Tagebuch 2020, Woche 22: Meinungsbildung – Freundin

Ernährungssouveränität als mögliche Antwort auf die Krise, egal ob verursacht durch Covid-19 oder den durch die Regierungen beschlossenen Massnahmen: Maisfeld oberhalb von Baños, Provinz Tungurahua, September 2020. – BILD: mutantia.ch

* * *

5. Oktober – Meinungsbildung

 

Ich muss gestehen, dass ich den Überblick etwas verloren habe. Ich lese und sehe zwar Nachrichten, aber ich bin zuweilen überfordert, all dies vernünftig interpretieren zu können. Warum, frage ich mich, werden die Infektionszahlen nach wie vor täglich gemeldet? Wozu dienen diese Zahlen: zur Meinungsbildung oder um den Menschen weiter Angst einzujagen? Würde es nicht reichen, einmal in der Woche darüber zu berichten; die neuesten Erkenntnisse zusammenfassend – und dann dafür mit mehr Tiefe? Wir scheinen geradezu süchtig nach den aktuellsten Zahlen, als ob’s eine Hitparade wäre und es nichts anderes mehr gäbe auf der Welt. Wäre schön, wenn wir aus der ganzen Geschichte schlauer rauskommen als wir in sie reingeschlittert sind.

* * *

 

7. Oktober – Freundin

 

Endlich haben wir uns wieder einmal live gesehen, Mayra und ich. Das letzte Mal war’s im Februar, in einer Teamsitzung. Sie und ich kennen uns seit Ende 2017, nachdem sie mich wegen einer Reportage zu den „Umerziehungszentren von Schwulen“ um meine Meinung gebeten hatte. Die Geschichte ist aus Zeitgründen nie erschienen, doch unsere Beziehung ist geblieben – zum Glück!

Gerade während des Landesstreiks vor einem Jahr, vor allem aber während der ersten Wochen der Pandemie, war sie äusserst wichtig für die jeweiligen Texte, die wir zusammen recherchierten, schrieben und produzierten. Um Themen, Quellen und Fokus zu definieren, sassen wir stundenlang in Online-Meetings. Horror! Mayra ist nicht nur sehr gut vernetzt und kennt sich durch ihre jahrelange Arbeit bei der Menschenrechtsorganisation Inredh ausgezeichnet in Menschenrechtsfragen aus, sie ist auch ein kritischer Geist und trotz allem immer irgendwie gut aufgelegt. Das macht die Zusammenarbeit äusserst angenehm.

Als wir uns sahen, begrüssten wir uns mit einem kurzen „Hallo“, zunächst ohne jeglichen Körperkontakt. Dann tranken wir Kaffee, führten ein Interview mit einem Mann, dessen eigenständiges Handeln die Geschichtsschreibung zum Landesstreik verändern könnte (dazu zu einem späteren Zeitpunkt mehr), und als wir uns an der Ecke des Parques Arbolito verabschiedeten, dem Epizentrum des Aufstands 2019, da umarmtem wir uns endlich wieder einmal – beide maskiert. Das Nichtwissen, wie die andere Person in Pandemie-Zeiten auf einen solchen Akt der Nächstenliebe reagieren könnte, hat dazu geführt, dass sich selbst gute Freunde und Familienmitglieder seit Monaten kaum noch berühren. Nachdem Mayra und ich aber vier Stunden zusammen verbracht und unter anderem maskenfrei zusammen gesprochen hatten, dachte ich: Und wenn, dann habe ich sie vorhin beim Gespräch ohnehin angesteckt. Es hat jedenfalls gutgetan, eine langjährige Kollegin wieder einmal berührt zu haben.

* * *