Tagebuch 2020, Woche 26: Nationalstolz – Nutte

Einen Moment durchatmen ohne Maske, sich küssen und dabei für die Digitalen Netzwerke posieren: Der Wasserfall von Peguche im gleichnamigen Ort, Provinz Imbabura, Dezember 2020. BILD: mutantia.ch

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5. November – Nationalstolz

 

Der Mann wartete an der Ampel und blickte mich überrascht an. Klar, ich war ohne Maske unterwegs, genauso wie er selber. Er lallte etwas auf Spanisch und lachte. Und ich dachte: Endlich wieder einmal ein Gesicht, das sich im öffentlichen Raum zeigt, und dann erst noch gut gelaunt! Offensichtlich war er ziemlich betrunken. Ob die gute Laune daher stammte?

Carapaz lo va hacer?, fragte er mich plötzlich, Wird es Carapaz schaffen? Erst da verstand ich, warum der Kerl so strahlte. Ich war auf dem Velo unterwegs und es ging nicht, wie ich zunächst vermutet hatte, darum, dass auch er sich an einem Gesicht ohne Maske erfreute. Es ging um die Tatsache, dass ich auf einem Fahrrad sass, und er sich an Richard Carapaz erinnerte, geboren in der ecuadorianischen Grenzstadt Tulcan und derzeit Führender der aktuellen Vuelta-Rundfahrt in Spanien. Für viele EcuadorianerInnen ist Carapaz im Moment der einzige Grund, positiv über das Land zu sprechen. Carapaz wirkt heute wie ein Leuchtturm in der Finsternis des hiesigen Alltages. Und ich bin wieder einmal überrascht, wie sich ein Sportler zum Nationalstolz einer Bevölkerung entwickeln kann.

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8. November – Nutte

 

mutantia.ch hat mich ausgelaugt. Klar, ich schreibe immer noch regelmässig, aber eigentlich bin ich müde. Obwohl mir einige FeministInnen mit diesem Vergleich möglicherweise an die Gurgel gehen würden, aber ich fühlte mich zuweilen als Nutte des schreibenden Gewerbes. Eine schlechtbezahlte Nutte, wohlverstanden. Dauernd kreativ sein geht an die Substanz. Und wöchentlich zu produzieren, zeitweise sowohl auf deutsch als auch auf spanisch, kann gar nicht gut kommen – vor allem dann nicht, wenn man es in beiden Sprachen gut machen möchte.

Ich habe die Latte wohl etwas hoch gesetzt. Monatelang bin ich drüber gesprungen, doch je öfter ich gesprungen bin, desto häufiger habe ich die Latte gestreift. Es wurde immer ungemütlicher. Ich wurde immer ungemütlicher. Irgendwann begann der Inhalt in die zweite Reihe zu treten und es ging nur noch darum, irgendwie den Wochenrhythmus aufrechterhalten zu können.

Latent vor dem Abgrund stehend verlor mein Schaffen irgendwann seinen Sinn. Es ging nur noch um die Produktion. Dann kam die Pandemie. Und bei allem negativen, was sie gebracht hat, sie hat durchaus auch gute Seiten. Zum Beispiel ist mir klar geworden, dass ich durch das Prostituieren meiner Gedanken nicht zufrieden werde. Zwei Jahre lang (von Mai 2018 bis Mai 2020) habe ich eine ausbeuterische Struktur aufrechterhalten – zumal weitgehend alleine schaffend – und wöchentliche Texte produziert. Durch die Pandemie bin ich mir dessen bewusst geworden und habe vor sechs Monaten endlich das Regime gelockert. Denn ja: Am Ende hatte es sich wie ein Regime angefühlt.
Im spanischen, wo wir ein mehrköpfiges Teams sind, hielten wir den Rhythmus hoch, sprich: wöchentliche Beiträge. Im Oktober – ein Jahr nach dem Landesstreik – publizierten wir sogar alle fünf Tage. Keine Ahnung, wie wir das hinkriegten, aber irgendwie ging‘s.

Bei unserer gestrigen Zusammenkunft haben wir nun beschlossen, auch diesen Rhythmus zu brechen, und uns auf eine Produktion pro Monat zu konzentrieren. Was das für die deutsche Version bedeutet, lässt sich im Moment nicht abschätzen. Nicht alle spanischsprachigen Texte werden wir ins Deutsche übersetzen. Aber einen kleinen Teil bestimmt. Und innerlich hoffe ich ja immer noch darauf, dass sich auch im deutschsprachigen Raum jemand für mutantia.ch interessiert und uns beim Aufbau von Facebook&Co. hilft. Und ich hoffe, dass dadurch eines Tages vielleicht sogar so viel Geld in die Kassen fliesst, um Löhne auszahlen zu können.

Zum Glück ist träumen nach wie vor kostenlos!

 

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