Kein anderes europäisches Land verzeichnet so viele Coronavirus-Erkrankungen wie Italien. In den vergangenen Wochen hat sich einiges verändert – sowohl im Alltag als auch in der Wahrnehmung. Ein Bericht aus Südtirol, das wie der Rest Italiens seit Dienstag in Quarantäne lebt.
12. März 2020, Mals (Südtirol) – Es ist der 21. Februar 2020 und in der Lombardei ergeben erste Tests, dass sich sechs Personen mit dem Coronavirus infiziert haben; später am Tag sollen es 15 werden. In Codogno, einer Stadt mit knapp 16.000 Einwohnern in der Provinz Lodi (Lombardei) schliessen Schulen, die Erste-Hilfe-Station des Krankenhauses, Bars und Restaurants. Vorläufig bis mindestens Sonntag, heisst es.
Es ist der Tag, an dem unsere Freunde aus Bayern nach Südtirol kommen: der Freistaat hat Fasnachtsferien. Geplant sind ein paar gemeinsame Tage in Ferrara. Mein Freund, italienischer Staatsbürger und Schafhalter, runzelt die Stirn. Er denkt nicht an die Gefahr einer Ansteckung in der Poebene, sondern an seine Schafe. Was, wenn er in Quarantäne gesteckt würde? Noch ist das Heu im Stall ausreichend. Sollte es jedoch zur Neige gehen, dann wäre jener Kollege, der tageweise aushilft und die Fütterung übernimmt, nicht in der Lage, mit dem Traktor Nachschub aus der nächsten Ortschaft zu besorgen. Panikmache, sagen unsere deutschen Freunde. Ich halte ausnahmsweise den Mund und denke: Er kennt seinen Staat besser als ich.*
Dann schließen die Museen in Ferrara. Der Karneval in Venedig wird abgesagt. Die Mailänder Scala setzt ihre Aufführungen aus. Für die Regionen Emilia-Romagna, Friulisch-Venetien, Lombardei, Piemont und Ligurien werden alle Sportveranstaltungen – öffentlich oder privat – verboten, Prüfungen aller Art werden abgesagt, Schulen, Universitäten und die Stätten von Kunst und Kultur werden geschlossen.
Florenz: ein bisschen mehr Mundschutz
Wir planen neu, umfahren die Poebene und reisen schliesslich nach Florenz, wo wir einen Katzensprung vom Palazzo Vecchio entfernt unterkommen. In der Stadt der Renaissance sind ähnlich viele TouristInnen unterwegs wie sonst. Einziger Unterschied: Es schützen sich etwa 15 Prozent mit Mundschutz, was vielleicht 14 Prozent mehr als zu Nicht-Corona-Zeiten ausmacht. Noch beobachten wir eher amüsiert die wenigen italienischen Familien, die im Kollektiv mit Mundschutz auftreten: Sie legen ihren Mundschutz auf den Tisch, essen, ziehen ihn wieder an. Kaum fertig gegessen, entschwinden sie in eines der zahlreichen Museen der Stadt, wo Eintrittskarten durch Geld getauscht werden, wo sie möglicherweise in Warteschlangen vor den Uffizien ihre Beine in die Bäuche stehen und sich in Menschentrauben, dicht an dicht, das Tondo Doni von Michelangelo Buonarotti ansehen werden. Es ist der 25. Februar, elf Menschen sind in Italien dem Virus erlegen, einige Ortschaften in Venetien und in der Lombardei sind bereits abgeriegelt.
Es fehlt vor allem an frischem Obst und Gemüse: Lebensmittelladen in Mals, Südtirol am Dienstagvormittag. BILD: K. Hohenstein |
Zurück im Vinschgau in Südtirol, der nördlichsten Provinz des Landes mit Grenzen zur Schweiz und Österreich: Die Lage in der Provinz bleibe stabil, sagt die Südtiroler Landesverwaltung am 29. Februar; die vier Personen mit Verdacht auf das Virus seien bereits zum zweiten Mal getestet worden. Landesweit steigen die Todesfälle allerdings rapide an; am 29. Februar gibt es rund 1.000 Verdachtsfälle und 29 Opfer. Das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) stuft Südtirol am 6. März als viertes Risikogebiet für den Coronavirus ein, die anderen sind die Emilia-Romagna, die Lombardei und die Stadt Vo in der Region Venetien. Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher, der Südtiroler EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann und der Handelskammerpräsident Michl Ebner äussern sich: Nicht nachvollziehbar, lautet der Tenor einstimmig. „Diese Einstufung Südtirols als Risikogebiet entbehrt jeglicher Grundlage“, lässt sich Michl Ebner in der Sonntagszeitung Zett zitieren. „Wir fordern eine Neubewertung und haben bereits in diesem Sinne beim RKI interveniert“. In Bayern hingegen wird am 7. März beschlossen, dass alle Schülerinnen und Schüler, die in Südtirol in den Ferien gewesen sind, vom Unterricht ausgeschlossen werden. Das Kind unserer Freunde, die mittlerweile zurück in Deutschland sind, hat also gleich wieder schulfrei.
