte man, die Ereignisse zu vertuschen.“

 

Die Drohungen der Spitalleitung

Ein anderes Beispiel für die Nachlässigkeit des Staates, das die ÄrztInnen erwähnen, war der nicht vorhandene Rettungskanal zwischen dem Park El Arbolito und dem Eugenio Espejo, um die Verletzten schneller behandeln zu können. Um die medizinische Versorgung zu beschleunigen, mussten sich die ÄrztInnen auf der Strasse privat mit ihren KollegInnen in den Krankenhäusern verständigen.

Anfangs kamen täglich zwanzig bis dreissig Verletzte ins Spital, und es wurde – wie im Protokoll festgeschrieben – ein entsprechender Bericht verfasst. Doch als die Proteste stärker wurden und immer mehr Verletzte eintrafen, verlangten die Zuständigen keine Berichte mehr, sagt Elena.

Als Folge davon hatten Dutzende von Familienmitgliedern keinen Zugang zu den Krankenakten ihrer Angehörigen, oder wurden gar dazu angehalten, ein Papier zu unterschreiben, auf dem es hiess, dass die Verletzung nicht in Zusammenhang mit dem Landesstreik stehe. Laut Elena, die diese Praxis mit eigenen Augen gesehen hatte, liess die Spitalleitung sämtliche Daten verschwinden. „Das Krankenhaus hat keine Informationen mehr.“

Diverse Ärzte des Eugenio Espejo rebellierten gegen diese Politik des Vergessens und begannen, die Fakten auf Facebook und Instagram zu verbreiten. So zirkulierten Fotos von zerstörten Schädeln, von Augen voller Schrot oder von Gesichtern, die durch den Einschlag von Tränengasbomben entstellt waren. „Nur so konnten wir kommunizieren, was tatsächlich vor sich ging“, erinnert sich Elena. Darauf rief die Krankenhausleistung ihre ÄrztInnen auf dem Handys an und forderte sie auf, die Inhalte aus ihren digitalen Netzwerken zu löschen. Die Direktorin – eine von fünf seit dem Streik – drohte den ÄrztInnen gar mit Sanktionen und verbreitete eine Liste mit den Namen derjenigen, die sich diesem Verbot widersetzten. Doch es sollte bei der Drohkulisse bleiben. „Am Ende“, sagt Elena, „hatte es keine Konsequenzen.“ 

Behandlung einer verletzten DemonstrantIn: Während des Streiks wurden tausende von Tränengasbomben abgefeuert – auch solche, die das Verfallsdatum längst überschritten hatten. Viele der schweren Verletzungen sind darauf zurückzuführen, dass die Polizei ihre Waffen direkt auf die Körper richteten. – BILD: A. Ramirez Anderson

Bis heute wissen viele der Verletzten nicht im Detail, was sich im Krankenhaus genau abgespielt hatte und was die ÄrztInnen mit ihren Körpern gemacht haben. Um die Hintergründe zu den Vorwürfen des Spital-Personals in Erfahrung zu bringen, baten wir die Verantwortlichen des Eugenio Espejo um ein Interview. Doch wie bereits vor einem Jahr hat diese nicht reagiert. Auch die ecuadorianische Ärztekammer liess unsere Anrufe unbeantwortet.

Lediglich das Gesundheitsministerium schrieb zurück – allerdings ohne von der Linie Maria Paula Romos abzuweichen. Sinngemäss hiess es, dass man die Krankheitsgeschichte der damals Verletzten begleitet habe, es allerdings nicht möglich sei, Angaben darüber zu machen, ob der Spitalaufenthalt oder der Tod der PatientInnen im Rahmen des Landesstreiks passiert sei …

 

Wer hat die DemonstrantInnen getötet?

Elena hat sich an „die Lügen der Regierung“ gewöhnt. Um etwas Licht ins Dunkle zu bringen, hat sie, ähnlich wie Francisco und Alfonso, all ihren Mut zusammengenommen, und ist nun an die Öffentlichkeit getreten. Die Verantwortlichen der Ereignisse vom Oktober 2019 sollen nicht ungestraft davonkommen. Sobald die aktuelle Regierung ihr Amt abgibt – in rund drei Monaten stehen in Ecuador Wahlen an –, müsse sie strafrechtlich verfolgt werden, sagt Elena.

Regierungsministerin María Paula Romo, die erst kürzlich ihr umstrittenes Buch Oktober: Demokratie unter Beschuss vorgestellt hat, sagt im Video von Anfang Oktober: „Kein Mitglied der Polizei ging in all diesen Tagen mit ihrer Waffe auf die Strasse“.

Wenn Ecuador tatsächlich ein demokratischer Staat ist, dann sei die Frage erlaubt: Wer hat das Leben von Inocencio Tucumbi, Edison Mosquera oder Gabriel Angulo Bone auf dem Gewissen?

*Um die Personen, die in diesem Text zu Wort kommen, vor dem ecuadorianischen Staat zu schützen, haben wir sämtliche Namen anonymisiert.

 

Text: Mayra Caiza und Romano Paganini

Mitarbeit: Karla Caiza

Hauptbild: War während der Streiktage in Ecuadors Hauptstadt keine Garantie für Sicherheit: die Weisse Flagge in den Händen einer Ärztebrigade bei der Rettung eines Verletzten (Carlos Noriega). 

Korrektur: Katharina Hohenstein