Tagebuch 2020, Woche 19: Ausnahmezustand – Schnäuzen – Ungut

Ohne die sechsmonatige Ausgangssperre hätte der staatliche Sicherheitsapparat Ecuadors nicht so viel Selbstvertrauen tanken können: PolizistInnen in ihrer Robocop-Ausrüstung bei einer Demonstration im Zentrum von Quitos Altstadt, Juni 2020. – BILD: mutantia.ch

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16. September – Ausnahmezustand

 

Seit dieser Woche ist der Ausnahmezustand in Ecuador aufgehoben. Die Fallzahlen steigen zwar weiterhin (auch wenn ich den Angaben eigentlich schon lange nicht mehr vertraue), doch die Verantwortlichen für die staatlich verordneten Restriktionen dürften längst erreicht haben, was sie wollten. Wer eine sechsmonatige Ausgangssperre verhängt, hat längstens in den Kriegsmodus gewechselt. Nicht, dass Gewalt im Alltag vor dem Pandemie nicht auch eine zentrale Rolle in unserem Alltag gespielt hätte, aber der Machtapparat des Staates hielt sich doch relativ gesehen im Hintergrund. Dessen VertreterInnen mögen korrumpiert gewesen sein, faul und stockkonservartiv – ja. Doch während dieser Monate wurde nicht nur belegt, zu was er fähig ist und über welche Macht er verfügt. Als Inhaber des Gewaltmonopols hat er auch gezeigt zu welchen Mitteln er greifen kann und greifen wird. Die RegierungsvertreterInnen sind bereit, Polizei und Militär gegen das eigene Volk einzusetzen, wenn’s sein muss bis hin zum Tod.

Die Sicherheitskräfte, die über sechs Monate lang ein Selbstvertrauen erarbeiten konnten, das nur dank eines Ausnahmezustandes aufgebaut werden kann, werden ihre Rolle als Hüter von „Recht und Ordnung“ wahrnehmen und diese selbst dann als Priorität betrachten, wenn die eigenen Leute – viele aus derselben gesellschaftlichen Schicht – wieder auf die Strasse gehen, ihre Rechte einfordern und notfalls das Parlament stürmen, um auf ihre prekäre Situation hinzuweisen. So, wie sie dies am 8. Oktober 2019 getan hatten.

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“Wenn ihr das Virus seid, dann ist unser Kampf die Impfung”: Die StudentInnen in Ecuadors Hauptstadt machen klar, dass sie gegen die von der Regierung um Präsident Lenin Moreno verhängten Budgetkürzungen im Bildungsbereich kämpfen werden, Juni 2020. – BILD: mutantia

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17. September – Schnäuzen

 

Heute hat es endlich wieder einmal geschnäuzt im Quartier. Seit Monaten war’s ruhig unterhalb unserer Wohnung, der Nachbar scheinbar verstummt. Sonst pflegte er jeweils um 6 Uhr den Wasserhahn an der Aussenwand seines Hauses aufzudrehen, das Gesicht darunter zu halten und sich Herz und Leber aus der Nase zu schnäuzen. Zugegeben, es gibt angenehmere Weckmethoden, aber irgendwie hatte ich mich schon so daran gewöhnt, dass mir sein heutiges Schnäuzen ein Stück Alltag zurückgegeben hat. 

 

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18. September – Ungut

Wenn in einer Demokratie Rebellion darin besteht, die Gesichtsmaske im öffentlichen Raum abzunehmen, dann ist definitiv etwas nicht mehr gut.

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