Mitteilung vom 16. Juni 2022
mutantia.ch wird vier Jahre alt: Ob es die Plattform auf acht schafft?
Im Mai 2018 ging mutantia.ch online. Heute, vier Jahre, einen Landesstreik in Ecuador, einen anhaltenden Krieg in Europa und eine planetarische Pandemie später gibt es uns noch immer. Das deutschsprachige Programm läuft im Moment zwar wieder einmal auf Sparflamme, dafür haben wir seit März dieses Jahres den spanischsprachigen Teil erneut aktiviert. Zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie gibt es die Rubrik Post-Pandemic-Planet inzwischen auch in Ecuador, kombiniert mit journalistischen Beiträgen und der Promotion des Buches „Hände der Transition“; dazu gleich mehr. Unser siebenköpfiges Team in Quito hat sich dieses Mal eine Limite gesetzt: Wenn wir bis Ende des Jahres keine Perspektive sehen, mit mutantia.ch mittelfristig Geld zu verdienen, blasen wir die Übung ab. Das mag unbescheiden klingen, ist aber angesichts einer steigenden Inflation und eines sich verkomplizierenden Alltags nicht anders möglich. Ansonsten werden wir unsere Energie künftig anderweitig einsetzen – aber nicht mehr im Journalismus.
Apropos: Es ist im Moment ja nicht einfach, konstruktive Nachrichten zu finden. Auch hier in Ecuador, wo wir uns seit Montag wieder in einem unbefristeten Landesstreik befinden*, gestaltet sich die Suche nach Good-News schwierig. Das ist mir als Autor des obengenannten Buches auch beim Schreiben des Prologs aufgefallen. Ich wusste zunächst gar nicht, wo ich für die dritte Ausgabe von „Hände der Transition“ ansetzen sollte. Schliesslich erinnerte ich mich an eine Episode aus meinem Journalistenleben in der Schweiz, wo ich 2008 auf Reportage in den Flumserbergen war. Der Prolog vom März 2022 liest sich nun folgendermassen:
Vor 14 Jahren wurde ich von den Kollegen der Tages-Anzeiger Lokalredaktion am rechten Zürichsee-Ufer damit beauftragt, eine Reportage über GymnasiastInnen zu schreiben, die fünf Tage lange ohne Strom und fliessend Wasser in den Bergen lebten. Bei der Projektwoche ging es unter anderem darum, dass die aus Mittel- und Oberschichten stammenden Jugendlichen ein Gefühl für ihre Privilegien entwickelten. Holz sammeln und Feuer entfachen, um warmes Wasser zu generieren, gehörte damals zum Alltag. Und da die Mädels und Jungs wussten, dass sie danach wieder in ihre beheizten Wohnungen und Häuser mit fliessend Wasser und unbegrenztem Internet zurückkehren konnten, genossen sie die Reise in diese unbekannte Realität.
Ich blieb eine Nacht bei ihnen – und kam just am selben Tag an, an dem die Schweizer Fußballnationalmannschaft um den Einzug ins Viertelfinale der Europameisterschaft gegen die Türkei spielte. Die Jugendlichen sassen gebannt vor einem batteriebetriebenen Radio, einige mit der Schweizer Fahne um den Hals. Auf 2.500 Metern über Meer verfolgten sie das Geschehen auf dem Spielfeld in Basel gebannt – ohne Happy End. Die Schweiz verlor das Spiel in der letzten Minuten. „Geht nach draußen und schaut euch die Sterne an“, sagte der Lehrer nach dem Schlusspfiff. „Dann erkennt ihr, was im Leben wirklich wichtig ist.“
Ich ging ebenfalls raus. Und da es in den Bergen (damals) keine Ablenkungen gibt, taten die SchülerInnen, was ihnen der Lehrer vorgeschlagen hatte: Sie blickten nach oben. Was sie sahen, waren die Milchstrasse, die Planeten, um die die Erde kreist sowie unzählige noch unerforschte Sterne. Die Ereignisse in Basel und die Enttäuschung über die Niederlage ihrer Mannschaft waren weit weg. Der momentane Frust weichte der zeitlosen Anwesenheit der Berge.
Das Bild der Jugendlichen, die nach oben blicken, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt – und es fällt mir jetzt wieder ein, da ich diesen Prolog schreibe und versuche, mich an jene Dinge des Lebens zu erinnern, die wirklich wichtig sind. Ich hoffe, dass wir in diesen chaotischen Zeiten die Perspektive wiedergewinnen, das Leben ausserhalb der virtuellen Netzwerke kultivieren, um unser menschliches Dasein wieder mehr in jene Umgebung einbetten zu können, die grosse Anteile an unserem Dasein hat: das direkte Umfeld. Es beginnt bei den Mikroben, Viren und Bakterien, auf die unsere Körper nicht verzichten können und endet mit dem Betrachten des Sternenhimmels und dem spirituellen Empfinden, dass auch wir ein Teil der Natur sind, noch lange nicht … Warum sollten wir es nicht tun, wie diese jungen Leute im Jahr 2008, und uns mit unserem Körper, unserem Geist und unserem Atem verbinden und den anderen Teil unserer DNA zu aktivieren?