„So schnell kann sich alles verändern“
Inzwischen hat Italien eine Zona Rossa eingerichtet, heisst: Die Lombardei und vierzehn weitere Provinzen stehen unter Quarantäne. Per Mail werden täglich Veranstaltungen jeglicher Art abgesagt. Die Bibliothekarin unseres Dorfes sagt am frühen Abend des 9. März, dass sie lediglich darauf warte, jeden Moment schliessen zu müssen. Und in der Tat: Die Bibliothek sollte kurz darauf geschlossen werden. In einer Sonntagszeitung warb am 8. März ein Gletscherskigebiet im Vinschgau noch munter dafür, dass die nun zwangsläufig schulbefreiten Kinder und Jugendliche ihre freien Tage auf der Piste nutzen könnten. Es sollten genau zwei Tage werden. Denn am Abend des 9. März kommt die Nachricht: Ganz Italien ist unter Quarantäne. Wir leben im Sperrgebiet.
Zu Hause bleiben ist die verordnete Maxime; nur nach draussen gehen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Österreich hat die Grenze zu Italien geschlossen. Ab Donnerstag 12. März schliessen auch Bars, Restaurants, Geschäfte und Dienstleister wie Schönheitssalons oder Frisöre. Geöffnet bleiben (bis auf weiteres) Lebensmittelläden, Apotheken, Kioske, Banken, Tankstellen, Fabriken und Unternehmen. Letzte sollen ihre Mitarbeiter jedoch auffordern, von zuhause aus zu arbeiten. Wer in die Nachbargemeinde kommen will, braucht ab sofort einen Passagierschein – und einen guten Grund. Das dafür erforderliche Dokument, eine Eigenerklärung, kann im Internet heruntergeladen werden.
TouristikerInnen spüren die Auswirkungen des Virus’ schon seit Wochen: Über 90 Prozent Stornierungen von Gästen waren bereits Anfang März eingegangen.
In Mals sind die Strassen heute etwas leerer als sonst. Doch nie zuvor waren die Regale in einem der Lebensmittelläden derart ausgeräumt, insbesondere, was frisches Gemüse und Obst angeht. Das bestätigt auch der Geschäftsinhaber: Er habe das jedenfalls noch nie erlebt. Geliefert werde nur ein Drittel dessen, was er eigentlich bestellt hatte. Die Zentralen der Konzerne rationieren ihre Waren, weil sie sichergehen wollen, dass alle Geschäfte relativ gleichmässig versorgt werden, auch jene in der Peripherie. „So schnell kann sich alles verändern: von einem Tag auf den anderen“, sagt der Geschäftsinhaber aus Mals. Anfangs, gibt er zu, seien ihm die Massnahmen der Regierung drastisch vorgekommen. „Doch wenn es hilft, dann ist das schon richtig.“
TouristikerInnen spüren die Auswirkungen des Virus’ schon seit Wochen: Über 90 Prozent Stornierungen von Gästen waren bereits Anfang März eingegangen. Ausserdem bleiben nun selbst die Buchungen für den Sommer aus. Und als ob dies nicht genug wäre, sind seit Dienstag sämtliche Hotels in Südtirol geschlossen.
Die Empfehlung des Hotel- und Gastwirteverbandes Südtirol hängt an einigen Geschäften – oder wie hier an der Tür des Büros der Ferienregion Obervinschgau. BILD: Katharina Hohenstein
Ohne diesen Impuls am frühen Abend des 9. März, die letzten Minuten in der öffentlichen Ortsbibliothek auszunützen, wäre Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ nicht auf meinem Lesestapel gelandet. Dabei könnte im Moment kaum kollektiver gestorben werden als in diesen Tagen in Italien. Gemäss italienischem Gesundheitsministerium gibt es 12.462 dokumentierte Corona-Infizierte, 1.045 Personen sind inzwischen genesen und 827 gestorben (Stand 12. März 2020). Aber – und das sollte bei der ganzen Panik nicht vergessen werden – in der Stadt Codogno, also dort wo das Virus ausgebrochen ist, gibt es seit gestern erstmals keine Neuinfizierten
Zur Unterstützung der Regierungsmassnahmen haben italienische Künstler mittlerweile eine Gruppe gegründet: bereits der Name #iorestoacasa (ich bleibe zuhause) sagt alles. Auch der gleichnamige Twitteraccount (auf italienisch) dient der Solidarität und der Verantwortung allen gegenüber. Kopfschütteln gilt eher den europäischen Nachbarn. Wieso Deutschland und die EU noch diskutierten, fragt eine Journalistin in Südtirol auf Twitter: „Italien handelt schon seit Wochen – richtig.“
*Die Autorin kommt ursprünglich aus Deutschland und lebt in Südtirol.
Text: Katharina Hohenstein
Hauptbild: Der Halter dieser Schafe machte sich Sorgen, in Quarantäne zu landen, und deshalb seine Tiere nicht mehr mit Heu versorgen zu können: Schaf-Stall in Mals, Südtirol (Armin Joos)