Tagebuch 2020, Woche 20: Widerstand – Zeitgeschichte

“Geschlossen wegen Klima-Notstand”: Eine Gruppe von rund dreissig AktivistInnen rund um die Bewegung Extinction Rebellion Ecuador hält am 25. September diesen Jahres den Eingang des ecuadorianischen Umweltministeriums in Quito besetzt. – BILD: mutantia.ch

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23. September – Widerstand

 

Der Bundesplatz in Bern ist geräumt, nicht aber die Ideen und Überzeugungen in den Köpfen jener, die ihn besetzt hielten. Die Schweiz, dieses kleine, kriegsfreie Land im Herzen Westeuropas ist solche Aktionen nicht mehr gewohnt. Ziviler Ungehorsam und dann noch vor dem Regierungsgebäude muss für eine Wohlstandsgesellschaft ein kleiner Schock sein. Und das Ganze mitten in einer Pandemie! Einige PolitikerInnen zeigten sich überrascht, andere wirkten gar erschrocken – über die Unerschrockenheit der neuen Jungen. Denn während sich diese um ihre Zukunft sorgen, halten die HinterstüblerInnen in den Hinterzimmern an der Maxime „Recht und Ordnung“ fest. Doch was machen wir, wenn Gesetze vertreten werden, die nicht mehr zeitgemäss sind und somit ein prompteres Handeln, etwa im Umgang mit der Umwelt, verhindern? Der Druck von der Strasse ist angesichts der Situation dringend nötig. Denn für die Mehrheit der ParlamentarierInnen scheint die Eisschmelze in Arktis und Alpen immer noch zu abstrakt.

Die Reaktionen auf die Bundesplatzbesetzung aus dem bürgerlichen Lager jedenfalls sind wenig erbaulich und verkennen, worauf die BesetzerInnen friedlich hinzuweisen versuchen: nämlich dass wir mit hundertzwanzig auf eine Wand zurasen. Das bedeutet, dass vielen Menschen Unrecht widerfahren wird. Wer also an „Recht und Ordnung“ aus vergangenen Zeiten festhält, muss früher oder später mit dem Widerstand jener rechnen, die die Zeichen der aktuellen Zeit nicht mehr ignorieren können.

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27. September – Zeitgeschichte

 

Sollen wir das Bild zeigen oder nicht? Der Mann liegt in Windeln in einem Spitalbett im sechsten Stock, und ist fünf Tage nach dieser Aufnahme tot. Daneben sitzt sein jüngerer Bruder, der ihn begleitet und pflegt. Er kam aus seinem Dorf in Chimborazo in Zentralecuador ins weit entfernte Quito. Alleine. Seinem Bruder ist während des Streiks vor einem Jahr in den Hinterkopf geschossen worden. Er konnte weder Gesichtszüge noch Blase und Darm kontrollieren. Deshalb haben ihm die Krankenschwestern Windeln angezogen.

Carlos Yucailla (links) fünf Tage vor dem Tod seines Bruders Edgar im Spital Eugenio Espejo in Quito, Oktober 2019: Drei Monate nach dem Tagebuch-Eintrag im September 2020 und den Zweifeln einer Veröffentlichung, hat sich der Autor entschieden, das umstrittene Bild nun doch zu zeigen. Er hatte dazu bereits vor einem Jahr das Einverständnis von Carlos erhalten, bisher jedoch aus Pietätsgründen auf eine Publikation verzichtet. Doch am Ende sind es Bilder wie diese, die uns aufrütteln, ja vielleicht sogar verstören. Sie sind Teil unseres Lebens, Teil unseres Alltags und in diesem Falle Teil jener Gewalt, der Menschen wie Edgar zum Opfer gefallen sind. – BILD: mutantia.ch

Ich machte dieses Bild, weil ich Journalist bin und anderen Menschen die Realität zeigen möchte. Ist das naiv? Bilde ich wirklich die Realität ab? Oder ist es wieder einmal nur dieser ganz kleine Teil der Realität, der sich hier widerspiegelt? Warum zeige ich genau diese Realität und nicht eine andere? Mache ich mich damit nicht zum Hampelmann jener, die wollen, dass der Fokus auf diese Dinge des Lebens gerichtet wird?

Auch ein Jahr nach dieser Aufnahme, die wir sowohl 2019 als auch 2020 aus Pietätsgründen auf unserer spanischsprachigen Seite nicht veröffentlicht haben, frage ich mich: Was löst dieses Bild bei der Familie von Edgar Yucailla, dem 32-Jährigen, der hilflos in Windeln in einem Bett im sechsten Stock des Hospital Eugenio Espejos liegt, aus? Ob sie auch der Meinung ist, dass dieses Bild ein Stück Zeitgeschichte ist und deshalb veröffentlicht gehört?

 

Zum Nachlesen: Ecuadors Regierung versucht Gewalt zu verschleiern

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