Diejenigen, die vor über zweitausend Jahren das Römische Reich errichteten, waren ExpertInnen im Ablenken des Volkes. Ihre wirkungsvollste Waffe waren Brot und Spiele. Sie liessen dadurch auch jene Kritik verstummen, die darauf zielte, auf den Zusammenbruch des Imperiums hinzuweisen. Ob Brot und Spiele uns auch heute noch vom Wesentlichen ablenken?

So viel zum Prolog im Buch, nun zur persönlichen Schlussfolgerung meinerseits: Wenn wir heute morgens aufstehen und in den Spiegel schauen, kommen wir wohl nicht darum herum, uns einzugestehen, dass wir aus der „Brot-und-Spiele-Logik“ nicht rausgefunden haben und die kollektive Unterwerfung einer kollektiven Kritik vorziehen. Uns ist die Fussball-Weltmeisterschaft in Katar letztlich wichtiger als die beim Bau der Stadien verunglückten ArbeiterInnen aus verarmten Ländern Asiens. Oder irre ich mich da etwa?
Kommen wir zum erbaulichen Teil dieses Newsletters, der dritten Ausgabe von „Hände der Transition“. Und das schreibe ich nicht als Autor des Buches, sondern auf Grund des Feedbacks, das ich in den vergangenen Wochen erhalten habe. Drei Mal haben wir das Buch bisher präsentiert: einmal in Quito, einmal in Tumbaco und Anfang Juni bei Facebook. Das Echo war stets das Selbe: Wir brauchen mehr solche Geschichten. Geschichten, die die LeserInnen animieren und motivieren. Geschichten, die einen anderen Fokus haben. Geschichten, die anders erzählt werden. Fausto Yanez, ein junger Journalist aus Quito, der das Buch Ende April im Kulturhaus „Mediagua“ präsentiert hatte, meinte: Ich fühlte mich am Ende des Buches irgendwie unwohl, weil ich realisiert habe, dass es heute schon so viele Menschen gibt, die an einer anderen Welt arbeiten, ich aber nach wie vor in meiner Stadtwohnung sitze und in alten Mustern verharre.
Das Buch, das es seit vergangener Woche auch digital gibt, ist bisher rund dreissig Mal verkauft worden. Zehn Prozent des Erlöses gehen in die Kasse von mutantia.ch, um Recherche-Reisen und die Werbung bei Facebook zu finanzieren. Ausserdem steht unser Team seit ein paar Wochen in Kontakt mit der Universidad de las Américas (UDLA) in Quito; die Verantwortlichen prüfen die Möglichkeit, das Buch ab September 2022 als Lernmaterial für die StudentInnen in ihren Lehrplan aufzunehmen …
Natürlich wäre es schön, die Geschichten ins Deutsche zu übersetzen und auch in der Schweiz, Deutschland und Österreich in Umlauf zu bringen. Aber solange es diesbezüglich zu keiner Finanzierung kommt, gibt es die zwölf Geschichten aus fünf verschiedenen Ländern bis auf weiteres nur auf spanisch.
Finanziell rechnet sich mutantia.ch nach wie vor nicht. Aber nach den erfolgreichen Buchpräsentationen und dem offensichtlichen Bedürfnis in der lokalen Bevölkerung, sich zu treffen und über gesellschaftlich relevante Themen auszutauschen, haben wir die „Conversaciones mutantes“ ins Leben gerufen (siehe Foto), die „Mutanten-Gespräche“. Start war vergangene Woche im Caféarte im Vorort Tumbaco, wo wir durch den gleichzeitigen Verkauf von Goodies (Bleistifte und Schreibblöcke mit dem Logo von mutantia.ch) sowie einer Kollekte zusätzliche Einnahmen generierten. Uns bleiben sechs Monate, um uns aufzuraffen und am Spiel mit dem Geld teilzunehmen.
Die deutschsprachigen LeserInnen müssen vorerst mit dem kontroversen Gespräch mit Jorge Calero vorlieb nehmen, dem Mitgründer eines Öko-Dorfes im Südwesten von Kolumbien. Das Interview ist quasi das Geschenk zu unserem vierten Geburtstag – und gleichzeitig der Abschied in die Sommerpause. Das ist zwar ein bisschen früh, aber mehr liegt im Moment nicht drin.
Nun wünschen wir gute Wochen und Euch allen den Mut, um aus eurem Alltag auszubrechen. Nachhaltigkeit beginnt mit einem grossen Schritt aus unser aller Komfortzonen.
Im Namen des Teams mutantia.ch
Romano Paganini, Koordinator